Kolumne

Wer, wir?

In harten Zeiten hört man das gute alte Wir an jeder Ecke. Doch keine Angst, es ist nicht so gemeint.

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Früher, liebe Damen und Herren, war überall Monarchie, heute aber ist es besser, es ist überall Demokratie, jedenfalls meistens. Aber woran erkennt man das eigentlich? Natürlich unter anderem an der Sprache, an der Art und Weise, wie Menschen reden und was sie dabei zu sagen haben.

Früher, als viel Monarchie war, gab es selbstverständlich auch schon schwierige Zeiten. Mal kam ein Reitervolk vorbei, mal fiel vom Norden der Schwede ein oder vom Südosten die Osmanen, und zwischendurch gab es Pest und Cholera, Missernten, Hungersnöte und so weiter und so fort.

Gelegentlich gab es auch schöne Anlässe, die den Fürsten dazu brachten, seinen Untertanen eine Ansprache zu halten, aber das waren deutlich weniger. Es gab also grundsätzlich immer mehr Schlechtes als Gutes zu berichten, wenn der Fürst seine Rede begann: "Wir, Herbert, König von Gottes Gnaden, sind in großer Sorge usw." Wir? Ja, natürlich. Es handelt sich dabei um den sogenannten Pluralis Majestatis, was auf Deutsch so viel heißt wie die "Mehrzahl der Hoheit". Das Wir verfolgt vordergründig die Absicht, einen, den Herbert, als viele, das Ganze also, erscheinen zu lassen. Sagt der Fürst "Wir",meint er alle, denn alles gehört ihm: das Land, die Leute und das ganze bewegliche und unbewegliche Inventar. Das Wir meint also erstens, dass eh alles dem Chef gehört, und was er sagt, ist Gesetz. Zweitens aber meint das Wir, in heiterer Dialektik, dass dort, wo es gesprochen wird, sich auch gefälligst alle mitgemeint fühlen dürfen. Das Wir ist der Superlativ der Integration, und zwar der totalen. Der Pluralis Majestatis vertritt ein Wir, bei dem die Chefs und gelegentlich Chefinnen davon ausgehen, "dass sie für ihre Untertanen beziehungsweise Untergebenen sprechen oder zu sprechen glauben", wie der Duden feststellt. "Wir, Herbert",das heißt also: ihr alle, Sie, Sie, und ganz besonders du.

In der Demokratie ist das natürlich etwas ganz anderes. Wenn die Inflation über uns herfällt oder Putin die Messer wetzt, die Wirtschaft kriselt, der Spritpreis und die Arbeitslosigkeit mit der Insolvenzquote steigen, dann kommen Präsidenten, Kanzler oder Minister (m/w/d) auf uns zu, ganz ohne Pomp und Krone und Hermelin und voller Zutrauen ins Volk, und sagen:

"Wir haben ein Problem." "Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt." "Wir müssen den Gürtel enger schnallen." Auf den ersten Blick ist klar, wo der Unterschied zwischen Monarchie und Demokratie liegt: bei der Titulatur. Es gibt keinen König mehr, keinen Kaiser, und "von Gottes Gnaden" sagt man auch nicht mehr. Was den Rest angeht, ist allerdings eine gewisse Kontinuität nicht von der Hand zu weisen. Sagt ein Regierungsmitglied, vielleicht auch ein Chef, "Wir", dann sind wieder alle anderen mitgemeint, genauer sind sogar nur sie gemeint. Das Wir gilt "den Menschen da draußen", also uns, den Steuerzahlenden und Wahlberechtigten, allen, für die der demokratisch gewählte oder anderswie ins Amt geratene Vorgesetzte spricht oder zu sprechen glaubt. Der Herbert zahlt die Rechnung nicht, egal ob er König ist oder Kanzler, dafür sind wir zuständig. Dafür gibt es doch das Wir überhaupt!

Das Wir vergesellschaftet alles. Außer, wenn es gut läuft, dann hab ICH es geschafft!

Das Wir ist immer dort, wo das Ich gerade nicht kann oder keine Lust hat. Natürlich kann kein König und kein Kanzler und kein Chef alles erledigen, wo kämen wir denn da hin? Deshalb müssen ja wir anpacken, alle gemeinsam, solidarisch, versteht sich. Das Wir sagt: Wir waren das, wo nur der Herbert Blödsinn gemacht hat. Das Wir vergesellschaftet alles. Außer, wenn es gut läuft, dann hab ICH es geschafft!

Wäre das Wir ein Tier, es wäre ein Wiesel oder ein Frettchen, jene kleinen, sehr wendigen und bissfesten Viecher, die immer ganz herzig dreinschauen, bevor sie einem an die Gurgel gehen oder, wenn man Glück hat, die Eier aus dem Nest räumen. Fällt eins runter, dann haben wir Pech gehabt. Gelingt der Raub, verspeist dasRaubtierdieBeuteganz allein. In jedem Fall aber wird sich das Wiesel oder dasFrettchenarglosstellen, um damit sein nächstes Opfer zu täuschen. Wer weiß, vielleicht flüstertes, während es ganz lieb dreinschaut, seiner ahnungslosen Beute in spe zu: "Wir sind doch Freunde!" Und zack.

Das Wir ist stark, weil die, die mitgemeint sind, sich das gefallen lassen. Sie könnten natürlich auch sagen: Nein, Freundchen, so wird das nichts. Schließlich hast du das entschieden und bist dafür auch verantwortlich. Doch das machen sie nicht. Der unselige Kollektivismus, den wir von Kindesbeinen an eingetrichtert bekommen haben, er funktioniert beim Fürst und Kanzler gleich. Selbstverantwortung? Auf keinen Fall. Murrend nimmt man den Pluralis Majestatis auch der neuen Zeiten hin. Wir werden sehen.

Nein: Wir haben ein Problem. Das Wiesel-Wir, das falsche Wir, das wird nicht reichen in Zeiten wie diesen. Das Auslagern von Selbstverantwortung, gleich wo, wird nicht mehr funktionieren. Wir? Nein, echte Menschen mit echten Adressen und echter Verantwortung.

Echte Probleme werden nicht durch nebelige Sprache vertrieben, sondern durch selbstständiges und selbstverantwortliches Handeln. Nicht wir sollen Energie sparen, sondern Sie. Nicht wir sollen nicht lügen und betrügen, falsch Zeugnis ablegen usw., sondern du. Nicht wir haben Mist gebaut. Ich war das. Und nicht wir kriegen das wieder hin, sondern ich tue mein Bestes, damit der Schaden so klein wie möglich ausfällt, vielleicht sogar wiedergutgemacht wird.

Weil: Wir sind nicht schuld. Wir waren das nicht. Die Wahrheit ist: WIR haben KEINE AHNUNG. Aber Sie, du und ich, schon.

Wolf  Lotter

Wolf Lotter

ist Autor und Journalist und schreibt einmal monatlich eine Kolumne für profil, wo er von 1993 bis 1998 Redakteur war.