Jahresausgabe

Wohin mit 2022, wie weiter nach diesem Jahr der multiplen Krisen?

Der Philosoph Johan Frederik Hartle erkundet die prekäre Hoffnung von der „Zeitenwende“ und benennt die nötigen Taten – und ja, auch Visionen – , um den Begriff in die Realität zu übersetzen.

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Die großen globalen Krisen, mit denen wir uns am Jahresende von 2022 konfrontiert sehen, waren allesamt nicht im Einzelnen und nicht in dieser zugespitzten Form absehbar. Dennoch liegen ihnen Strukturen zugrunde, Ursachen, die hätten bekannt sein können. Ist das Jahr 2022 also eine Zeitenwende? Oder sollte man lediglich von einem Kulminationspunkt von aufgestauten Krisen sprechen, die alle bereits lange geschwelt haben? Am Ende dieses Krisenjahres möchte man hoffen, dass eben diese „Zeitenwende“ Realität wird. Dafür allerdings ist noch einige Arbeit notwendig – unter anderem die Arbeit des Begriffs, wie man in der Philosophie des deutschen Idealismus formuliert hätte.

In seiner politischen Denkschrift Zum ewigen Frieden aus dem Jahre 1795 entwickelt der deutsche Aufklärer Immanuel Kant die Idee einer „kosmopolitischen Weltordnung“, die einen dauerhaften Frieden begründen soll. Um den Frieden auf Dauer einrichten zu können, müssen Beziehungen geschaffen werden, die es unabhängig von der moralischen Gesinnung einzelner, selbst für ein „Volk von Teufeln“, wie Kant schreibt, wünschenswert machen, den Frieden beizubehalten. Kant hatte gehofft, dass der „Handelsgeist“, „der sich früher oder später jedes Volkes bemächtigt“, „nicht zusammen mit dem Kriege bestehen kann“. Kants Frage nach den strukturellen Ursachen des Krieges und den Möglichkeiten des Friedens waren bahnbrechend – zumal sie an die Stelle der Dämonisierung einzelner Völker oder Regierungen einen sehr viel grundlegenderen Fragehorizont eröffnet haben.

Die Verheißungen einer auf Frieden gegründeten Ökonomie und von globalisierten politischen Grundkonsensen hat die Globalisierung allerdings nicht eingelöst. Der indischen Kulturtheoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak zufolge hat Globalisierung bisher nur auf der Ebene von Kapital- und Datenströmen stattgefunden: „Everything else is damage control.“

Die Hoffnung auf eine Friedensordnung, gestützt auf globalisierte Handelsbeziehungen, ist mit dem Jahr 2022 über dem Rücken von Millionen Ukrainer_innen und mit höchster Brutalität zusammengebrochen. Es war, so wissen wir jetzt, naiv zu glauben, dass sich die Weltordnung konkurrierender ökonomischer Machtblöcke langfristig ohne direkte militärische Eskalation aufrechterhalten lässt. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die erstarkenden BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) allesamt auf die eine oder andere Weise eine Rechnung mit dem transatlantischen Machtblock offen haben: brutale Kolonialgeschichten, kalte und heiße Kriege, Militärdiktaturen, die dem Westen temporär dienlich waren.

Kann es also besser werden? Wie steht es am Ende des Jahres 2022 um Glaube, Liebe, Hoffnung?

In der hohen Politik ist man sich inzwischen einig, dass auch die Sättigung eines kontinuierlich steigenden Energiebedarfs entlang dieser Achsen langfristig nicht konfliktfrei zu haben sein würde. Die Einsicht kommt spät: Klimapolitisch ist von einer Wende wenig zu spüren. Das immerhin sagt die Entwicklung der CO2-Emissionen in den stärksten Ökonomien, ein harter und nüchterner Gradmesser, dem lediglich die politische Rhetorik und auch die Marketingstrategien großer börsennotierter Unternehmen widerspricht. Österreich hat

erneut das Emissionsniveau erreicht, auf dem es sich vor der Covid-Pandemie befunden hat. Noch einmal: Obwohl wir uns noch in der Pandemie befinden und eine außergewöhnliche Energiekrise zu meistern ist, werden klimaschädliche Emissionen noch immer nicht spürbar gesenkt. Richtung Klimakollaps geht es mit großen Schritten voran und der Weg zur Klimahölle ist mit guten Absichten, genauer: mit Greenwashing, gepflastert. Wer angesichts dieser Tatsachen durch die Klimakonferenz in Sharm-El-Sheikh mehr Zuversicht gewonnen hat, der kann seliggesprochen werden. Hoffnung ist gut, Handeln ist besser.

Der individualpsychologische Gemeinplatz, dass jede Krise auch eine Chance sei, enthält das Wissen, dass eine solche Chance bitteschön auch zu nutzen und, noch wichtiger, dass dafür einige Arbeit notwendig ist. Die drei großen globalen Krisen ̶ die geopolitisch-militärische, die energiepolitische und die Klimakrise ̶ brechen von sich aus keine gesellschaftlichen Strukturen auf und lösen sich auch nicht von selbst. Zunächst lassen sie Arme verarmen und geben Reichen die Chance sich zu bereichern. Die vierte große Krise des Jahres 2022, die extreme Inflation, schadet denen am wenigsten, die über solides Kapital verfügen. Sie beschleunigt den Bedarf nach Quellen ökonomischen Wachstums, das wiederum neue und zugespitzte Krisen verspricht. Der Patient ist träge. Wo ist sie also, die Zeitenwende?

Psychoanalyse und kritische Gesellschaftstheorie sind sich in zwei Punkten methodisch einig: Unterhalb von manifesten Krisen verbergen sich latente Strukturen, schwelende Konflikte, die auf ein oder andere Weise mit Notwendigkeit zum Ausbruch kommen. Vor allem aber bedarf es zur Lösung von Krisen einer Auseinandersetzung mit ebensolchen verborgenen Strukturen und Konflikten, die sich im Dunkeln fortschreiben und die durch analytische Arbeit und therapeutische Praxis erst einmal ans Licht zu bringen sind. Sind wir, am Ende des Krisenjahres 2022, bereits in der Lage, diesen Konflikten ins Auge zu schauen?

Die allgemeinen politischen Entwicklungen, die entscheidenden Wahlergebnisse des Jahres 2022, lassen das nicht vermuten. Das Erstarken rechtsnationalistischer Politik in Italien, Israel, im Heimatland der Sozialdemokratie, in Schweden, und andernorts, die Konsolidierung autoritärer Politik (in Ungarn) deuten allesamt auf eine Fortschreibung von identitären Politikmustern hin, von ökonomischem Privileg, tradierten Genderrollen, Folklore, Nation und Religion und insofern auf autoritäre Symptombekämpfung unter Beibehaltung oder Leugnung von Konflikten, die nicht mehr nur schwelen, sondern inzwischen bereits lodern. Immerhin in Brasilien besteht die Chance, dass Brände mitunter auch gelöscht werden: Lula verspricht, die Abholzung des Regenwaldes erneut einzudämmen, die sein denkbar knapp besiegter Vorgänger (und Nachfolger) Bolsonaro nachdrücklich befeuert hatte, nachdem sie Lula schon einmal eingedämmt hatte.

„Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Monster.“ Diese in den letzten Jahren vielfach zitierten Sätze des italienischen politischen Philosophen Antonio Gramsci sind vor dem Hintergrund des italienischen Faschismus entstanden, dessen Erben heute die italienische Regierung stellen. Vielleicht hatte Gramsci auch Napoleon III. vor Augen, über den Karl Marx seinen wahrscheinlich besten politischen Essay geschrieben hat. Jener Bonaparte, der „ernsthafte Hanswurst“, wie Karl Marx ihn nannte, hatte mit Staatstreich und autokratischer Gewalt auf die sozialen Revolten seiner Zeit reagiert und ein clowneskes Bild von der Möglichkeit der Restaurierung in Zeiten des Zerfalls abgegeben. Der „Bonapartismus“ mobilisierte die Verunsicherungen und Ängste vor Veränderungen, Ängste all jener, die gerade genug hatten, um etwas verlieren zu können und gerade zu wenig, um

keine Angst haben zu müssen. So konnten sie sich mit allem Nachdruck an die Aufrechterhaltung alter Ordnungen klammern. Der neue Rechtnationalismus ist nun ein „identitärer Bonapartismus“ der verängstigten Mittelschichten und der „alten weißen Männer“, denen die Krisen gehörig zusetzen und die gleichermaßen und zurecht eine Welt im Zerfall beobachten.

In einem ganz anderen Sinn hat „die Zeit der Monster“ zugleich eine neue Form der Politik eröffnet, in der das Monströse den Beiklang von Befreiung hat. Der französische Philosoph Michel Foucault hat die Figur des Monströsen als Ausdruck für diejenigen rekonstruiert, deren „bloße Existenz einen Gesetzesbruch“ darstellt und deren Lebensweisen jenseits der Grenzen der sogenannten Normalität standen. Für die LGBTQ+-Community konnte der Begriff auf diese Weise eine positive Konnotation bekommen und exzessive Körperlichkeit jenseits des weißen heterosexuellen Normalkörpers selbst zur Chiffre für einen Emanzipationsprozess werden. Solche und andere identitätspolitische Kämpfe sind unvermeidlich und unumkehrbar auf die Agenda getreten: nicht-weiße, queere Lebensformen, der Anspruch von diversen und vielfältigen Identitätsmodellen, die jahrhundertelang keine legitime Sichtbarkeit hatten. Wer würde noch behaupten wollen, dass es solchen diversen Identitätspolitiken an Legitimität fehlen würde? Sie sind gekommen, um zu bleiben. Und das ist gut so.

Allerdings geht mit den diversen Identitätspolitiken auch die Gefahr einer fortschreitenden Partikularisierung einher. Die gesteigerte Sensibilität für die Erfahrungen und Bedürfnisse von Minderheiten, für je spezifische Identitätspositionen hat den Dialog an vielen Stellen erschwert und auch gegenseitige Skandalisierung und Diffamierung befördert. Das verdeutlicht die so genannte „Cancel Culture“, auch 2022 ein Schlüsselthema der Kulturredaktionen. Die Bedingungen des politischen Diskurses sind nicht einfacher geworden, weil es immer schwerer fällt, die legitimen Ansprüche auf Diversität und die ihnen zugehörigen sozialen Bewegungen ihrerseits wieder zu verknüpfen.

Demokratische Projekte, die einen neuen Zusammenhang formulieren und offen die strukturellen Ursachen der großen gesellschaftlichen Krisen konfrontieren, sind derzeit nicht in Sicht. Dabei sind noch nicht einmal alle Fragen offen: Es ist eine klima-und sozialwissenschaftliche Selbstverständlichkeit geworden, dass es für die Bewältigung der großen globalen Krisen – des Klimawandels, der Energiekrisen, der zugespitzten geopolitischen Konfliktlagen – einen sozialökonomischen Umbau wird geben müssen. Konsumverhältnisse, ökonomische Entscheidungsprozesse, die Orientierung an Wachstum, das Verständnis von Reichtum insgesamt, individuellem und gesellschaftlichem, sind problematisch geworden. Zahlreiche Lösungen liegen auf dem Tisch – und zwar eher dort, als dass sie in den Parlamenten oder auf der Straße artikuliert würden.

Die sozialen Proteste sind mühsam und überschaubar. Auch sie bringen die Angst zum Ausdruck, in einer auseinanderfallenden Welt keinen Halt mehr zu haben. Die Tatsache, dass die Aktivist_innen der letzten Generation mit Klebstoff den Planeten retten wollen, hat insofern ihre eigene metaphorische Kraft. Man klebt sich an den Planeten fest und möchte vielleicht seine Risse kitten. Die Kreativität der sozialen Proteste ist ebenso entwicklungsfähig wie ihre Wirksamkeit. L’imagination au pouvoir – die Fantasie an die Macht, hatte man im Pariser Mai 68 skandiert.

Aus Trümmern zur Schönheit

Im japanischen Kintsugi wird Keramik kunstvoll repariert und die Bruchlinie zum Schmuck erhöht.

Dem deutschen Altbundeskanzler Helmut Schmidt wird der Satz zugeschrieben, dass, wer Visionen habe, doch bitte zum Arzt gehen möge. Für ein Politikverständnis, das Demokratie als Wettstreit von widerstreitenden Modellen zur Einrichtung der Welt begreift, ist ein solch anti-visionärer Ultrapragmatismus ein harter Affront. Zweifellos wird der Lauf der Welt nicht im Speakers’ Corner entschieden. Aber ohne einige Einsichten, Schlaglichter, Perspektiven geht es auch nicht weiter. Warum also nicht: Das Jahresende ist auch die Zeit der konfessionellen Lichterfeste für die judeochristliche Tradition.

Kann es also besser werden? Wie steht es am Ende des Jahres 2022 um Glaube, Liebe, Hoffnung? Vor exakt 30 Jahren veröffentlichte der amerikanische Politikberater Francis Fukuyama seinen Bestseller „Das Ende der Geschichte“. Trotz seines dystopisch klingenden Titels fasste das Buch einige Thesen und vor allem einen liberalen politischen Optimismus zusammen, der andernorts als Ende der großen Erzählungen, als Ende der Ideologien etc. formuliert wurde. Seine Thesen stellten, nach dem Niedergang des Realsozialismus und dem Ende der Systemkonkurrenz, auch eine große Entlastung dar, weil große Politik, heroische Taten plötzlich nicht mehr plausibel und notwendig schienen. Dreißig Jahre lang hat man diese Thesen so oft gehört, dass man sie fast glauben mochte.

Doch was war das eigentlich, das Ende der Geschichte? Dem Veterinärmediziner Dr. Hugo Z. Hackenbush, gespielt von Groucho Marx, kommt in der unübertroffenen Slapstick-Komödie Ein Tag auf der Rennbahn (1937) die schwierige Aufgabe zu, ein Sanatorium zu leiten. Überfordert von der Herausforderung, einem menschlichen Patienten den Puls zu messen, formuliert er die Ausrede: „Entweder der Patient ist tot, oder meine Uhr ist stehengeblieben.“ Entweder wir haben aufgegeben zu handeln, oder verlernt, das Zusammenspiel aus Kontinuität und Veränderung zu denken. Diese zwei Lesarten des Endes der Geschichte sind beide falsch. Ganz offensichtlich fehlte es Dr. Hackenbush an diagnostischer Kompetenz: Die Uhren sind nicht stehengeblieben, aber der Patient ist auch noch nicht tot. Die großen Krisen des Jahres 2022 führen uns wieder an die Herausforderungen großer Geschichte heran und wo Krisen sind, sind auch Chancen. Krempeln wir die Ärmel hoch.

Johan Frederik Hartle, 46

Der Philosoph und Kulturwissenschafter leitet seit Oktober 2019 als Rektor die Wiener Akademie der Bildenden Künste. Zudem ist er außerordentlicher Professor für Ästhetik an der China Academy of Art in Hangzhou und assoziiertes Mitglied am Institute for the Humanities der Simon Fraser University, Vancouver, Kanada.