Kolumne

Trinkgeld verboten

Hat der zunehmende Fachkräftemangel nicht nur mit der demografischen Entwicklung zu tun, sondern auch mit mangelndem Anstand?

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Kürzlich war ich beim Bäcker – bei dem, zu dem ich meistens gehe, weil er so praktisch liegt für mich. Dort kaufe ich seit Jahren ein, ich kenne die meist weiblichen Verkäuferinnen gut, gelegentlich hält man ein kleines Schwätzchen, das aber nie lange dauert, denn es ist immer viel los – wenig Personal, viele Kunden, das kennen wir ja, Fachkräftemangel überall. Im Verkauf und im Service, wo nicht gerade Luxuslöhne bezahlt werden, umso mehr. Ich runde meistens auf. Wenn ich zehn Brötchen kaufe, und es macht 5,80, dann sind es halt sechs Euro, und ob ich 14,20 oder 15,00 Euro für den Wochenendeinkauf bezahle, ist, unter uns, ziemlich egal. Für die Menschen hinter der Theke nicht. Ich weiß das, weil ich selbst vor vielen Jahren auch einige Jahre lang hinter einer solchen Theke stand. Abends, wenn man Kasse macht, ist man den Leuten dankbar, die einem tagsüber ein paar Cent zur Aufrundung überlassen haben. Denn natürlich passiert es immer wieder, dass eine Kundin im stressigen Verkaufsgeschäft mehr Rückgeld kriegt als sie sollte und die das auch nicht merkt – und es gibt natürlich auch solche, die das gar nicht merken wollen (schämt euch!). Doch selbst wenn die Kasse stimmt, ist es gut, wenn am Abend ein paar Euro übrig bleiben. Reich ist davon noch niemand geworden, und die Republik bricht auch nicht zusammen, wenn dieses Geld 1:1 in die Spardose für die Kinder oder die Enkel geht oder vielleicht mal für ein kleines Extra, das die knappen Budgets ansonsten nicht hergeben. Dass die meisten Menschen so leben, ist vielen anderen Menschen gar nicht klar.

„Was macht das?“

„5,30 bitte.“

„Ja, danke, machen Sie bitte sechs.“

„Danke Ihnen sehr. Aber wir dürfen leider kein Trinkgeld mehr annehmen.“

„Wie bitte?“

„Die Geschäftsleitung hat es verboten.“

„Warum denn das?!“

„Das hat man uns nicht gesagt.“

Ja, da haben wir es, rufen jetzt einige, dieses üble Ausbeutergesindel! Und vor ihrem geistigen Auge gehen ein dicker alter Kaufmann auf und seine runzelige böse Frau, die ihre angsterfüllten Angestellten anherrscht: „Trinkgeld ist verboten!“

Nun kenne ich die Geschäftsleitung zufällig. Vor einigen Jahren bin ich diesen Leuten in einem sehr noblen Hotel begegnet, man nennt so etwas, glaube ich, heute routinemäßig „Alpin Resort“. Ich als Vortragender, die im Publikum, und wir stellten im Small Talk fest, dass wir ungefähr in der gleichen Ecke wohnen und ich zufällig in ihrem Laden einkaufe. Es waren zwei junge, hippe, ganz locker-flockige Leute, Betriebswirtschaftslehre, Jura, die gleich mal ungefragt zum Du übergingen, wahrscheinlich wegen der Augenhöhe, was immer das bedeuten soll. In den vielleicht drei, vier Minuten Small Talk, an dem noch andere teilnahmen, sprudelten die Transformationsvokabeln nur so aus dem Mund, VUKA und Agilität und Purpose und Ambidextrie und Ermächtigung und weiß der Geier. Plus der Klage, wie schwer man heute an „Personal“ käme, woran ich mich gut erinnere, weil diese Gutsherrensprache irgendwie so gar nicht an das Achtsamkeitsgerede von vorher anschloss.

Diese Leute haben ihrem „Personal“ verboten, Trinkgeld anzunehmen. Das tun heute viele, die nicht wissen, wie es ist, wenn man hinterm Tresen verkauft, und deren Spesen mit einem Monatslohn ihres „Personals“ nicht gedeckt wären. Viele davon sind mit dem berühmten goldenen Löffel im Mund auf die Welt gekommen, und sie haben die Welt gesehen, sind viel gereist, haben auf guten Unis studiert und ein Sabbatical gemacht. Und jetzt müssen sie ran, Trinkgeldverbote aussprechen. Das ist nur ein Beispiel. Mir fällt auf, wie viele der Leute, die sich für ungeheuer dynamisch, innovativ, transformativ halten, nichts von alldem sind, sondern bloß Maulhelden, die, wenn es darauf ankommt – wie hinterm Tresen –, eine ganz erbärmliche Figur abgeben. „Die spielen Unternehmer“, hat mir eine erfahrene Trainerin vor Kurzem über solche Leute gesagt, „weil sie alles nur spielen. Die Realität ist ihnen völlig fremd.“

Transformation heißt nicht, möglichst viele Bullshitbegriffe in möglichst kurzer Zeit aufplappern zu können, und auch nicht, das Falsche noch schneller und effizienter zu tun als bisher. Transformation hat, wie Innovation, etwas mit Verbesserung zu tun, mit mehr Qualität, auch für die Leute, die arbeiten, vor allen Dingen für die. Da geht es um Geld, um Vertrauen und um mehr Selbstbestimmung bei einer guten Arbeit, die nicht krank macht und frustriert, weil die Gutsherrenkinder nicht wissen, wie man mit Menschen umgeht.

Alles andere könnt ihr euch gepflegt in euren Purpose stecken.

Wolf  Lotter

Wolf Lotter

ist Autor und Journalist und schreibt einmal monatlich eine Kolumne für profil, wo er von 1993 bis 1998 Redakteur war.