Morgenpost

Bullisch oder nicht bullisch, ist das hier die Frage?

Nehmen wir bitte zur Kenntnis, dass wir (so gut wie) nichts wissen. Kleines Plädoyer gegen Fachidiotie und Geistesspezialisierung.

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Ich muss an dieser Stelle leider schon wieder etwas gestehen, lesen Sie bitte nicht weiter, falls Ihnen das zu intim wird; für größeres Desinteresse an den Bekenntnissen Newsletter-abfassender Journalisten hege ich vollstes Verständnis, man hat ja wahrlich anderes zu tun, als sich auch noch von deren Befindlichkeiten (und Überempfindlichkeiten) behelligen zu lassen.

Aber da Sie sich offenbar nicht abschrecken lassen, hier meine kleine Selbstenthüllung: Unlängst wurde mir nämlich schmerzlich klar, dass ich zum Beispiel in finanzmarktwirtschaftlichen Belangen keine Ahnung habe. Also wirklich: keinen blassen Schimmer. Und wenn ich da „zum Beispiel“ hinschreibe, hat das bedauerlicherweise tieferen Sinn: Denn ich verstehe, je mehr ich drüber nachdenke, von erstaunlich vielen Dingen nichts. Ich sage nur: Molekulargastronomie, Computerlinguistik, Unterwasserhockey. Mein Wissensstand in nicht nur den genannten Disziplinen: äußerst dürftig. Als Experten für Neuropathologie oder Limousinen-Sounddesign wird mich in diesem Leben niemand mehr vorstellen können. Das ist vermutlich sogar eine gute Nachricht. Oder wie man in der Antike so treffend feststellte: Ich weiß, dass ich nichts weiß.

Klar, wir leben im Zeitalter der Spezialisierung und scheinen uns mit dem Umstand, immer mehr von immer weniger zu ahnen, ganz gut arrangiert zu haben, wenn Sie wissen, was ich meine. Aber als ich letzthin auf der mir gänzlich unbekannten Trader-Seite IG („Ihr Online Broker für Turbos, Barriers und Vanillas oder CFDs“) über eine zufällig online gefundene Passage zur Verfasstheit des Goldpreises gestolpert war, vermochte mich die außerirdisch anmutende Sprache jenes Textes doch in ihren Bann zu ziehen. Was gab es da zu lesen? „Steht man auf der Verkäuferseite (Put) und meint, dass der Goldpreis in Zukunft fällt, könnten Turbozertifikate von IG mit einer Knock-out-Level oberhalb der gegenwärtigen charttechnischen Widerstandszone bei 2.000 Dollar interessant werden. Bullisch eingestellte Trader (Call) hingegen könnten in umgekehrter Weise Knock-out-Level unterhalb von 1.600 Dollar im Blick behalten.“ Und weiter: „Möchten Sie selbst den Goldpreis handeln? Entscheiden Sie sich, ob Sie sich long oder short positionieren möchten und eröffnen Sie Ihr eigenes CFD-Handelskonto.“

Wie bitte? Trader, öffnet euch der Welt! Es gibt so viele andere schöne Dinge, die man im Blick behalten könnte! In sanfter Abänderung eines berühmten Diktums des Komponisten Hanns Eisler, der sich seinerseits am Zitatenschatzkästchen des Aphorismusmeisters Georg Christoph Lichtenberg bedient haben dürfte, sei hiermit mahnend formuliert: Wer nur etwas von Knock-out-Levels versteht, weiß auch davon nichts.

Bitte sehen Sie von Zuschriften zur näheren Erläuterung der zitierten Passage ab. Meine bullische Einstellung ist dafür eindeutig zu wenig ausgeprägt. Oder vielleicht habe ich mich auch einfach zu lange unterhalb der charttechnischen Widerstandszone aufgehalten. Wie auch immer. Danke für Ihr Interesse.

Einen günstigenfalls long positionierten Dienstag wünscht Ihnen 

Stefan Grissemann 

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.