Morgenpost

Diagonale 2024: In Diversform

Von jungen Revolutionärinnen und ängstlichen Verkehrsteilnehmerinnen: Was die heute zu Ende gehende Diagonale über Österreich zu erzählen hatte.

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Form ist politisch: So begründete die Experimentalfilmjury der diesjährigen Diagonale ihre Entscheidung, als beste innovative Arbeit Simona Obholzers „DIN 18035“ auszuzeichnen. Ein Fußballfeld entsteht, und in die Landschaft wird nach Strich, Faden, Norm und Gesetz eingegriffen. Wie die Menschheit das eben tut, überall und jederzeit: Natur wird passend gemacht, bezwungen und ökonomisiert. Die dramatischen Konsequenzen sind als bekannt vorauszusetzen.  
Bereits gestern Abend, am Ende des vorletzten Spieltags, fand die Preisgala des Grazer Festivals des österreichischen Films statt. Die Entscheidungen der international besetzten Gremien fielen unkonventionell aus, waren ein deutliches Statement für junges, weibliches, diverses Kino. Und sie fielen – weil der Blick über die engen Grenzen der Alpenrepublik entscheidend ist – auch transnational aus.

Denn der große Preis der Diagonale im Bereich Spielfilm, wie die Dokumentarfilmauszeichnung dotiert mit stolzen 20.000 Euro, ging an den Film einer jungen deutschen Regisseurin, an Martha Mechows übermütige, in Österreich koproduzierte Road-Comedy „Die ängstliche Verkehrsteilnehmerin“. Die Berlinerin Mechow, 28, sozialisiert an der Berliner Volksbühne unter René Pollesch, nimmt darin mit feministischer Verve die soziale Verknöcherung ins Visier, spielt in originellen Dialogkaskaden und Lust am Impro-Theater eine kleine Revolution des Kinos durch. 

Junge Wilde

Die jungen Wilden waren diesmal unübersehbar: Um die Filmemacherin und Performerin Elena Wolff etwa („Para:dies“, 2022) hat sich ein Team geschart, dem auch der aus Josef Haders „Andrea lässt sich scheiden" und Christian Petzolds „Roter Himmel" bekannte Schauspieler Thomas Schubert angehört. In ihrem Film „Asche“, ausgezeichnet für die beste Kamera (Nora Einwaller), überhöht Wolff die Linzer Kunstszene genüsslich zur Freak- und Konzeptmördershow. Auch wenn der Film ein paar Rhythmusprobleme aufweist und das Karikaturistische da und dort übertreibt: Der ambivalente Erotizismus und der Punk-Gestus dieser Inszenierung verblüffte und erfreute zugleich.

Als stärkster Dokumentarfilm ging jedoch eine visuell äußerst avanciert gestaltete Untersuchung weiblicher Traumata über die Ziellinie: „Anqa“, inszeniert von der kurdischen, in Wien lebenden Künstlerin Helin Çelik, geschnitten von ihrer aus Syrien stammenden Kollegin Sara Fattahi, setzt assoziative Innenraumbilder gegen die Gewalterfahrung, von denen hier drei Frauen aus dem Nahen Osten berichten. 

Ansage an den Bildungsminister

Programmatisch war das Festival am Donnerstag vergangener Woche mit Ruth Beckermanns „Favoriten“ eröffnet worden, der ebenso klugen wie beglückenden dokumentarischen Studie einer Volksschulklasse an einer sogenannten Brennpunktschule im zehnten Wiener Gemeindebezirk. Über fast drei Jahre hinweg beobachtete die Filmemacherin die Ereignisse an der Wiener Schule, in einer Klasse mit 25 Kindern, von denen keines Deutsch als Muttersprache erlernt hatte. Und Beckermann denkt, gemeinsam mit ihrem Schnittmeister und Dramaturgen Dieter Pichler, alle entscheidenden Ebenen mit: Neben den Kindern und ihrer großartigen Lehrerin werden auch die Eltern der Kinder und die Infrastruktur der Schule beleuchtet, die kulturellen Prägungen der Kinder, Mobbing und Klassenmachtverhältnisse detailliert. 
Mit präzisem Blick erfasst „Favoriten“ Arbeitsbedingungen und Weltsichten, erweitert so eine Reihe von Schulalltagsbeobachtungen zu einem akuten politischen Thema: Um die Bildungsmisere in Österreich geht es hier, so sehr empathische Idealistinnen wie die im Film sehr präsente Lehrerin Ilkay Idiskut punktuell auch gegensteuern, um den schmerzhaften Mangel an Lehrkräften, um einen Schulbetrieb, der von der Politik weitgehend im Stich gelassen wird. „Favoriten“ ist eine glasklare Ansage in Richtung des österreichischen Bildungsministers.

Die beiden Schauspielpreise gingen an Birgit Minichmayr, die in „Mit einem Tiger schlafen“ die Malerin Maria Lassnig darstellt (siehe dazu auch das große profil-Interview in der aktuellen Ausgabe), und an den Musiker Voodoo Jürgens; er wurde für seine Leistung in dem Wiener Tristessical „Rickerl“ geehrt. Der Wiener Lukas Miko hat den Großen Diagonale-Schauspielpreis 2024 für sein bisheriges Schaffen bereits im Rahmen der Eröffnung am vergangenen Donnerstag erhalten. 

So stellte die Diagonale, die heuer unter neuer Intendanz, geleitet von Claudia Slanar und Dominik Kamalzadeh, erfrischt über die Bühne ging, eher auf österreichische Tugenden wie Sturheit und Ungebärdigkeit scharf als auf die – nur zu gut bekannten – nationalcharakterlichen Schwächen. Österreichs Bewegtbildkunst hat utopisches, auch grenzüberschreitendes Potenzial; sie träumt von einer Welt, in der Euphorie über die Schönheit der erste Schritt zu einem neuen Denken sein kann. Form ist politisch.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.