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Morgenpost

Die nächste Flüchtlingswelle kommt bestimmt

Politiker verschleppen gerne drängende globale Entwicklungen. Warum wir besser brillanten Wissenschaftsautoren zuhören sollten.

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Gleich zu Beginn eröffnet Gaia Vince ihrer Leserschaft zwei Möglichkeiten: Entweder werden Sie, liebe Leserinnen und Leser, mit Flüchtlingen konfrontiert sein. Oder aber Sie werden selber auf der Flucht sein. Eine dritte Option existiere nicht, erklärt die preisgekrönte britische Wissenschaftsautorin. Vince hat ein hervorragendes, ebenso spannendes wie aufschlussreiches Sachbuch vorgelegt. Es heißt „Das nomadische Jahrhundert“ und fasst zusammen, was Forschende seit vielen Jahren berichten und auch profil mehrfach thematisiert hat: Die Umwälzungen durch den Klimawandel werden dazu führen, dass Hunderte Millionen Menschen ihre bisherige Heimat verlassen müssen: weil weite Landstriche unter Wasser stehen oder aber Trockenheit und Hitze Ausmaße erreichen, dass Menschen in diesen Gegenden schlicht nicht mehr leben können.

Die Folge werden Fluchtbewegungen in einer Dimension sein, die jegliche bisherige Migration vernachlässigbar erscheinen lassen. Nun wenden manche Skeptiker ein, dass es vielleicht nicht so schlimm kommen werde, weil Menschen grundsätzlich die Tendenz haben, in ihrer Heimat zu bleiben und dort mit veränderten Umständen zurecht zu kommen. Das ist gewiss richtig. Wenn aber eine Großsadt unter Wasser steht oder im Wortsinn tödliche Hitze herrscht, bleibt keine Wahl. Einen ersten Hinweis auf künftige Notwendigkeiten erhielten wir erst vor wenigen Wochen: Da stimmte Australien zu, nach und nach die Bewohner des in absehbarer Zeit überfluteten Inselstaats Tuvalu aufzunehmen. Ähnliche Bestrebungen gibt es in den USA. Das ist natürlich erst der Anfang.

Aktuelle Wissenschaftsbücher

Exzellente Autoren greifen drängende Probleme auf und beschreiben sie anschaulich. Im Moment stellt sich die Frage, wie wir die Weichen stellen müssen, um unseren Planeten in Zukunft bewohnen zu können. Und ist der Mensch ein geborener Zerstörer?

Diese Zusammenhänge sind im Grunde längst bekannt, die Entwicklungen zeichnen sich deutlich ab. Was aber wie so oft fehlt, sind rechtzeitig erarbeitete Strategien, mit diesen absehbaren globalen Umwälzungen zurecht zu kommen. Und das führt uns direkt zu Laura Sachslehner.

Kürzlich saß die ÖVP-Politikerin in der TV-Diskussionsrunde „Im Zentrum“ und tätigte zwei bemerkenswerte Äußerungen. Erstens sagte sie, ihre Partei „kommittiere“ sich nicht zur Drei-Grad-Prognose. Das bedeutet: Sachslehner bezweifelt den wissenschaftlichen Konsens, wonach die Welt auf eine gloabele Erwärmung um drei Grad zusteuert, was weite Gegenden unbewohnbar machen würde. Zweitens meinte sie, es gebe keine demokratischen Mehrheiten für entschlossenere Maßnahmen gegen den Klimawandel.

Man kann über Fakten nicht abstimmen

Letztere Aussage zeugt von einem grundlegenden Missverständnis darüber, worüber demokratisch entschieden werden kann. Man kann nicht darüber abstimmen, ob Klimawandel stattfindet oder nicht. Fakten sind nicht dadurch beeinflussbar, ob eine Mehrheit ihnen beipflichtet oder sie ablehnt. Aufgabe der Politik wäre es vielmehr, sich selbst umfassendes Faktenwissen anzueignen und dieses den Wählerinnen und Wählern verständlich auseinanderzusetzen, damit diese dann informierte und vernünftige demokratische Entscheidungen treffen können.

Tatsächlich jedoch argumentieren besonders konservative und rechtskonservative Politikerinnen und Politiker oft ähnlich wie Sachslehner. Zugleich sprechen sie sich häufig für eine restriktive Migrationspolitik aus, ganz besonders in Wahl- und Vorwahlzeiten – und wollen offenbar nicht zur Kenntnis nehmen, dass beides nicht zusammengehen kann. Ergreift die Welt nicht schleunigst wirksame Maßnahmen gegen die Auswirkungen klimatischer Veränderungen, werden sich Flüchtlingsströme in Bewegung setzen, die man sich noch gar nicht vorstellen kann. Und die Menschen werden in Regionen streben, die ihnen dann noch attraktiv und lebenswert erscheinen: nach Mittel- und Nordeuropa. Umsichtige Politik bestünde darin, diese Entwicklungen zu beobachten, zu akzeptieren und möglichst rasch und angemessen darauf zu reagieren.

Komplexe Materie, anregende Lektüre

Gaia Vince zeigt mögliche Lösungen auf. Sie hat ein konstruktives Buch geschrieben, das die Problemfelder anspricht, zugleich aber Auswege aus dem drohenden Dilemma skizziert. Es sei hier als wichtiger Lesestoff empfohlen, wie auch allgemein viele wissenschaftliche Sachbücher, die sehr oft zwei Vorzüge vereinen: die in die Tiefe gehende Aufbereitung komplexer Zusammenhänge und dennoch kurzweilige Lektüre. Noch ein aktuelles Beispiel sei hier angeführt, das sich mit demselben Themenkomplex befasst: „Homo Destructor“ vom deutschen Geografen Werner Bätzing, das sich mit der Frage auseinandersetzt, inwiefern der Mensch einen inneren Impuls besitzt, auf Dauer seine Umwelt bis zur Zerstörung auszubeuten.

In dem Sinne  ein erkenntnisreiches Lesevergnügen trotz schwerer Kost

Alwin Schönberger

Alwin   Schönberger

Alwin Schönberger

Ressortleitung Wissenschaft