Morgenpost

Eklat bei den Wiener Festwochen: Doppelrequiem als Weißwaschung?

So einfach geht Völkerverständigung leider nicht: Die Wiener Festwochen unter dem neuen Intendanten Milo Rau erleben ihren ersten Eklat – und verstricken sich in Widersprüche.

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Sollten Sie erwägen, sich schon jetzt Konzertkarten für die am 12. Mai startenden Wiener Festwochen zu sichern: Lassen Sie es vorläufig noch bleiben. Denn zwei der fünf vorab verlautbarten Festivalprogrammpunkte, für die es online Karten zu kaufen gibt, stehen derzeit an der Kippe; ob sie beide stattfinden werden, ist mehr als fraglich. Die ukrainische Dirigentin Oksana Lyniv hat jedenfalls bereits in Aussicht gestellt, nicht – wie eigentlich geplant – mit dem Kiewer Symphonieorchester am 2. Juni im Konzerthaus aufzutreten.
Sie hat deutliche Worte gefunden, nachdem sie der deutsche Musik-Blogger Axel Brüggemann darüber informiert hat, dass sie in Wien praktisch im Doppelpack mit dem griechisch-russischen Dirigenten Teodor Currentzis gebucht wurde, der sich bekanntlich bis heute aus taktischen Erwägungen nicht von Putins Angriffskrieg distanziert hat – möglicherweise auch nur, um das von ihm gegründete, in St. Petersburg ansässige Ensemble MusicAeterna vor Zugriffen der russischen Behörden zu schützen.

Brüggemann, der für seine erbitterten Anti-Currentzis-Kampagnen branchenbekannt ist, zitiert Lyniv in einem auf dem Online-Portal „Crescendo“ erschienenen Artikel so: Die Dirigentin wolle sich von den Festwochen „nicht instrumentalisieren“ lassen; sie stehe daher nicht zur Verfügung, „in einem Kontext mit Currentzis“ aufzutreten und „Whitewashing“ für diesen zu betreiben. Sie könne solches gegen­über den fast 150 Musi­ke­rinnen und Musi­kern, „die aus dem Krieg in der Ukraine nach Wien reisen“ sollten, „nicht verant­worten“. Es sei mit den Fest­wo­chen „nicht abge­spro­chen“ gewesen, dass die Konzerte mitein­ander in Verbin­dung stehen. Sie hoffe nun, in den kommenden Wochen eine gemein­same Lösung mit der Festivalleitung zu finden.

Kommunikationsprobleme

Tatsächlich bieten die Festwochen die geplanten Veranstaltungen mit Lyniv und Currentzis, der mit dem SWR Symphonieorchester, dem er seit 2018 vorsteht, zehn Tage nach seiner Kollegin auftreten soll, in einem gemeinsamen Abo, für 135 Euro an. Die Idee klingt simpel und an sich keineswegs verwerflich: Eine Ukrainerin soll das an ein historisches Nazi-Massaker an 33.000 Jüdinnen und Juden erinnernde „Kaddish-Requiem Babyn Jar“ von Jevhen Stankovych aufführen, ein Russe Benjamin Brittens antifaschistisch-pazifistisches „War Requiem“ aufführen. Klingende Völkerverständigung, gewissermaßen – mit der problematischen Einschränkung, diese Idee im Vorfeld offenbar nicht ausreichend kommuniziert zu haben.
Der Schweizer Regisseur und Autor Milo Rau, 47, der als Intendant nun vor seinem Festwochen-Debüt steht, erlebt also gerade seinen ersten Eklat. Seine Idee, vermutlich gut gemeint, ist nach hinten losgegangen; der Plan, sich für Verständigung und Versöhnung einzusetzen, ist durchkreuzt. Rau, der als Regisseur viel Erfahrung mit politischem Gegenwind hat, „begrüßt“ einstweilen die Debatte, die seine beiden musikalischen Großproduktionen, die sich mit Krieg und Völkermord befassen, ausgelöst haben. Die Flucht nach vorn ist derzeit aber auch seine einzige Option.

Auf profil-Anfrage meldet die Pressestelle der Wiener Festwochen nur, dass man sich, „ausgehend von den medialen Anfragen an Frau Lyniv“ erneut in inhaltlicher Abstimmung mit allen Beteiligten und Partner:innen der beiden Konzertveranstaltungen befinde. „Ein finales gemeinsames Vorgehen“ habe sich bislang nicht „konkretisiert“. Es sei auch „gegenwärtig nicht abzusehen", ob einer der beiden Pult-Stars vom Festwochenauftritt entbunden werden müsse.

Debattenraum gesperrt

Milo Rau räumt Kommunikationsmängel allerdings ein, wie er profil ausrichten lässt:
Die Tatsache, dass „War Requiem“ unter dem Dirigat von Teodor Currentzis im Programm sei, habe man „im Vorfeld ausführlich gemeinsam mit allen Wiener Partnern diskutiert“ – nur mit einer nicht: mit Oksana Lyniv habe man dies „leider erst wenige Wochen vor Beginn des Vorverkaufs, durch Vermittlung ihrer Agentur“ getan. Dabei sei Lynivs Wunsch deutlich geworden, dass die beiden Projekte nicht als „Zusammenarbeit“ oder „Doppel-Requiem“ beworben werden, „sondern als zwei wichtige künstlerische Positionen in einem weiten Feld verschiedener Projekte und Handschriften“. 
Dann aber gingen die beiden Requiems frühzeitig und gemeinsam in den Verkauf: Dies und die medialen Reaktionen darauf hätten „leider den Eindruck einer inhaltlichen Zusammenarbeit erweckt“. Das bedaure man sehr. Lynivs „verständlicher Richtigstellung schließen wir uns deshalb vollständig an.“ Wieso die beiden Konzerte dann aber immer noch gemeinsam vermarktet und verkauft werden, erklären die Festwochen nicht.
Nur so viel: Das Kaddish-Requiem stelle „eine zentrale Position im Programm der Festwochen 2024 dar“, an der man „natürlich“ festhalte. Momentan arbeite man „gemeinsam mit allen Partnern intensiv an der Durchführung, vor allem auch im engen Austausch mit Oksana Lyniv und ihrer Agentur“. 
Die historischen Inhalte der beiden Trauerstücke wie auch der derzeitige Kontext des Krieges, so ist auf der Festwochen-Homepage noch zu lesen, „stehen klar im Mittelpunkt: das Gedenken an und die Aktualität von Krieg und Massenmord. Und die Möglichkeit (oder auch Unmöglichkeit) von Kunst, einen dritten Raum der Debatte zu schaffen.“
Gegenwärtig sieht es leider eher nach Unmöglichkeit aus.

Einen friedfertigen Dienstag wünscht Ihnen die Redaktion des profil.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.