profil-Morgenpost

Dunkel ist’s im Netz!

Unsere tägliche Screen-Time gib uns heute: Beherrschen wir die sozialen Medien eigentlich noch?

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Wenn auch ihr Tag mit dem Fingerabdrucksensor auf dem Smartphone und diesem fast schon unbewusst ausgeführten Antippen der installierten Lieblings-Apps beginnt, wissen Sie ja, wie sich digitale Routinen bilden und Social-Media-Suchtverhalten entsteht. Es ist so einfach: Ein paar flüchtige Handbewegungen – und schon ist man mit jener labyrinthischen Welt verbunden, in der scheinbar alles möglich ist, in der man sich bestens selbst darstellen, starke Meinungen kundtun und wesentliche Informationen austauschen kann. Anders formuliert: Man taucht in eine Zone ab, in der jede und jeder Hass formulieren, Lügen in die Welt setzen und Menschen erniedrigen oder bedrohen kann. 

Die Frage, was die interaktive elektronische Welt mit unseren Psychen anrichtet, während wir unsere tägliche Bildschirmzeit stufenlos steigern, ist Gegenstand laufender Untersuchungen. Nun ist es inzwischen weitgehend egal, ob man die digitalen Netzwerke mit ihrer Illusion lückenloser Verbindung und Vernetzung schon verachtet oder noch liebt – oder einfach hinnimmt: Man kommt an ihnen so oder so nicht mehr vorbei. Ein Phänomen aber, das unser Leben derart prägt, muss naturgemäß weiterhin beforscht werden.

Die „New York Times“ publizierte unlängst eine Reportage, die einen alarmierenden Titel trägt: „A Teen’s Journey Into the Internet’s Darkness and Back Again“. Tatsächlich blühen Angstzustände, Selbstverletzung und Depression unter Teenagern wie nie zuvor; es liegt nahe zu vermuten, dass das Netz in vielen Fällen maßgeblichen Anteil daran hat. Was Alkohol und Drogen noch vor 20 Jahren waren, erledigt in der Jugendkultur inzwischen das Internet. Sucht, Eskapismus und Selbstverlust haben sich gleichsam entmaterialisiert. Bedrohen die sozialen Medien also unsere psychische Gesundheit? Die „New York Times“ zitiert dazu Byron Reeves, Professor für Kommunikation an der Universität Stanford: Das Internet sei „ein Verstärker und Beschleuniger“. Virtuelle Interaktion intensiviert die Gefühlszustände derer, die da kommunizieren – im Positiven wie im Negativen. Insbesondere Pubertierende sind den dichten Einschlägen der sozialen (Des-)Information, dem digitalen Mobbing und den Gefühlen des Nichtgenügens praktisch schutzlos ausgeliefert. Das hat neurologische Gründe, wird aber dramatisch vorangetrieben durch Vereinzelung, körperliche Passivität und fehlende physische Kontakte.

Zentrifugen der Information

Es nützt indes, wie gesagt, nicht viel, in digitalen Pessimismus zu verfallen. Eine Welt ohne Social Media ist nicht mehr vorstellbar, höchste Zeit also, sich damit sinnvoll (und schadensbegrenzend) zu arrangieren. Die junge Wiener Filmemacherin Kurdwin Ayub beispielsweise, deren künstlerische Arbeiten sich seit Jahren auch um den Umgang mit sozialen Medien drehen, überlässt es ihrem Publikum zu entscheiden, ob man in sozialen Netzwerken nun eher Befreiung und Selbstermächtigung sehen mag – oder doch den Abgrund. Und Ayub weist auf einen gerne unterschlagenen Seitenaspekt hin: Unter Geflüchteten etwa, die aus der Diaspora Kontakt zu ihren Familien halten wollen, sei die digitale Vernetzung unabdingbar.

Klar, sie selbst stehe morgen auch auf, „um zu schauen, was die Leute auf Instagram machen“, lächelt die Regisseurin. Demnächst wird Kurdwin Ayub ihr preisgekröntes Spielfilmdebüt „Sonne“ in Österreichs Kinos bringen, eine Teenager-Erzählung, die sich kritisch, aber eben nicht moralisierend auch mit der durchaus befremdlichen Syntax der neuen Medien als Informations- und Fun-Zentrifugen auseinandersetzt; in der kommenden Ausgabe des profil werden Sie ein großes Porträt der Filmemacherin und eine Einschätzung ihrer Arbeit finden.

Der digitale Spaß hat bekanntlich seine Grenzen, er schlägt schnell in Horror um, denn er stellt bange Fragen der Identität. Oder wie es Elfriede Jelinek im Nachwort zu Edward Upwards Roman „Reise an die Grenze“ (1938/1994) formuliert: Das Ich sei viel mehr als alles andere „ein Produkt der Fehlsichtigkeit von anderen (...). Das Ich ist einem zu nahe, daher muss man auf diese fremden Blicke zurückgreifen, die uns zurückwerfen auf uns selbst, was wiederum den Zusammenhang mit dem eigenen Sein dann auch noch verstellt. In diesem Nebel sieht keiner mehr etwas.“

Oder frei nach Richard David Precht: Wer bin ich – und wenn ja, auf welchen Plattformen?

Einen analogen Mittwoch wünscht Ihnen die profil-Redaktion.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.