Morgenpost

Kultur in Niederösterreich: Kälteschock im Schnitzelwirtshaus

Im Kino und in der Oper wird die politische Wirklichkeit zur Kenntlichkeit entstellt. Mutmaßungen zu Machtfragen, Barockmusik und den dystopisch verzerrten Orgien der Verdammten.

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Die kurzfristig machterhaltende Allianz der Österreichischen Volkspartei mit der rechtsradikalen FPÖ in Niederösterreich schlägt weiterhin heftige Wellen; das Spektrum der Reaktionen links von Schwarz-Blau, in einem politischen Feld von bekanntlich enormen Ausmaßen, reicht von Besorgnis bis zu heftiger Entrüstung.

In einem veritablen „Wutanfall“ beispielsweise, den die wortmächtige Schriftstellerin Gertraud Klemm sinngemäß heute früh bei der Kundgebung von SOS Mitmensch „ins Mikrofon abzusondern“ gedenke, wie sie profil auf Anfrage mitteilt, schreibt sie Folgendes zur Regierungsbeteiligung der blaugelben Freiheitlichen: „Das Übereinkommen liest sich wie ein klares Bekenntnis zur Vergangenheit. Der ,kleine Mann von der Straße’ soll wieder in den Thron zurückgehievt werden: in sein Autochen, auf die Straße, in die 1950er-Jahre, wo er noch was zu sagen hat und wo sich ihm niemand in den Weg klebt. In sein Schnitzelwirtshaus, wo er mit anderen kleinen Männern um die Wette poltern kann, gegen alle, die unerwünscht und minderwertig sind, ohne Gendern und nix; und die brave Frau ist daheim bei den Kindern, die ganz artig Deutsch reden. Und als Trostpflaster auf das ewige Neidgeschwür gibt’s auch endlich was aus dem großen Corona-Töpfchen. Dass Mikl-Leitner da mitmacht, ist auch frauenpolitisch eine Unterwerfung, die ich nicht einmal der ÖVP zugetraut hätte.“

Genaueres (und zahllose Stimmen mehr) zu diesem brandaktuellen kulturpolitischen Skandalon werden Sie am kommenden Wochenende in diesem Nachrichtenmagazin lesen können, das sich weiterhin weigert, das Politische von den künstlerisch-kulturellen Belangen fein säuberlich zu trennen. Denn in der Kunst, so sie diesen Namen verdient, werden eben gerade nicht das Weltferne und die elfenbeinernen Sehnsuchtsfantasien irgendwelcher Traumtänzerinnen und Ästheten gefeiert, vielmehr die sozialen Verhältnisse abgebildet oder überhöht, die massiven Krisen, die wir heraufbeschworen haben, bisweilen auch zur Kenntlichkeit entstellt.

Im kommunistisch regierten Graz ticken die Uhren naturgemäß anders als im gerade schockgebläuten Niederösterreich. Das laufende Austro-Filmfestival Diagonale, das vorgestern Abend mit Patric Chihas existenzialistischer Fantasie „Das Tier im Dschungel“ programmatisch eröffnet wurde, ist – nicht nur deshalb – ein exemplarischer Generator von über die Bande der Filmkunst gespielten politischen Analysen und ideologischen Spiegelkabinetten. Gleich am ersten Spieltag servierte man eine wüste dystopische Erzählung, ein teilanimiertes Horrormaskenspiel, das in allem Sarkasmus den Absturz einer Gesellschaft in Apokalypse, Gewalt und Totalitarismus zu visualisieren versteht: Norbert Pfaffenbichlers „2551.02 – The Orgy of the Damned“, der zweite Teil seiner Underground-Schauer-Trilogie, führt in eine Katakombenwelt, in der blanker Überlebenskampf, Sadismus, Obszönität und Autokannibalismus regieren. Ein Schelm, wer in dieser – assoziativ von David Lynch bis zu Günter Brus reichenden – „Orgie der Verdammten“ auch eine drastische Allegorie auf die (zum Zeitpunkt der Dreharbeiten allenfalls erahnbaren) neuen politischen Realitäten erblicken will.

 

Als Leitmotiv fungiert in Pfaffenbichlers orgiastischer Höllenfantasie übrigens eine Arie, die Henry Purcell 1691 für seine Semi-Oper „King Arthur“ komponiert hat und die seither, von Klaus Nomis Interpretation 1982 popularisiert, liebevoll „The Cold Song“ genannt wird. Eigentlich heißt die Arie ja „What power art thou?“ – die bange Frage also lautet, höchst sinnträchtig: „Welche Macht bist du?“ Das Lied der Eiseskälte ist eben der Soundtrack unserer Zeit, nicht nur, aber seit ein paar Tagen ganz besonders auch in Niederösterreich.

Einen zornigen Donnerstag wünscht Ihnen die Redaktion des profil.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.