Morgenpost

Nennt es nicht Wunder!

Es ist zugegeben gerade ein wenig schwierig, sich auf 2024 zu freuen. Aber es nützt nichts: Wir müssen!

Drucken

Schriftgröße

Gehören Sie auch zu denen, die mit mehr Schrecken als Zuversicht ins kommende Jahr blicken? In all die Kriege, die so bald kein Ende kennen werden, und all die sich verschärfenden ökologischen Desaster? Und was genau beispielsweise am „Superwahljahr“ 2024, wenn wir dereinst darauf zurückblicken werden, „super“ gewesen sein wird, ist tatsächlich fraglich. Bekanntlich stehen Gemeinderats- und Landtagswahlen an, Arbeiterkammerwahlen in allen neun Bundesländern, die Europawahl und im Herbst dann auch noch die Nationalratswahl. Von der amerikanischen Präsidentschaftswahl zu schweigen. 

In Zeiten der Wutwählens und des sich ausbreitenden Politverdrusses könnte (manche sagen: wird) die schiere Destruktivität an der Urne, diesem nicht ohne Grund auch als Todessymbol lesbaren Objekt, fröhliche Auferstehung feiern. Wenn eh schon alles wurscht ist, wählen wir doch einfach die Damen und Herren fürs Grobe, die Gemeingefährlichen, die nichts sich Scherenden, die Parlament-Hooligans und Rechtsstaatunterwanderer. Da geht es dann wenigstens lustiger zu, abends bei Armin Wolf! Und all die betretenen, „demütig zur Kenntnis nehmenden“ Polit-Visagen, die wollen wir sehen! Wie sie da aufgefädelt stehen werden am Wahlabend, nichts als Leichenbittermienen links und rechts der Mikrofone – und freuen werden sich dann endlich einmal nur die Freudlosen und die Unerfreulichen.

So (oder so ähnlich) geht die Leier der wahlberechtigten Nihilisten aller Länder, der angesichts „der Verhältnisse“ und „des Systems“ chronisch Erzürnten und Frustrierten. Man wird, nicht nur im kommenden Jahr, daher viel Überzeugungsarbeit leisten müssen, um deren Zorn im Zaum zu halten und zu vermitteln, dass auf konstruktive politische Arbeit weiterhin Wert gelegt werden muss, auch und gerade, wenn diese im Augenblick recht wenig konstruktiv erscheint.

2024 wird gut (mit Begründungen) 

Die postpandemische Welt hat ihr Probejahr hinter sich, die laufende Normalisierung der Bewegungsfreiheit und das Ende der Viruspanik werden nun festgeschrieben. Die Impfverschwörer und Corona-Leugner haben keine Podien mehr, zumindest niemanden, der ihnen noch ernsthaft zuhören würde, da wird, in alle Richtungen, einiges an Kapazitäten frei. 

Die Inflation wird 2024, das gilt als vereinbart, merklich reduziert, die gesamtwirtschaftliche Lage in Richtung Erholung gedreht. Auch das wird uns hoffentlich sehr entspannen und uns öffnen für verbesserte zwischenmenschliche Kontaktpflege, für erstklassige Literatur, aufregende Musik und großes Theater. Dann muss nur noch, siehe oben, das Superwahljahr halbwegs vernünftig über die Bühnen gehen.

Und wer weiß: Vielleicht findet ja sogar das Unerträgliche, das so hart Verdrängte, das Massensterben im Nahen Osten und in der Ukraine, im Sudan, im Iran, in Myanmar und an all den anderen Orten der täglichen brutalen Gewalt demnächst ein Ende. Wunder geschehen ja, man darf sie nur nicht Wunder nennen, sondern besser: Menschlichkeit, Besonnenheit, Kooperation und Uneigennützigkeit.

Einen hoffnungsfrohen Freitag wünscht Ihnen die Redaktion des profil.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.