Morgenpost

Sylt ist überall

Das „L’Amour Toujours“-Video aus Sylt ist kein Einzelfall, es spiegelt eine gesellschaftliche Stimmung wider, die uns beschäftigen sollte.

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Die Schockwellen des „Sylt“-Videos sind längst nach Österreich geschwappt. Zur Erinnerung: Seit letzter Woche kursieren Videos im Internet, in denen Partygäste ausländerfeindliche Parolen zu der Melodie von Gigi D’Agostinos „L’Amour Toujours“ brüllen. Die Parole ist schon länger im Umlauf, doch in der Vorwoche ging ein Mitschnitt von der Insel Sylt viral, der Côte d’Azur Deutschlands, die vor allem bei Vermögenden beliebt ist. Und wenn man „unter sich“ und beschwipst vom Champagner ist, dann kann man sich auch mehr erlauben, dachten sich wohl einige – außer man wird dabei gefilmt und geht im Internet viral. Dann kann es, wie im Fall der Sylt-Protagonist:innen, sein, dass man seinen Job verliert, aus seiner Uni exmatrikuliert und zur landesweiten Lachnummer wird. 

Auch wenn das Fehlverhalten der Partygäste von Sylt nicht schönzureden ist, muss man nicht jede digitale Gegenoffensive gegen die Privatpersonen gutheißen. 

Der starke Fokus auf die Identität der Gröhler verstellt den Blick auf das zugrunde liegende Problem. 

Ob aus Klagenfurt, Villach, Mödling, Hamburg oder Erlangen: Stündlich tauchen neue „L’Amour Toujours“-Videos mit den immer gleichen Parolen im Internet auf. Die Videos schockieren. Nicht etwa, weil es zum ersten Mal vorkommt, dass Personen Hitlergrüße machen und „Ausländer raus“ singen, sondern weil so etwas nicht mehr „versteckt“ auf kleinen Zeltfesten in 200-Einwohner:innen-Dörfern oder in Kellern von Privatpersonen gemacht wird, sondern in Bars in der Klagenfurter City oder Villacher Clubs. Man kann jetzt also – wie es in den Videos scheint – in aller Öffentlichkeit ausländerfeindliche Parolen herumbrüllen – oder?

Meine Kollegin Eva Sager und ich haben 24 Clubbetreiber:innen gefragt, wie sie mit „L’Amour Toujours“ umgehen – geantwortet haben vier. Laut dem „Jimmy’s”-Club in Innsbruck wären rassistische Parolen ohnehin kein Thema, da ihr Publikum politisch links eingestellt wäre. In der Wiener Kultdiskothek „Volksgarten“würde man alle, die sich so verhalten „wie auf Sylt“ augenblicklich hinausschmeißen und ihnen Hausverbot erteilen. 

Und in den betroffenen Lokalen? Laut der „Speki Bar“ hätte man, sobald man verstanden hätte, was genau gebrüllt wurde, die Gäste hinausgeworfen, im Villacher „Club V“ distanziert man sich von den rassistischen Parolen, hinterfragt jedoch die Echtheit des Videos.

Wie verbreitet Rassismus, Islamfeindlichkeit und Antisemitismus mittlerweile geworden sind, zeigt sich nicht nur an den „L’Amour Tourours“-Videos, sondern auch an aktuellen Statistiken. Die Dokustelle Islamfeindlichkeit und antimuslimischer Rassismus präsentierte am Montag den Antimuslimischen Rassismus Report 2023. Die Zahlen bestätigen das Gefühl, das viele bei den Videos beschleicht. 

1522 rassistische Übergriffe wurden vergangenes Jahr gemeldet – fast 200 mehr als 2022. Besonders gestiegen ist der Hass im Internet, im Bildungsbereich und gegen muslimische Frauen und Mädchen mit Kopftuch.

Ein besonderer Anstieg wurde ab Oktober verzeichnet, also dem Monat, in dem der Krieg in Gaza begann. Muslimische Schüler:innen meldeten etwa, dass sie von Lehrkräften mit dem Krieg in Nahost in Verbindung gebracht und als „Terroristen“ bezeichnet wurden. Auch der Hass gegen Jüd:innen hat in den letzten Monaten massiv zugenommen.

Die „L’Amour Toujours“-Videos sind kein Nischenphänomen von einer fernen Insel – sie zeigen auf besorgniserregende Weise die derzeitige Stimmung in einem wachsenden Teil der Gesellschaft.

Natalia Anders

Natalia Anders

ist Teil des Online-Ressorts und für Social Media zuständig.