Über den Dächern von Wien

100 Jahre Erster Weltkrieg: Über den Dächern von Wien

100 Jahre Erster Weltkrieg. Der Countdown zum Krieg: 9.-15. Februar 1914

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Die in der Arbeiterschaft verbreitete Trunksucht sehen die Sozialdemokraten als eines der großen Hindernisse zur Schaffung von Klassenbewusstsein. "Ein Arbeiter, der denkt, trinkt nicht. Ein Arbeiter, der trinkt, denkt nicht“, dekretiert Parteigründer Victor Adler. Die "Arbeiter-Zeitung“ versucht fast täglich, den Zusammenhang zwischen Alkoholismus und verpfuschtem Leben aufzuzeigen. Am 8. Februar etwa überfällt der Bergmann Anton Roldig bei Karlsbad einen Bäckermeister, erschlägt ihn und raubt seine Brieftasche. "Er ist seit Jahren dem Trunk und Spiel ergeben und ohne Halt im Leben immer tiefer und tiefer gesunken, bis ihn der Alkohol zum Mörder machte.“

Noch Anfang der 1960er-Jahre wird AZ-Chefredakteur Oscar Pollak von der Verlagsleitung gegen seinen Willen eingerückte Inserate für alkoholische Getränke mit dem Zusatz versehen: "Ich bitte Sie, die Anzeige auf Seite 4 nicht zu beachten.“

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Dramatische Szenen über den Dächern in Wien-Leopoldstadt: Ein vermeintlicher Einbrecher hat sich auf dem Dachboden des Hauses Große Schiffgasse 11 eingenistet. Vor der Polizei flüchtet er durch eine Luke und versucht, über die Dächer der Nebenhäuser davonzukommen. Vergeblich: Die Polizisten verfolgen ihn und stellen ihn schließlich mit einem Warnschuss aus der Pistole. Hunderte Schaulustige verfolgen die Szene. Der mit einem "scharfgeschliffenen Dolch ausländischer Arbeit“ Bewaffnete entpuppt sich als ein obdachloser Zuwanderer aus Russland, der einen Unterschlupf suchte.

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Das Kriegsministerium veröffentlicht einen Erlass, der die Zahl der zwischen Offizieren ausgetragenen Duelle durch die Einrichtung von Ehrenräten etwas beschränken soll. Ein Verbot von Duellen will das Ministerium nicht erlassen, weil seiner Meinung nach "für den Ehrenschutz im Wege der öffentlichen Gerichte nicht genügend vorgesorgt ist“. Offiziersduelle seien daher "ein unentbehrliches Übel“.

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Am 10. Februar 1914 bewilligt der Kärntner Landtag weitere 7500 Kronen für den geplanten Ausbau der "Kaiserin Elisabeth Glocknerstraße“. Auch den vom Eisenbahnministerium projektierten Bau von Seilbahnen auf den Dobratsch bei Villach und auf die Gerlitzen bei Annenheim will das Land Kärnten finanziell durch die Übernahme von Stammaktien bis zum Betrag von 100.000 Kronen unterstützen.

Der Krieg wird diese Pläne zunichte machen. Die Kanzelbahn auf die Gerlitzen wird erst 1928 errichtet, die Großglockner Hochalpenstraße 1935. Eine Seilbahn auf den Dobratsch ist bis heute nicht gebaut worden.

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Es gibt schon Fußball-Legionäre. Die Vienna hat einen Briten namens Humphrey unter Vertrag genommen, der im Match gegen Wacker Wien erstmals zum Einsatz kommt. Die Partie endet 4:4. "Humphrey konnte die in ihn gesetzten Erwartungen diesmal nicht voll befriedigen“, heißt es auf den Sportseiten am Tag nach dem Match. Die Reporter sind allerdings verständnisvoll: "Der Hauptvorzug des Engländers ist jedenfalls seine Technik, und gerade die konnte er auf dem eisgefrorenen Platze natürlich nicht zu voller Geltung bringen.“

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Dem Kaiserhaus wird im Februar 1914 noch sehr unterwürfig begegnet. Der 16-jährige Drechslerlehrling Josef Klarith aus Graz etwa hat einen "kunstvoll gearbeiteten Spazierstock“ angefertigt und ist dafür mit einem Preis ausgezeichnet worden. Über die steirische Statthalterei wendet er sich mit dem sehnlichen Wunsch an die Kabinettskanzlei in Wien, dem Kaiser diesen Stock schenken zu dürfen. Nach einigen Wochen kommt die frohe Botschaft: Franz Josef hat das Geschenk angenommen.

In dieser Woche findet in den Wiener Sophiensälen zum zehnten Mal der Jägerball statt, veranstaltet vom Verein Grünes Kreuz. Der höchstrangige Gast ist Erzherzog Leopold Salvator, dem mehrere Mitglieder des Vereins-ausschusses vorgestellt werden. "Auch die anderen Herren Erzherzöge zogen mehrere Herren in liebenswürdiger Weise in Gespräche“, vermerkt die "Neue Freie Presse“ dankbar. Den Ehrenschutz des Jägerballs hat Thronfolger Franz Ferdinand inne, der allerdings nicht persönlich erscheint.

Noch 24 Wochen bis zum Krieg.

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