Alois Brunner: Wie der NS-Kriegsverbrecher seiner Verhaftung entging

Zeitgeschcihte. Der NS-Kriegsverbrecher Alois Brunner wäre in den achziger Jahren fast von der DDR geschnappt worden

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Von Andreas Förster, Berlin

Der Mann aus Frankreich, der an jenem 16. Dezember 1985 im Hotel am Alexanderplatz bei einer Tasse Kaffee mit seinen Gesprächspartnern vom DDR-Geheimdienst zusammensitzt, hat einen verwegenen Plan mit nach Ostberlin gebracht: Wie wäre es, fragt er, wenn man den Nazi-Kriegsverbrecher Alois Brunner aus Syrien abschieben lassen und mit dem Flugzeug in die DDR bringen würde – jenen SS-Hauptsturmführer, der als engster Mitarbeiter Adolf Eichmanns die Deportation von insgesamt rund 128.500 Juden aus – Österreich, Frankreich, Griechenland, der Slowakei und anderen von Deutschland besetzten Ländern in die KZs und Vernichtungslager der Nazis verantwortet.

Die Stasi-Offiziere sind verblüfft, aber sie leiten die Angelegenheit noch am gleichen Tag an ihren Minister Erich Mielke weiter. Der stimmt nach einigem Zögern zu: Wenn Brunner am Flughafen Berlin-Schönefeld landen sollte, sei er festzunehmen und vor Gericht zu stellen.

In bisher unbekannten Unterlagen des früheren DDR-Staatssicherheitsdiensts ist dokumentiert, dass der Geheimdienst sogar davon ausging, der Gesprächspartner plane die tollkühne Aktion, Brunner aus Syrien nach Ostberlin „zu entführen“. Die mehrere hundert Seiten umfassende Akte, die profil exklusiv vorliegt, birgt aber eine weitere Überraschung: Offenbar war Syrien 1989 bereit, den Kriegsverbrecher in die befreundete DDR abzuschieben, wo ihm der Prozess gemacht werden sollte. Brunner kam allerdings noch einmal davon – der Zusammenbruch des Ostblocks im Herbst 1989 bereitete dem schon weit gediehenen Vorhaben ein jähes Ende.

Stasi-Bericht über den Vorschlag des Ehepaar-Klarsfeld, Alois Brunner in die DDR zu bringen

Vermerk von DDR-Außenminister Oskar Fischer an die Stasi, 14. 4. 1989

Stasi-Vermerk über Treffen zwischen Generalstaatsanwalt und DDR-Ermittlern

Stasi-Bericht über Treffen von Serge Klarsfeld mit DDR-Vertretern, Teil 1

Stasi-Bericht über Treffen von Serge Klarsfeld mit DDR-Vertretern, Teil 2

Die DDR hatte sich bis weit in die achtziger Jahre hinein gesperrt, den Fall des Massenmörders Brunner anzufassen. Vermutlich aus Rücksicht auf das befreundete Assad-Regime in Syrien, denn auch dem DDR-Geheimdienst ist seit den sechziger Jahren bekannt, dass sich Brunner in Damaskus versteckt hält. Dort betreibt er nach Information der Stasi unter dem Namen Dr. Georg Fischer die Handelsfirma „Kather Office“ und erhält regelmäßig Besuch von seiner Tochter aus Österreich. Die Genossen des russischen KGB flüstern den DDR-Agenten später auch noch, dass Brunner alias Fischer Kontakte zum syrischen Geheimdienst unterhalte – mit dem wiederum auch die Stasi kooperiert.

Während der seine anti-faschistischen Grundsätze hochhaltende SED-Staat in anderen Ermittlungsverfahren und Strafprozessen gegen NS-Kriegsverbrecher Beweismittel bereitwillig auch an den Westen aushändigte, blieb man im Fall Brunner also lange untätig.

Dann aber kommt an jenem Dezembertag 1985 der Besucher aus Frankreich eingeflogen. Der Mann ist Serge Klarsfeld – eine Berühmtheit auch in der DDR. Klarsfeld, ein französischer Jude und Rechtsanwalt, und seine in Deutschland geborene Frau Beate werden dort als unerschrockene Nazi-Jäger geschätzt. Ihr größter Erfolg ist die Enttarnung des früheren Lyoner Gestapo-Chefs Klaus Barbie, bekannt als „Schlächter von Lyon“, den das Ehepaar Anfang der siebziger Jahre in Bolivien aufgespürt hat. 1983 wurde Barbie nach Frankreich ausgeliefert, 1987 zu lebenslanger Haft verurteilt.

Die DDR unterstützt die Tätersuche der Klarsfelds seit den sechziger Jahren, vor allem mit Unterlagen aus dem NS-Archiv in Ostberlin. Klarsfeld, den die Stasi-Auslandsspionageeinheit Hauptverwaltung A (HVA) als Kontaktperson KP „Advocat“ führt, will bei seinem Besuch im Dezember 1985 aber nicht nur Akten abstauben. Er möchte seine Gesprächspartner auch für den Plan gewinnen, Brunner in Damaskus quasi zu kidnappen und ihn per Flugzeug nach Berlin-Schönefeld zu verfrachten. Er erwarte, „dass B. dann hier verhaftet wird“, heißt es in dem Stasi-Bericht über das Treffen. „Wir müssen an geeigneter Stelle klären, ob wir an einer solchen Maßnahme interessiert sind und ob sogar Interesse besteht, einen eigenen Prozess durchzuführen. Auf ¬jeden Fall wird alles, was mit dieser letzten der Schlüsselfiguren um Eichmann geschieht, größte internationale Aufmerksamkeit erregen.“

Serge Klarsfeld hat ein persönliches Interesse daran, dass Brunner endlich vor Gericht kommt. Als Kind war er in einem Versteck in Nizza nur knapp einer von Brunner organisierten Razzia entkommen. Sein Vater allerdings wurde gefasst, deportiert und in Auschwitz ermordet.

Die HVA leitet Klarsfelds Plan an Stasi-Minister Erich Mielke weiter. Der entscheidet Ende Jänner 1986, „Brunner bei dieser möglichen Einreise zu verhaften“, wie es in einem Vermerk steht.

Der Stasi-Apparat läuft an. Die Untersuchungsabteilung wird den Unterlagen zufolge damit beauftragt, eine Beweismittelakte aus dem in der DDR vorliegenden Material über Brunner zu erarbeiten. Auch sollen alle Presseveröffentlichungen zu dem Fall gesammelt und geprüft werden, „wo welche weiteren Beweismittel beschafft werden können“.
Die aktive Rolle, Brunner in Damaskus zu stellen, wollte die Stasi offensichtlich nicht übernehmen. Das erwartete man von den Klarsfelds. In einem Vermerk wenige Wochen nach dem Treffen vom Dezember 1985 heißt es, man verfüge über „zuverlässige Informationen, dass die französischen Antifaschisten Beate und Serge Klarsfeld vorhaben, … Brunner aus Syrien zu entführen.“ Weiter hätten die beiden „angekündigt, ihn mit einer Maschine der Interflug nach Berlin-Schönefeld zu bringen“.

Im Gespräch mit profil verweist Beate Klarsfeld diese Interpretation des ostdeutschen Geheimdiensts ins Reich der Fantasie: „Wir wurden in Syrien ständig überwacht, Derartiges hätten wir nie machen können. Die DDR hatte ihre eigenen Leute“.

Doch das Ehepaar gab seine Bemühungen, die DDR zum Handeln zu bewegen, nicht auf. Im Jänner 1988 besucht SED-Staatschef Erich Honecker Paris. Zu einem abendlichen Empfang im Élysée-Palast, den Präsident François Mitterrand für den Gast aus der DDR gibt, sind auch die Klarsfelds eingeladen. „Ich ging auf Herrn Honecker zu, er wusste natürlich schon, wer ich war“, erinnert sich Beate Klarsfeld später. „Ich sagte dann: Herr Honecker, ich war mehrere Male bei Ihnen in der DDR, der Fall ¬Alois Brunner muss gelöst werden.“

Das kurze Gespräch zeigt Wirkung. Schon wenige Tage später, am 21. Jänner 1988, wird Beate Klarsfeld im DDR-Außenministerium empfangen. Sie übergibt eine Dokumentation mit Unterlagen zu Brunner und bittet die DDR, einen Auslieferungsantrag an Syrien zu stellen. „Sie ging davon aus, dass die DDR aufgrund ihrer Beziehungen zu Syrien erreichen könnte, dass Brunner möglicherweise auch ohne international übliches Auslieferungsersuchen den DDR-Organen übergeben wird, (um) ihn strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen“, heißt es in einem Aktenvermerk über das Gespräch.

Aber die Stasi, die in den Vorgang mit einbezogen wird, spielt auf Zeit. Ein ¬Vorschlag des DDR-Außenministers an Honecker über das weitere Vorgehen im Fall Brunner soll erst noch zurückgestellt werden, befiehlt das Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Offenbar will die Stasi über ihre Kontakte nach Damaskus die Möglichkeiten einer diskreten Lösung ausloten, bei der die Freunde vom syrischen Geheimdienst ihr Gesicht wahren können.

Eine solche Lösung wäre zum Beispiel, Brunner, der ohnehin keinen deutschen Pass mehr besitzt, in die DDR abzuschieben. Im Spätsommer 1988 scheinen sich die Anzeichen, dass dies für Damaskus akzeptabel sein könnte, zu verdichten. So verständigen sich im September 1988 hochrangige Vertreter der DDR-Generalstaatsanwaltschaft und des Stasi-Untersuchungsorgans auf einem Treffen über die nötigen Schritte für eine Anklageerhebung gegen den NS-Verbrecher. „Es wird davon ausgegangen, dass Brunner, Alois, möglicherweise von der SAR (Syrisch Arabische Republik, Anm.) in die DDR abgeschoben wird“, heißt es in einem Aktenvermerk dazu. „Als Grundsatzentscheidung wurde bereits festgelegt, dass gegen Brunner im Falle des Aufenthalts auf dem Gebiet der DDR ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und Haftbefehl beantragt wird.“ Von den Justizbehörden in der CSSR, so die Festlegung, sollen weitere Unterlagen beschafft werden; außerdem sollen Rechtshilfeersuchen an Österreich, Frankreich, Griechenland und die Bundesrepublik Deutschland vorbereitet werden.

An der stillen Diplomatie, die den Fall Brunner endlich lösen soll, ist neben der DDR auch Frankreich beteiligt. Stasi-Berichte über Gespräche des Franzosen Serge Klarsfeld in der Pariser DDR-Botschaft legen nahe, dass Klarsfeld, ein Freund des damaligen französischen Außenministers Roland Dumas, dabei als Mittler zwischen Paris und Ostberlin agiert.
So informiert er laut Stasi-Akten am 9. Jänner 1989 die ostdeutschen Diplomaten von der Entscheidung Frankreichs, „Syrien offiziell wissen zu lassen, dass die französische Seite nicht auf eine Auslieferung des B. nach Frankreich bestehe, sondern vorschlage, eine Ausweisung des B. aus Syrien mit einem Direktflug nach Berlin zu realisieren“. Eine solche Ausweisung würde eine Verurteilung Brunners in der DDR ermöglichen. „Dieses Verfahren wäre für Syrien ein akzeptabler Weg, da ohne offizielle Auslieferungsprozedur eine nicht erwünschte öffentliche Publizität des bisherigen ¬Aufenthalts eines Nazi-Verbrechers seit Kriegsende in Syrien vermieden würde und damit Enthüllungen über gewisse Verbindungen des B. in Syrien nicht zu befürchten seien“, heißt es in dem Vermerk über das Treffen. „Im Übrigen sei eine Ausweisung administrativ wesentlich unkomplizierter durchführbar und bedürfe nicht der Zustimmung des syrischen Präsidenten.“

Mitte April 1989 sind die Verhandlungen mit Damaskus über eine Abschiebung Brunners offenbar so weit gediehen, dass man auf DDR-Seite SED-Chef Erich Honecker über die Vorgänge um Alois Brunner informiert: „Genosse Erich Honecker hat festgelegt, dass der Generalstaatsanwalt der DDR die erforderlichen Maßnahmen zur Vorbereitung der Strafverfolgung Brunners für den Fall seines Eintreffens in der DDR einleitet“, notiert DDR-Außenminister Oskar Fischer in einem Vermerk für die Stasi.
Es ist der letzte Vermerk in der Brunner-Akte. Der SED-Staat wird ein halbes Jahr später von seinen Bürgern hinweggefegt. Für Damaskus aber verschwinden mit DDR und Stasi auch verlässliche Partner, die das Geheimnis über die Kooperation des syrischen Nachrichtendiensts mit dem Judenmörder Brunner gewahrt hätten. Die Bundesrepublik, die lange Zeit ihre schützende Hand über den Nazi hielt, hatte kein Interesse daran, anstelle der untergegangenen DDR eine Auslieferung Brunners zu forcieren. Und alle Versuche, ihn durch konventionelle Fahndungsmethoden – unter anderem durch eine Abhör- und Überwachungsaktion bei seinen in Österreich lebenden Angehörigen im Jahr 1999 – zu fassen, blieben erfolglos.

Was bleibt, ist die Erinnerung an eine vergebene Chance: Beate Klarsfeld und ihrem Mann wäre es mithilfe der Stasi beinahe gelungen, Brunner nach Deutschland zu bringen. Die DDR hätte nur noch ein paar Tage länger überleben müssen.

Mitarbeit: Marianne Enigl

Erstmals erschienen in profil 31/2011 vom 01.08.2011