„Ost­europa gibt es nicht“

Anne ­Applebaum: „Ost­europa gibt es nicht“

Totalitarismus. Pulitzer-Preisträgerin Anne Applebaum im Interview

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Interview: Georg Hoffmann-Ostenhof, Tessa Szyszkowitz, London

profil: In Ihrem nun auf Deutsch erscheinenden Buch „Der Eiserne Vorhang“ erklären Sie, dass Osteuropa nicht existiere. Gleichzeitig verwenden Sie den Ausdruck selbst – sogar im Untertitel des Buches: „Die Unterdrückung Osteuropas 1944 bis 1956“. Widersprechen Sie sich nicht selbst?
Anne Applebaum: Der Begriff war eine korrekte und adäquate Beschreibung der Region für den Zeitraum, den ich in meiner Arbeit abdecke. Aber heute? Ich war bei meinen Besuchen in Österreich überrascht, dass nach wie vor von Osteuropa gesprochen wird, als ob es sich dabei um eine einheitliche Region handle. Erstaunlich, wie wenig da differenziert wird – und nicht nur in Wien. Hätte Stalin nicht das Gefühl gehabt, dass er sein Imperium zu weit ausdehnt, wäre auch Österreich Osteuropa geworden.

profil: Geografisch liegt Wien ohnehin östlich von Prag, Ljubljana und Zagreb.
Applebaum: Nicht erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, vor allem auch lange vor der Machtergreifung der Kommunisten, war das sogenannte Osteuropa ex-trem vielfältig: Die Länder waren Teile verschiedener Reiche, einige gehörten zum Osmanischen Reich, andere zu Österreich-Ungarn, zum Polnisch-Litauischen Reich, zu Preußen und wieder andere zum russischen Imperium. Und nach 1989 haben sie sich erneut auseinanderentwickelt: Da gibt es keine Gemeinsamkeit wie in den Jahrzehnten des Kommunismus.

profil: Sie haben die Periode nach dem Zweiten Weltkrieg studiert, um zu verstehen, wie in dieser Region totalitäre Systeme etabliert wurden und wie es möglich war, aus diesen so verschiedenen Ländern einen Block kommunistischer Staaten zu bilden. Aber hat diese gemeinsame Vergangenheit nicht doch so etwas wie eine osteuropäische Identität geschaffen, die in gewisser Weise überlebt?
Applebaum: Nicht im Geringsten.

profil: Hat der sogenannte Homo Sovieticus überhaupt keine Spuren hinterlassen in den Mentalitäten der Völker des einstigen Warschauer Pakts?
Applebaum: Nein. Schauen Sie doch nach Polen. Polen hat, was Arbeitsethos, politische Kultur und ökonomische Performance betrifft, weit mehr mit Deutschland gemeinsam als mit Rumänien oder Albanien. Die Deutschen wiederum sind den Polen um vieles näher als den Griechen oder Portugiesen. Vor allem aber: Menschen, die heute 35 Jahre alt sind – eine Generation, die jetzt wichtige Posten besetzt –, erinnern sich nicht mehr an die Sowjetzeit. Sie waren zehn Jahre alt, als die Mauer fiel. Es fällt uns Älteren schwer, das zu glauben: Aber der Kommunismus ist schon Geschichte geworden.

profil: Wie stellten es die Sowjets an, nach dem Zweiten Weltkrieg in so kurzer Zeit einen so vielfältigen Teil Europas kommunistisch zu homogenisieren?
Applebaum: Zunächst hatte Moskau bereits Erfahrungen. 1939 hatten die Sowjets in den baltischen Staaten und in Ostpolen ihr System etabliert. Sie gingen nach 1945 nicht mit generalisierter Gewalt vor, sie wendeten diese selektiv an. Der NKWD (sow-jetischer Geheimdienst, Anm.) brachte Listen mit Personen mit, die es auszuschalten galt. Die Sowjets, die militärisch in diese Länder vorgestoßen waren, zielten auf die Eliten, auf Unternehmer, Priester, Politiker. Damit begannen sie sofort. Sie warteten nicht auf den Beginn des Kalten Kriegs. Sie übernahmen sehr schnell die Massenmedien. Und schließlich machten sie sich daran, all das in den Griff zu bekommen, was heute „Zivilgesellschaft“ genannt wird: Clubs, Vereine, Frauen-Gruppen, kirchliche Organisationen und natürlich Parteien. Von der ­ersten Minute an begannen sie, diese zu übernehmen, zu unterwandern oder gleichzuschalten.

profil: Warum aber ließen sich das die Menschen dort gefallen? Warum war anfangs der Widerstand gegen diese Übernahme durch die Kommunisten so schwach?
Applebaum: Vergessen Sie nicht, wie sehr diese Länder 1945 zerstört waren. Die Leute waren zu erschöpft, sie wollten einfach Ruhe und Frieden.

profil: Sie schreiben, dass ursprünglich Josef Stalin in Osteuropa keinesfalls sofort das sowjetische System einführen wollte, sondern eine mehr oder minder demokratische Periode von 20 bis 30 Jahren vorsah. Warum kam es nicht dazu?
Applebaum: Zu Beginn dachten die Sowjets, sie würden die Macht über Wahlen erobern. Aber schon die ersten Urnengänge in Deutschland, in Österreich und Ungarn zeigten, wie sehr sie sich geirrt hatten. Nirgendwo konnten sie größere Teile der Bevölkerung für sich gewinnen. So änderten sie sehr schnell ihre Taktik und beendeten die „demokratische Etappe“. Sie hatten ganz doktrinär Folgendes geglaubt: Wenn wir die Bourgeoisie und den Großgrundbesitz beseitigen, ziehen wir die Arbeiter und Bauern auf unsere Seite. Die Massen werden uns unterstützen und wählen. Bloß: Die Massen dachten nicht daran.

profil: Warum nicht?
Applebaum: Diese Frage stellten sich die Sowjets und die osteuropäischen Politbüros ununterbrochen. Aber anstatt zu sagen, vielleicht hatte Marx Unrecht, versuchten sie es mit vielen anderen Erklärungen. Das habe ich in den Dokumenten gefunden. Eine Antwort lautete: Spione. Oder eine andere: Wir haben nicht genügend Leute eliminiert. Sie versuchten alles, die Politik schwenkte immer wieder um. Einmal hieß es: Vielleicht müssen wir netter zu den Menschen sein, damit sie uns mögen. Das funktionierte nicht. Also begannen sie mit verschärfter Unterdrückung. Auch das klappte nicht. In der Folge wuchs der Widerstand, Aufstände brachen in den verschiedenen Ländern aus. Die Regime in Osteuropa blieben immer instabil.

profil: Bis sie 1989 untergingen. Davor sprach man bei uns in Österreich viel von Mitteleuropa. Als dann der Eiserne Vorhang tatsächlich fiel – demnächst feiern wir den 25. Jahrestag dieses historischen Ereignisses –, zeigte sich, dass Wien nicht wieder, wie einst, das Zentrum Mitteleuropas wurde. Warum?
Applebaum: Berlin ist das Zentrum Mitteleuropas geworden. In Österreich wird der Begriff „Osteuropa“ nach wie vor als eine Art Vorurteil gebraucht: Die Osteuropäer werden als rückständig, potenziell kriminell gesehen, obwohl diese Länder doch so verschieden sind.

profil: Die österreichische Wirtschaft ist aber in den ehemals kommunistischen Ländern überaus aktiv.
Applebaum: Mag sein. Dennoch fiel mir, als ich vergangenes Jahr in Wien einen Vortrag hielt, auf, wie wenig man da von Osteuropa verstand. Aber auch anderswo mangelt es an Verständnis: Erinnern wir uns: Als die Wirtschaftskrise voll ausbrach, wurde allgemein angenommen, dass die EU ihre neuen Mitgliedsländer im Osten werde retten müssen. Tatsächlich aber wurden die Rettungsschirme dann für die Südländer aufgespannt.

profil: Die Krise erfasste aber auch ost-europäische Länder.
Applebaum: Stimmt. Zum Beispiel Lettland. Darüber habe ich auch in Wien gesprochen. Was passierte 2008? Lettland kürzte dramatisch die öffentlichen Ausgaben, verkleinerte die Bürokratie um ein Drittel und wertete die Währung nicht ab. Obwohl die Wirtschaft 2011 und 2012 dramatisch schrumpfte, gab es keine Streiks und Massenproteste. Die Menschen wollten offenbar eine gesunde, unabhängige Ökonomie. Und heute wächst die lettische Wirtschaft um fünf Prozent. Vergleichen Sie das mit Griechenland: Dort weigerte man sich, radikale Maßnahmen zu ergreifen, die Leute demonstrieren dauernd gegen ihre Regierung und warten, dass ihnen die EU zu Hilfe kommt. Die Griechen sollten sich Lettland als Vorbild nehmen.

profil: Ihr Buch ist eine Studie des Totalitarismus. Viele Länder gibt es nicht mehr, die so regiert werden: Nordkorea und einige arabische Staaten. Aber ist sonst die totalitäre Gefahr vorbei?
Applebaum: Nein, wir sind gegenüber Totalitarismus nicht immunisiert.

profil: Müssen wir vor der Entwicklung Russlands Angst haben?
Applebaum: Russland ist so groß. Es ist schwer zu sagen, was dort möglich ist. Könnte Präsident Wladimir Putin versuchen, totalitär zu regieren? Gewiss, er könnte es versuchen. Würde es ihm gelingen? Ich weiß es nicht. In Osteuropa gelang es nie wirklich, den Totalitarismus zu etablieren. Aber man muss auch sagen: Den Wunsch des Menschen, andere zu kontrollieren, gibt es seit jeher, und es wird ihn auch weiter geben.

Zur Person
Anne Applebaum, 49, ist Spezialistin für Kommunismus, die Sowjetunion und die Länder Zentral- und Mitteleuropas. Sie wurde in Washington, D. C., geboren, studierte an der Yale-Universität und Oxford. Als Korrespondentin und Kolumnistin unter anderem für den britischen „Economist“ und die „Washington Post“ analysierte sie die wichtigen sozialen und politischen Umwälzungen Osteuropas vor und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Für ihr Buch „Gulag: A History“ wurde ihr 2004 der Pulitzer-Preis verliehen. „The Iron Curtain: The Crushing of Eastern Europe 1944–56“ kommt dieser Tage in deutscher Übersetzung heraus. Anne Applebaum ist mit dem polnischen Außenminister Radoslaw Sikorski verheiratet. Sie lebt in London und Warschau. Anfang des Jahres nahm sie die polnische Staatsbürgerschaft an.

Anne Applebaum: Der Eiserne Vorhang - Die Unterdrückung Osteuropas 1944-1956, Siedler Verlag, 640 Seiten, 2013