Das Medieninteresse im Gerichtssaal 303 ist groß. Auf der Beschuldigtenbank sitzen die beiden Angeklagten, Emir K. und Schamil G.
Wien

14 Jahre Haft: Schuldspruch im Prozess um Wiener „Bandenkriege“

Ein Prozess, der die Öffentlichkeit monatelang unter dem Stichwort syrisch-tschetschenische „Bandenkriege“ beschäftigte, endete am Mittwoch. Der Hauptangeklagte wurde zu 14 Jahren Haft verurteilt, der Mitangeklagte freigesprochen.

Drucken

Schriftgröße

Am Mittwoch ist es um 9:15 Uhr im Eingangsbereich des Landesgerichts Wien überraschend ruhig. Und das, obwohl im dritten Stock gleich zwei Verhandlungen stattfinden, die großes Medieninteresse geweckt haben. Im Raum 304 findet der Prozess dreier jugendlicher „Systemsprenger“ statt. Nebenan, im Raum 303, läuft der zweite Prozesstag wegen einer Schießerei im Juli 2024 im Anton-Kummerer-Park in Wien-Brigittenau. Zur Erinnerung: Dieser Vorfall, bei dem sich junge syrische und tschetschenische Männer brutal gegenseitig attackiert haben sollen, soll Teil der „Bandenkriege“ gewesen sein. In dieser Sommernacht soll ein Schütze sechsmal auf junge Syrer geschossen, sie allerdings nur durch eine abgeprallte Kugel leicht verletzt haben. profil berichtete ausführlich.

Ärger hinter Gittern

Auf der Anklagebank sitzen zwei Tschetschenen, Emir K., 31, Hauptangeklagter und sein Freund, Schamil G., 29. Ihnen wird Mordversuch und gefährliche Drohung vorgeworfen. Bevor der Prozess beginnt, berichtet der Richter, dass Emir und Schamil beide nach dem ersten Prozesstag Ärger in U-Haft bekommen haben sollen. Emir soll sich geweigert haben, in seine Zelle zu gehen. Das läge, so Emir K., an seinem neuen Zellengenossen, der laut ihm ein „Geisteskranker“ sei und ihn drei Nächte nicht schlafen ließ. 

Sein Freund und Mitangeklagter Schamil soll versucht haben, zwei Päckchen Marihuana, eingenäht im Bund seiner Hose, ins Gefängnis zu schmuggeln. Er bekennt sich dazu nicht schuldig und weiß nicht, woher die „Gras“-Packerl kommen. 

Vor dem ersten Prozesstag sprachen zunächst alle Indizien gegen die beiden Freunde: Emirs BMW wurde inklusive Autokennzeichen von den Opfern am Tatort gesichtet; auf seiner Kleidung und seinem Lenkrad wurden Schmauchspuren gefunden, die entstehen, wenn man mit einer Pistole schießt; Schamils Bauchtasche befand sich in Emirs Kofferraum. Beide Männer, das sagen sie von Prozessbeginn an, bekennen sich allerdings nicht schuldig zu sein. Zwar seien sie zum Tatzeitpunkt am Tatort gewesen, allerdings getrennt voneinander. Sie seien durch Zufall dorthin geraten und wären dort nur als Zeugen anwesend gewesen, so die Tschetschenen. Überraschend waren auch die Aussagen der beiden Opfer, zwei junger Syrer, Ali A. und Yasser A., die im Zuge der Schießerei beide durch abgeprallte Patronen leicht verletzt wurden. Sie gaben am ersten Prozesstag, im Gegensatz zu ihrer Aussage in der Tatnacht an, weder Emir, noch Schamil jemals gesehen zu haben und behaupteten, der Schütze sei eindeutig ein Türke, der weder Emir, noch Schamil ähnlich sah. 

Friedensgespräche als Grund für zurückgezogene Aussage?

Der zweite Prozesstag, an dem das Urteil fallen soll, zieht sich über mehr als acht Stunden. Ein Mitgrund dafür ist, dass die Beweislage zwar eindeutig ist, die Zeugenaussagen aber komplett davon abweichen. 

Die plötzliche Änderung der Aussagen von Ali A. und Yasser A. erklärt der Staatsanwalt in seinem Abschlussstatement mit den Friedensgesprächen der ältestesten Mitglieder aus den Communities, die dazu geführt hätten, dass sich syrische und tschetschenische Jugendliche überhaupt erst wieder vertragen haben: „Eine Krähe sticht der anderen kein Auge aus“, argumentiert der Staatsanwalt. Er geht davon aus, dass die Zeugen von den Communities nach den erfolgreichen Friedensgesprächen überzeugt wurden, ihre belastenden Aussagen zurückzuziehen.  

Schließlich kommen vier weitere Zeugen zu Wort. Zuerst zwei Anrainer, die beide bestätigen, von einer Schießerei mitbekommen zu haben, eine Freundin von Schamil, die bestätigt, mit ihm zum Tatzeitpunkt unterwegs zu sein, sowie ein Freund der beiden, der im Zuge der Ermittlungen bereits vier Monate in U-Haft gesessen ist und deshalb seine Aussage verweigert. Der fünfte Zeuge, ein Freund, der mit Emir am Abend vor der Tatnacht zum Schießstand gefahren sein soll, erschien krankheitsbedingt nicht. Er teilte dem Richter per E-Mail allerdings mit, dass er mit Emir nur einmal, im März 2024, am Schießstand in Bratislava gewesen sei. 

„Mandat passt nicht ins Bild“ 

Die beiden Anwälte der jungen Männer rechneten damit, dass es zu einem Freispruch kommt: „Es gibt keinerlei objektiven Indizien, die gegen meinen Mandanten sprechen“, so Rechtsanwalt Florian Kreiner, der Schamil vertreten hat, in seinem Schlussplädoyer an das Geschworenengericht. Schamil fügt hinzu: „Ich weiß, ich habe eine Vorgeschichte, war in der Vergangenheit nicht immer ein Unschuldslamm. Aber ich hoffe, dass Sie dieses Urteil trotzdem gerecht fällen können.“ Damit meint er seine mehrfachen Vorstrafen.

Ihnen schloss sich Emir K.s Anwalt, Alexander Philipp an: „Mein Mandant passt gar nicht in dieses Bild hinein.“ Damit meint er Emir als Person: Jung, gebildet, beruflich erfolgreich, sportlich, keinerlei Vorstrafen. Emir K. war zudem großer Waffenfan, soll regelmäßig zu Schießständen gefahren sein, Patronen gesammelt haben: „Wie soll jemand, der regelmäßig Schießen geht, nicht treffen, wenn er sechsmal auf jemanden zielt? Das ist unmöglich“, versucht Philipp seinen Mandanten zu entlasten.

Vorbild in der tschetschenischen Diaspora

profil spricht vor dem Gerichtssaal mit Kenan (Name geändert), einem alten Freund der beiden. Er ist, genauso wie Emir und Schamil, Tschetschene und in Brigittenau aufgewachsen, allerdings etwas jünger und kennt die Angeklagten schon seit Kindertagen. Den ganzen Prozesstag verbringt er mit Emirs Mutter. Er bringt ihr Wasser, unterhält sie in den langen Pausen während der Beratungsgespräche der Geschworenen. Den Hauptangeklagten beschreibt es als eine Art Vorbild, dem Bildung immer ein großes Anliegen war. „Als wir als Kinder draußen gespielt haben, ist er immer zu uns gekommen und hat gesagt, wir sollen in die Schule und lernen gehen“, erinnert er sich: „Irgendwann haben wir uns deswegen extra vor ihm versteckt. Aber dank seiner Überzeugungsarbeit bin ich auf die HTL gekommen.“

Nach vier Stunden Beratung fällen die acht Geschworenen schließlich ein Urteil: Der Hauptangeklagte Emir K. wurde wegen versuchten Mordes zu 14 Jahren Haft verurteilt, sein Freund Schamil G. hingegen freigesprochen. Die Urteile sind nicht rechtskräftig. Im Fall des Freispruchs von Schamil G. kann die Staatsanwaltschaft noch Einspruch erheben, im Fall von Emir K.s Verurteilung die Verteidigung. 

Natalia Anders

Natalia Anders

ist seit Juni 2023 Teil des Online-Ressorts und für Social Media zuständig.