Denkmalenthüllung Bahnhof Attnang-Puchheim: ÖBB-Chef Christian Kern, 
Bürgermeister Peter Groiß

Christian Rainer zur Befreiungsfeier des Mauthausen-Komitees Vöcklabruck

Christian Rainer zur Befreiungsfeier des Mauthausen-Komitees Vöcklabruck

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Sehr geehrte Damen und Herren!

Vielen Dank, dass ich heute zu Ihnen sprechen darf. Ich empfinde diese Einladung als Ehre für mich selbst, als eine Auszeichnung für die profil-Redaktion und als Ansporn für alle Journalisten des Landes, die im Sinne der Erinnerung arbeiten und gegen das Vergessen – und das oft zeit ihres Berufslebens. Über das Unaussprechliche zu sprechen und es damit aussprechbar zu machen, ist aber vor allem eine Verpflichtung, die uns die Generation vor meiner eigenen aufgeladen hat, und dieses Sprechen ist ein Teil unserer Verantwortung für alle Generationen nach uns.

Es gibt darüber hinaus persönliche Gründe, warum ich Ihre Einladung genau hierher, an den Bahnhof Attnang-Puchheim, und genau zu diesem Anlass, zur Befreiungsfeier des Mauthausen-Komitees Vöcklabruck, so gerne angenommen habe: Ich komme ja aus dieser Gegend – und ich bin ein Eisenbahner. Ich war Fahrschüler und fuhr acht Jahre lang jeden Morgen um 6 Uhr 39 von der Station Bahnhof Ebensee nach Gmunden, wo ich das Gymnasium besuchte. Diese lokale Bahnstrecke wird seit dem 19. Jahrhundert von Stainach-Irdning nach Attnang-Puchheim geführt. Auf jedem Waggon des ÖBB-Zuges hing ein blechernes Schild mit der Destination Attnang-Puchheim. Attnang-Puchheim ist für mich also Heimat, ein Teil der Jugend, ein Teil von mir selbst.

Ähnlich verhält es sich mit Vöcklabruck. Vöcklabruck, das war nach unserem kindlichen Dafürhalten die nächste Großstadt, urbaner als Gmunden, aber kleiner als Wels oder gar als Salzburg und Linz. Vöcklabruck, das ist auch ein Teil der Erinnerungswelten.

Anders jedoch die Bedeutung von Mauthausen. Ebensee, meine Heimatgemeinde, war ja der Ort eines Außenlagers von Mauthausen. Und so sehr wir Kinder eine vage Ahnung davon hatten, was der Straßenwegweiser „KZ-Friedhof“ bedeutete, der damals noch ein wenig versteckt irgendwo in der Marktgemeinde Ebensee aus dem Boden ragte, so sehr wir ahnten, was es mit dem ebenso verloren wirkenden steinernen Torbogen und der Aufschrift „Arbeit macht frei“ auf sich hatte, so wenig konnten wir etwas mit „Mauthausen“ anfangen.

Mauthausen, das war eine weit entfernte Ansiedelung jenseits der Landeshauptstadt, eine Örtlichkeit, auf die sich ein Pfeil der Geschichte richtete, eine Stadt, mit der es eine Bewandtnis hatte. Aber wir wussten nicht, warum. Wir wussten nicht um die herbeigewünschte Okkupation Österreichs anno 1938, nicht um den bejubelten Kriegsbeginn 1939, nicht um die Befreiung der Konzentrationslager und das Kriegsende in Europa in diesen Tagen vor 70 Jahren. Wir wussten nichts, was wir vergessen konnten. Wir wussten nicht genug, um verdrängen zu müssen.

Vor vier Jahren, im Jahr 2011, durfte ich in jenem Ebensee sprechen – bei der Gedenkfeier am Friedhof des ehemaligen Konzentrationslagers. In diesen wenigen Jahren – 2011 damals, 2015 jetzt – hat sich einiges verschoben: Unser aller Verhältnis zum Hitlerregime, das Verhältnis der Welt zum Nationalsozialismus haben sich leise, unbemerkt, aber maßgeblich geändert. Unser Verhältnis zum Genozid an Juden, Roma, Sinti, Ausländern, zur Ausrottung von Homosexuellen, Behinderten, Kommunisten, Andersdenkenden, unser Verhältnis zum Töten von Millionen fremder – und ja, auch eigener – Soldaten und Zivilisten in einem beispiellosen Angriffskrieg ist nicht mehr dasselbe, das es vor nur wenigen Jahren war.

Der Blick auf das größte Hinmorden in jener Geschichte, die wir als eigene Geschichte empfinden können, ist ein nochmals veränderter Blick geworden: Die Geschichte, die dieses Land über Jahrzehnte nicht als seine eigene Geschichte akzeptieren wollte, die Verantwortung und die Schuld, die Österreich schließlich akzeptieren musste, diese Geschichte hat nun begonnen, sich uns zu entwinden. Sie wird von unserer Lebensgeschichte zur Vergangenheit anderer.

70 Jahre seit 1945, das ist eine ganze Lebensspanne, das ist kaum weniger als die Lebenserwartung eines Menschen ab seiner Schulzeit bis zu seinem Tod. Nach 70 Jahren, 76 Jahre nach Kriegsbeginn, gehen die letzten Zeitzeugen dahin. Opfer, Täter, Mitläufer, Beobachter, alle unmittelbar Betroffenen. In dieser Woche erzählt „profil“ zum Beispiel die unglaubliche Geschichte einer heute 95-jährigen Wienerin: Irma Schwager, Kommunistin, Jüdin und Widerstandskämpferin gegen die Nationalsozialisten im besetzten Frankreich. Der Titel dieser Coverstory: „Die letzte Zeugin“.

Vor vier Jahren sprach ich in Ebensee über meine Eltern, sie saßen selbst im Publikum an der Gedenkstätte: über meine Mutter, eine vertriebene Sudentendeutsche, über meinen Vater, einen kleinen Leutnant der deutschen Wehrmacht. Ich spannte den Bogen vom Schicksal meiner Eltern, vom Verdrängen der kollektiv zugefügten und der eigenen Traumata, einen Bogen zu meinen Zwillingstöchtern, zu meinen jüdischen Zwillingstöchtern, geboren von einer jüdischen Mutter, deren Eltern den Holocaust nur durch Zufall überlebt hatten. Ich sprach über diese eigenartige und doch alltägliche Konstellation in einer Familie.

Heute, nur vier Jahre später, könnten meine Eltern ihren inzwischen zwölfjährigen Enkelinnen nicht mehr erzählen, was in jenen dunkelsten Tagen Österreichs und Deutschlands geschehen ist, warum diese Geschehnisse durch die Großeltern nicht aufhaltbar waren – oder vielleicht doch kollektiv gebremst hätten werden können. Denn heute, vier Jahre später, leben meine Eltern im Altersheim in Ebensee. Meine Mutter hat in Demenz all ihr Sprachvermögen verloren; mein Vater verliert Woche um Woche ein Stück seiner Erinnerung.

Niemand wird meinen Kindern etwas über jene Jahre erzählen können, niemand wird sie warnen können, niemand wird ihnen ein abschreckendes oder ein gutes Beispiel sein können. Meine Kinder, alle Kinder sind nun im Ringen um ein sinnhaftes und sinnvolles Geschichtsbild auf sich selbst gestellt. Sie sind alleine. Wir sind alleine.

70 Jahre haben wir gelebt mit dem Verdrängen und mit dem Leugnen, mit diesen beiden Nichtverbindungen, die der Mensch zu seiner Vergangenheit pflegen kann. Jetzt tritt das Vergessen machtvoll als dritte und gefährlichere Geisteskraft zu den anderen zweien, will sie beiseite drängen, will sie ablösen. Wenn keiner mehr lebt, der Teil der Geschichte war, wenn niemand mehr sich und die Nachgeborenen erinnern kann, dann verlieren Verdrängen und Leugnen ihre Sinnhaftigkeit, ihren Bedeutungsinhalt. Dann – jetzt – wird durch das Vergessen das Nichtwissen zum Normalzustand.

Niemals vergessen! Warum eigentlich? Weil nur das Erinnern und die dokumentierten Erinnerungen der Opfer, der Täter, der Statisten die Wiederholung der Geschichte in ihren kleinen Webfehlern und in ihren großen Katastrophen verhindern können. Wer weiß, was geschah, wem erzählt wurde, wozu der Mensch fähig ist, der kann das Geschehene zwar nicht ungeschehen machen. Aber er kann – und sie kann – dem neuerlichen Geschehen mit Wissen um die Logik des Geschehenen entgegentreten.

Er kann den wachsenden Islamismus hier und in muslimischen Ländern richtig – und mahnend – deuten. Auch den ewig schwelenden Antisemitismus. Er kann die Gefahren abwiegen, die von autoritären und die Menschenrechte missachtenden Regierungen innerhalb der EU ausgehen – wie zum Beispiel in Ungarn. Er kann den bellizistischen Nationalismus in Russland als solchen warnend herausstellen. Und: Er kann einordnen, was es bedeutet, wenn sich jene – ja, diese – rechte Massenbewegung in Österreich zum Schein von ihrer dumpfen ewiggestrigen Ideologie verabschiedet und sich zu einer modernen, ausgrenzenden Aggressionspartei entwickelt.

Niemals vergessen, damit nichts sich wiederholt! Jetzt erst – 2015, nach 70 Jahren – muss dieser Satz zum stabilen und nun zum alleinigen Fundament der Zukunft aller Generationen werden.

Ich danke Ihnen.