Menschen aus der Umgebung haben Kerzen und Blumen am Wegrand abgelegt.
Reportage

Ein Raubüberfall mit Folgen: Der Kinderwagen war leer

Der Raubüberfall, bei dem ein Bub zu Tode kam, hinterlässt eine Gemeinde, die trauert und rätselt. Ein Besuch im Heimatort St. Johann in Tirol.

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von Jana Unterrainer

Am Tatort liegen Grabkerzen mit Engelsmotiven, Rosen, Geranien, Sonnenblumen, ein Schnuller und ein Kuscheltier. Hier, am Wegesrand der Ortspromenade von St. Johann in Tirol, hat sich vergangene Woche in der Nacht von Samstag auf Sonntag ein sechsjähriger Bub offenbar selbstständig aus seinem Kinderwagen herausgearbeitet und ist die Böschung hinunter zur Kitzbüheler Ache gekraxelt.

Der Vater, ein 37-jähriger Bewegungstherapeut, war mit seinem sechsjährigen Sohn auf der Redford-Promenade in der knapp 10.000 Einwohner zählenden Gemeinde unterwegs gewesen. Es war gegen vier Uhr morgens, stockdunkel, und es regnete leicht, als der Mann nach einem wuchtigen Schlag in den Nacken bewusstlos in die Knie ging.

Die Polizei geht von einem Raubüberfall aus. Die Tatwaffe, so stellte sich später heraus, war eine weiße Glasflasche. Handy und Geldbörse wurden wenige Meter entfernt gefunden. Viel Geld hatte der Mann nicht dabeigehabt.

Warum schiebt ein Vater um vier Uhr früh seinen geistig und körperlich beeinträchtigten Sohn in einem Kinderwagen spazieren? Tat er das öfter? Wollte er das Kind durch frische Luft und Schaukelbewegungen beruhigen? War er selbst schlaflos, bedrückte ihn etwas? Vor allem aber: Wer ist so ruchlos, einen Familienvater, der einen Kinderwagen schiebt, dermaßen brutal zu überfallen, ihn bewusstlos zu schlagen und das Kind sich selbst zu überlassen?

Sonntag früh, gegen 5.30 Uhr, wird der Polizeiposten von St. Johann benachrichtigt. Ein Passant hat den bewusstlosen Mann gefunden, ein leerer Kinderwagen wenige Schritte entfernt. Eine Stunde später findet man 600 Meter flussabwärts den Leichnam eines Kindes. Der kleine Körper liegt auf einer Sandbank.

Michael Schenk, einer von zwei Männern der Freiwilligen Feuerwehr des Ortes, war bei der Bergung dabei. Zu solchen Einsätzen gehen sie immer zu zweit, wegen der psychischen Belastung. Wie es ihm am Tag danach geht? "Die Betroffenheit ist groß, aber wir sind mittlerweile von den zahlreichen Zugunglücken abgehärtet." Was soll er auch sagen?

In letzter Zeit sind in meinem Heimatort einige schlimme Dinge passiert. Anfang August geriet eine Urlauberfamilie zwischen zwei geschlossene Bahnschranken – der Familienvater und das jüngste Kind starben.

Und am vorvergangenen Freitag kam es in St. Johann zu einer Verfolgungsjagd, bei der die örtliche Polizei jugendliche Autodiebe stoppte und dabei einen 14-Jährigen anschossen. Es ist, als zöge ein Unglück das nächste an. Und Medienleute mit Video-Kameras, Mikrofonen, Stativen und Handys. Die Menschen hier sind das nicht gewöhnt. "Die Berichterstattung in den Medien hat mich am meisten aufgeregt. Auch im 'Krone'-Forum geht es ziemlich zu. Immer diese Vorverurteilungen", sagt eine Ortsansässige.

Rund um das Ortszentrum führt, entlang zweier Flüsse, die Redford-Promenade, benannt nach der amerikanischen Partnerstadt. Sie läuft auf einen uneinsehbaren Winkel zu, den sogenannter "Achen Spitz", wo die Fieberbrunner Ache in die Kitzbühler Ache fließt. Um die Flussmündung ist ein Park angelegt. In den angrenzenden Wiesen stehen Obstbäume, tagsüber grasen Pferde. Das erste Herbstlaub liegt im Gras.

Auf der Sandbank in der Flussmündung lag das Kind. In diesen Tagen trifft man sich hier zum Reden. Ein Bewohner, der seinen Hund ausführt, macht sich große Sorgen: "Der Täter wird ein Phantom bleiben, weil sie null Anhaltspunkt haben." Er kennt die Familie, erzählt, sie seien oft mit dem Kleinen im Morgengrauen spazieren gegangen. Das habe das Kind beruhigt. Alle hätten das gewusst.

Im Ort spricht man sehr anerkennend über die Familie. Der Kleine litt unter einem seltenen Gendefekt, brauchte Betreuung rund um die Uhr. Die Familie handelte das tapfer.

Die Familie des Kindes setzte sich für die Erforschung und Therapie des Gendefekts ein, an dem ihr Sohn gelitten hatte. Prominente spendeten für das Kind und hielten Charity-Events in seinem Namen ab. Die Eltern wollten in der Öffentlichkeit Bewusstsein für die Behinderung ihres Sohnes schaffen.

Wir vermissen dein Lachen – das schönste Lachen der Welt. Wir hatten noch so viel vor mit dir. Wir vermissen dich!" 

Schreibt die Familie des toten Buben auf Facebook.

Auf Facebook schreiben sie: "Wir vermissen dein Lachen-das schönste Lachen der Welt. Leon, wir hatten noch so viel vor mit dir. Wir vermissen dich!" Zahlreiche Fotos zeugen von einem glücklichen Familienleben.

Es scheint mir in diesen Tagen, als habe die ganze Gemeinde ein Kind verloren. Das Unglück des Kindes hat sie einander nähergebracht.

Schon als der Bub auf die Welt kam, gab es Anzeichen, dass etwas nicht stimmte, doch die Ärzte tappten lange im Dunkeln. Das Kind litt unter schlimmen Schlafstörungen, wurde nachts oft bis zu 20 Mal wach und schrie. Nächtliche Spaziergänge zur Beruhigung des Jungen gehörten zum Alltag der Tiroler Familie.

Tagsüber sind hier viele Menschen unterwegs. Radfahrer, Jogger, Spaziergänger. Nachts wird der Abschnitt gemieden. Frauen fühlen sich hier im Dunkeln oft nicht sicher. Jugendlichen wird nachgesagt, hier allerlei Verbotenes zu tun. Gebüsch und Hecken bieten gute Verstecke.

"Ich habe ein ungutes Gefühl. Ich kann nicht glauben, dass in so einer kleinen Stadt so etwas passieren kann", sagt Daniela, eine Zugereiste.

Drei ältere St. Johanner sitzen auf einer Bank. Der Mann will dem offiziellen Tathergang nicht ganz glauben und spekuliert:

"Die Geschichte mit der Flasche ist für mich suspekt. Mit einer Bierflasche schafft man das nicht. Das muss eine Sektflasche mit dickem Boden gewesen sein."

Eine vorbeikommende Oma mit Kinderwagen widerspricht und mahnt zur Vorsicht: "Ich weiß, was die Familie für ihre Kinder gemacht hat. Ich verstehe, dass der Vater noch nicht reden kann. Ich könnte es auch nicht." Vielleicht erfahre man bald mehr.

Ein Paar im mittleren Alter hat gerade etwas an der Gedenkstätte abgelegt. Aber sie wollen ihre Trauer nicht in der Öffentlichkeit ausbreiten.

Weniger schick, dafür aber authentischer als seine große Promi-Schwester Kitzbühel, blieb St. Johann lange vom Glamour-Tourismus verschont. Das hat sich in den vergangenen Jahren geändert. Der Blick auf den Wilden Kaiser prägt den Ort. Hochglanzanzeigen in den Schaufenstern der Maklerbüros bieten Luxus-Chalets zu siebenstelligen Kaufpreisen an. Für die Landtagswahlen bringt sich die Opposition mit dem Slogan "Endlich Ausverkauf der Heimat stoppen" in Stellung.

Familie Krüger aus Berlin kommt regelmäßig nach St. Johann, um ihre Tochter zu besuchen. Frau Krüger findet das Verbrechen "irgendwie mysteriös": Die Geschichte passt nicht so wirklich zusammen. Gerade in St. Johann – einem ruhigen, idyllischen Ort. Hier passieren doch normalerweise andere Unglücke: Vermisste Wanderer, Lawinen im Winter aber solche Geschichten? Die passen nicht hierher."

Ein Gang über den Hauptplatz. Bürgermeister Stefan Seiwald will sich nicht äußern. "Aus Gründen der Pietät", wie er sagt.

Bei einem Imbiss sitzen zwei junge Männer. Kevin erzählt von Problemen mit der Kriminalität im Ort: "Gerade am Abend würde ich derzeit aufpassen. Vor Kurzem wurde jemand ausgeraubt und zusammengeschlagen. Ich weiß nicht, ob es da einen Zusammenhang gibt."

Zum Täter, der den Raubüberfall beging, fehlen bisher jegliche Anhaltspunkte.

Die Polizei konnte mittlerweile den überfallenen Vater des Kindes befragen. Doch das hat offenbar zu keinen neuen Erkenntnissen geführt. Man untersucht die Fingerabdrücke an der Glasflasche. Das Obduktionsergebnis für den Buben ergab Ertrinken als Todesursache – ohne zusätzliche Gewalteinwirkung. Die Ermittlungsbehörden hoffen auf weitere Spurenauswertungen des Tatortes. Die Polizei bittet die Bevölkerung um Hinweise

Es fühlt sich merkwürdig an, diesem Ort, an dem ich meine Jugend verbracht habe, unter diesen Umständen plötzlich wieder so nahe zu kommen. Die Entfremdung ist spürbar-es wird wohl nie mehr dasselbe sein. Die Unbeschwertheit der Kindheit – Spaß am Wasser, Lagerfeuer mit Freunden –, all das gibt es nicht mehr.

Auch die Schriftstellerin Elisabeth R. Hager ist in St. Johann aufgewachsen. "Wenn sich an einem so idyllischen Ort Tragödien ereignen, sind die öffentliche Erregung und das mediale Interesse sehr groß", sagt sie. "Dabei unterscheiden sich die Menschen in diesem Talkessel nicht grundlegend von denen, die anderswo leben. Sie sind genauso fehlbar, genauso liebenswert und genauso verletzlich wie überall sonst."

In den Kaffeehäusern, wo die Einheimischen beisammensitzen, klingt das in diesen Tagen anders. Immer öfter lautet die Frage: "War es ein Auswärtiger?"

JANA UNTERRAINER ging in St. Johann in Tirol zur Schule. Sie lebt mittlerweile in Wien und kommt nur mehr gelegentlich zu Besuch.