Die ruhmlosen Sieben

Europa. Künftige Krisen sind vorgezeichnet

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Es gehört zu den seltsamen Talenten der Europäischen Union, immer dann positiv zu überraschen, wenn ihr im Grunde niemand mehr etwas zutraut. Donnerstag vergangener Woche geschah das Unerwartete: Die heillos zerstrittenen Spitzen der europäischen Politik fanden auf dem EU-Gipfel zu einem Kompromiss, der sogar den Euro-Apokalyptikern Res­pekt abverlangte. Die maroden Staaten des Südens sollen für ihre Kredite deutlich geringere Zinsen zahlen als bisher. Die Privatgläubiger der hellenischen Schuldenrepublik wirken – was vor allem die Deutschen forderten – bei der Umschuldung Griechenlands ein wenig mit. Im ­Gegenzug beschloss der Gipfel den Ausbau des EU-Schutzschirms zum Embryo eines Europäischen Währungsfonds, der Anleihen kaufen und auflegen kann. Griechenland ist jedenfalls – bis auf Weiteres – gerettet. Das ist der Einstieg in die Transferunion, frohlocken die Europa-Fans. Und auch die Börsen feiern: Der Gipfel beflügelt die Kurse, der Euro schießt in die Höhe. Und selbst nach Anleihen der Südländer besteht wieder Nachfrage – die Zinsen fallen.

Alles wieder im Lot im Euroland? Natürlich nicht. Niemand kann ausschließen, dass das nur ein Strohfeuer bleibt, dass demnächst wieder Griechenland unmittelbar vor der Pleite steht und die anderen schwachen Länder der EU ansteckt. Vor allem aber ist der Verdacht nicht ausgeräumt, dass trotz der jetzigen Einigung das Personal der europäischen Politik den Herausforderungen der Eurokrise tatsächlich nicht gewachsen ist.
Ihre bisherige Unfähigkeit, mit dem Griechenland-Problem fertig zu werden, lässt für die Zukunft nichts Gutes erwarten. Hätte Europa vor eineinhalb Jahren entschlossen gehandelt und in einem Deal Athen im Austausch für radikale Reformen langfristige Finanzgaran­tien gegeben – die Eurokrise wäre gar nicht ausgebrochen. Zumindest wäre sie eingedämmt ­worden.

Aber da verhinderte der nationale Egoismus der europäischen Regierungen – allen voran jener Deutschlands – eine schnelle politische Lösung. Das Wort der europäischen Solidarität kam der Mehrheit der führenden EU-Politiker nicht über die Lippen – nicht zuletzt weil sie sich vor ihren Völkern fürchteten. Sie gaben in Hinblick auf bevorstehende Wahlen den Stimmungen nach, anstatt zu führen. Sie „tanzen wie Betrunkene am Rande des Abgrunds“, schreibt der britische Historiker Timothy Garton Ash. Das machte die Märkte immer nervöser. Und ist letztlich der Hauptgrund, warum die gemeinsame Währung nicht mehr als stabil und zukunftsträchtig angesehen wird.

Nirgendwo hat aber das populistische Zögern, die demonstrative Unentschlossenheit den führenden europäischen Politikern etwas eingebracht. Im Gegenteil, sie verloren zunehmend das Vertrauen der Bevölkerung. Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg waren sie – welcher Couleur auch immer – unbeliebter als jetzt. Die Sarkozys, Merkels, Berlusconis dieses Kontinents sind Auslaufmodelle.

Der jüngste Erfolg in Brüssel kann es nicht verschleiern: Eine schwache Truppe ist da am Werk, eine Truppe, die nicht den politischen Willen aufbringt, das Notwendige zu tun: den politischen Überbau zu schaffen, den eine gemeinsame Währung braucht. Für den großen Integrationsschub bringen diese Leute die Kraft nicht auf.

Die einzige Hoffnung für Europa besteht ­darin, dass der „stumme Zwang der Ökonomie“, wie Karl Marx es einst formulierte, die europäischen ­Politiker dazu bringt, das längst Überfällige zu vollziehen. Hier ein kleiner Überblick über die Hauptakteure des europäischen Endlosdramas.

Die mächtige Bremserin
Angela Merkel, deutsche Kanzlerin

Angela Merkel „zerstört mir mein Europa“. Altkanzler Helmut Kohl dementiert, diesen Satz je gesagt zu haben. Aber zu ihm passt der Ausspruch. Er ist enttäuscht über seine Nachnachfolgerin. Die konservative Regierungschefin des größten und stärksten EU-Lands hat Kohls Europakurs, der auch von Gerhard Schröder fortgesetzt worden war, verlassen und verfolgt nun eine Politik des nationalen Wirtschaftsegoismus. Noch zu Anfang ihrer Kanzlerschaft als „Mrs. Europa“ gefeiert, stand Merkel seit der ­Krise 2008/2009 immer an vorderster Front, als es ­darum ging, gemeinsames europäisches Handeln zu verhindern. Schon das europäische Stimuluspaket wollte Merkel nur national geschnürt sehen. Und bei der Rettung der Griechen erwies sie sich als die größte Bremserin unter den Staats- und Regierungschefs. Ihre Devise lautete: „Den hart arbeitenden deutschen Steuerzahlern kann man nicht zumuten, den faulen Südländern aus der Patsche zu helfen.“ Letztlich musste sie aber stets nachgeben: „Immer wenn Angela Merkel in der Eurokrise etwas abgelehnt hat, ist es hinterher doch so gekommen“, spottete kürzlich der Berliner Ökonom Henrik Enderlein. So auch jetzt. Merkel musste der Bildung einer Art von Europäischem Währungsfonds zustimmen. Das Volk hat ihr den Wirtschaftspopulismus auch nicht gedankt: Ihre Sympathiewerte sind im Keller. Und das in einer Zeit, in der die Wirtschaft blüht und so wenige Deutsche ohne Arbeit sind wie seit zehn Jahren nicht mehr. Die Leute haben offenbar das Gefühl, „Mutti Angela“ weiß selbst nicht mehr, wohin die deutsche Reise geht. Dabei hätte sie weit mehr Spielraum für europäische Politik als andere EU-Regierungschefs: ­Merkel hat es in der Opposition nicht mit Rechtspopulisten, sondern mit explizit proeuropäischen Sozialdemokraten und Grünen zu tun, die Projekte europäischer Solidarität nicht torpedieren würden.

Ein schwacher Typ
José Manuel Barroso, EU-Kommissionspräsident

Am Vorabend des EU-Gipfels Donnerstag vergangener Woche schlug EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso wieder einmal Alarm: Die Lage sei „sehr ernst“. Jetzt müssten große Antworten auf die EU-Krise gefunden werden. Sehr auf seine Mahnungen hörte man in den europäischen Staatskanzleien aber noch nie, steht Barroso doch einer Institution vor, die zunehmend an Einfluss verliert. Die Entscheidung des Jahres 2004, ihn, den konservativen Ex-Premier Portugals, an die Spitze der EU-Kommission zu stellen und 2008 wiederzuwählen, war Ausdruck des Bedeutungsverlusts dieses Gremiums: Barroso war der unprofilierteste und schwächste Kandidat für den Job. Der Tendenz der Renationalisierung der europäischen Politik konnte er auch nicht viel entgegensetzen. Der Präsident Europas spielt eine geringe Rolle beim EU-Krisenmanagement.

Das Schweigen des Theatralikers
Nicolas Sarkozy, französischer Präsident

Eine Woche bevor sich der französische Präsident gemeinsam mit Angela Merkel der Presse stellte und stolz den Griechenland-Kompromiss präsentierte, fand er noch – im internen Kreis – heftige Worte gegen die Deutschen: „Die Griechen tun, was sie können, und sie haben schon eine Menge erreicht. Die Einzigen, die es an Solidarität fehlen lassen, sind die Deutschen. Deren Egoismus ist kriminell, er verlängert die Krise.“ Der sonst so hyperaktive und auf Inszenierung bedachte Franzose war in den vergangenen Monaten seltsam schweigsam und inaktiv, wenn es um die europäische Krise ging. Sarkozy ist, wie seine Kollegin in Berlin, in seiner Heimat unten durch. Die Franzosen mögen ihn nicht mehr. Und so kümmert er sich eher um die französische Innenpolitik und engagiert sich lieber spektakulär in Nordafrika, als sich groß mit den Problemen der EU und des Euro herumzuschlagen. Offenbar soll im bevorstehenden Wahlkampf Europa nicht zum Thema werden. Damit ließe sich, so Sarkozys Kalkül, bei dem französischen Elektorat nicht punkten. Dabei zeigte der Mann im Élysée-Palast zu Beginn seiner Amtszeit durchaus integrationspolitische Verve: Ohne seine hektischen Aktivitäten hätte die EU nicht so schnell und effektiv mit Stimuluspaketen auf die Finanzkrise geantwortet. Und auch sonst: Im Unterschied zur deutschen Regierung hat Paris immer wieder für gemeinsames Handeln der EU-Staaten plädiert und sich für eine „europäische Wirtschaftsregierung“ eingesetzt. Und das spiegelt das Kräfteverhältnis wider. Im wirtschaftlich kraftvollen Deutschland kann man sich sehr wohl vorstellen, allein, ohne die EU, die Herausforderungen der kommenden Zeit zu bewältigen. Dort hat man wenig Angst vor den Märkten. Das ökonomisch viel schwächere Frankreich ist angreifbarer. Sarkozy ist zwar um vieles europafreundlicher als Angela Merkel. Gleichzeitig aber bei Weitem nicht so mächtig wie die deutsche Amtskollegin.

Der über seinen Schatten springt
Jean-Claude Trichet, Chef der EZB

Starke „Sager“ sind von Jean-Claude Trichet nicht überliefert. Und auf den ersten Blick ist der Chef der Europäischen Zentralbank eine blasse Figur. Man möge sich aber nicht täuschen. Er ist einer der wichtigsten Spieler im europäischen Machtpoker. Der konservative französische Finanzfachmann war, als er 2003 sein Amt antrat, genau das, was man sich von einem Zentralbanker erwartete: ein Sparmeister, der sich dar­auf konzentriert, den Euro stabil zu halten und keine Inflation zuzulassen. Im Verlauf der Wirtschaftskrise zeigte Trichet aber unerwartete Flexibilität. Der Inbegriff eines auf Solidität bedachten Finanzpolitikers sprang über seinen Schatten: Auf dem ersten Höhepunkt der Hellaskrise beschloss die EZB, marode griechische Staatsanleihen aufzukaufen und als Pfand der Banken zu akzeptieren. Damit hat Trichet widerwillig das Versagen der europäischen Politiker kompensiert. Er hätte diesen finanzpolitischen Tabubruch nicht begehen müssen, hätte die Politik mehr Mut gezeigt. Die Ramschanleihen im Portefeuille waren mit ein Grund dafür, warum sich Trichet (gemeinsam mit Nicolas Sarkozy) so lange gewehrt hat, einer griechischen Umschuldung zuzustimmen. Zudem trieb ihn die Angst, eine Teilentschuldung Griechenlands würde Schockwellen in Südeuropa auslösen. Die Zerstrittenheit der EU-Regierungen und die zunehmende Schwäche der Kommission machen aus der EZB die letzte Institution, die ernsthaft gesamteuropäische Interessen vertritt. Und sie hat das Geld. Trichet tritt im Herbst als EZB-Chef ab. Man erwartet, dass sein designierter Nachfolger, der Italiener Mario Draghi, die Politik des Franzosen fortsetzen wird.

Der angezählte Hofnarr
Silvio Berlusconi, italienischer Premierminister

Niemand rechnet ernsthaft damit, dass der einstige Barsänger Silvio Berlusconi bis zum Ende der Legislaturperiode im Frühjahr 2013 regieren wird. Bunga-Bunga-Affären rund um eine minderjährige Prostituierte namens Ruby, Mafia-­Beziehungen einiger seiner engsten Mitarbeiter und Korruptionsaffären machen dem alternden Regierungschef sichtlich zu schaffen. Kein europäischer Staatschef wagte es bislang, den Cavaliere mit dem Dauergrinser öffentlich zu kritisieren – aus verständlichen Gründen: Italien ist immer noch die drittstärkste Kraft der Eurozone, Mitglied der G8, der mächtigsten Wirtschaftsnationen weltweit. Das Überleben der Union hängt also auch zu einem wesentlichen Teil vom Stiefelstaat ab. Seit 17 Jahren regiert der 74-jährige Berlusconi das Land fast durchgehend – mit fatalen Folgen: Italien ist mit 1,85 Billionen Euro verschuldet, die Wirtschaft ist 2009 um zehn Prozent geschrumpft und 2010 kaum gewachsen: Eine überbordende Bürokratie, miserable Infrastruktur und mangelnde Innovationskraft machen Italien heute neben Portugal, Griechenland und Spanien zum „kranken Mann“ Europas. Und während Italiens und Europas Zukunft auf dem Spiel steht, muss sich der Regierungschef dieser Tage im Prozess um Ruby und einem weiteren wegen Korruption verantworten. Er scheint von der internationalen Bühne abgetreten zu sein. Wichtigster Ansprechpartner für die EU ist nun Wirtschaftsminister Giulio Tremonti. Er gilt als Garant dafür, dass Italien an seinem Sparkurs festhält, und ist obendrein sehr integrationsfreudig. Für Italien und Europa sind das gute Nachrichten.

Der Ritter von der traurigen Gestalt
Giorgos Papandreou, griechischer Premierminister

Fürs Erste ist der Staatsbankrott abgewendet. Giorgos Papandreou konnte ein radikales Sparpaket im Parlament durchboxen. Weitaus schwieriger wird es für den sozialistischen Premier allerdings, die Lohnkürzungen, Steuererhöhungen und die Zerschlagung des Staatssektors tatsächlich durchzusetzen. Papandreou, dem politische Beobachter Ehrlichkeit, Engagement und Reformwillen attestieren, wird nach der Sommerpause wie ein Ritter von der traurigen Gestalt gegen ganz Hellas ankämpfen: gegen die Bevölkerung, die sich von der politischen Klasse verraten fühlt; gegen die konservative Opposition, die Papandreou stürzen will; und gegen zahlreiche Parteifreunde, die ihre Unterstützer in den staatlichen Betrieben nicht verlieren wollen.

Das alte Schlachtross
Jean-Claude Juncker, Chef der Eurogruppe

Er ist dienstältester europäischer Regierungschef und Vorsitzender der Eurogruppe: Der luxemburgische Premier ist einer der renommiertesten Europapolitiker. Sein Wort hat nach wie vor viel Gewicht in Brüssel. Mit seinem Vorschlag der Einführung von Eurobonds hat er sich freilich nicht durchgesetzt. Aber das alte Schlachtross der EU-Politik hat einen nicht zu unterschätzenden Nachteil: Er steht einem Ministaat vor – und das in einer Zeit, in der die großen nationalen Mächte immer mehr das Sagen haben.