Christoph Columbus versus altes Europa

Europawahlen: Martin Schulz und Jean-Claude Juncker im Interview

Interview. Jean-Claude Juncker und Martin Schulz über ihre Pläne für das Amt des Kommissionspräsidenten

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Interviews: Otmar Lahodynsky

profil: Welche sind Ihre wichtigsten Vorhaben, falls Sie neuer ­Kommissionspräsident werden sollten?
Juncker: Ich werde mich auf Reformen zugunsten von Wachstum und Jobs konzentrieren. Weiters sollten wir eine gemeinsame Energieunion schaffen, auch um aus der Abhängigkeit von russischen Energielieferungen herauskommen. Dazu dürfen wir in unseren Anstrengungen, die erneuerbaren Energien auszubauen und die Energieeffizienz zu verbessern, nicht nachlassen. Meine dritte Priorität ist die Schaffung eines einheitlichen europäischen digitalen Binnenmarktes.
Schulz: Ich will die EU so verändern, dass sie das Leben der Leute besser macht. Meine erste Priorität ist es, Arbeitsplätze zu schaffen, gute Arbeitsplätze. Meine zweite Priorität: Ich möchte Industrie und Unternehmen, großen und kleinen, einen Anschub geben. Dafür will ich gezielte Investitionen, Forschung und Entwicklung und eine Re-Industrialisierungsstrategie kombinieren. Dritte Priorität: Ich will Gerechtigkeit wieder ins Zentrum unserer Politik rücken. Deshalb werde ich gegen Steuerbetrug und Steuerflucht kämpfen und das Bankensystem wieder sicher machen.

profil: Was unterscheidet Sie am meisten von Ihrem Herausforderer?
Juncker: Martin Schulz polarisiert, ich bin konsens- und lösungsorientiert. Außerdem habe ich langjährige Erfahrung als ehemaliger Premierminister und Eurogruppen-Chef. Wir Christdemokraten sind weit besser bei der Gestaltung der Schnittmenge zwischen Haushaltskonsolidierung und Reformen für Wachstum und Jobs. Die Sozialisten erinnern mich in ihrer Wirtschaftspolitik ein wenig an Christoph Columbus. Anfangs wissen sie nicht, wohin die Reise wirklich geht. Bei der Ankunft wissen sie nicht, wo sie sind. Und zahlen für diese Abenteuer muss letztlich der Steuerzahler. Man kann nicht jedes Jahr mehr Schulden machen und die nächste Generation belasten.
Schulz: Herr Juncker steht für das alte Europa, das hinter verschlossenen Türen und unter Ausschluss der Öffentlichkeit agiert. Ich will das genaue Gegenteil, ich werde die Fenster und Türen der Kommission öffnen, damit die Menschen wissen, wer was wo macht. Zudem war Herr Juncker viele Jahre Premierminister eines Steuerparadieses. Zu einer Steueroase gehört, dass es keine Steuertransparenz gibt. Er hat diese Situation nicht nur verteidigt, sondern alles verhindert und blockiert, was zur Steuergerechtigkeit und -transparenz in Europa beitragen würde. Ich werde mich dafür einsetzen, dass für Unternehmen und Reiche gilt, was für alle hart arbeitenden Menschen gilt, die ehrlich ihre Steuern zahlen, nämlich der einfache Grundsatz: Das Land des Gewinns ist das Land der Steuer.

profil: Was sollte für Wachstum und Jobs getan werden?
Juncker: Die Europäische Kommission kann selbst keine Arbeitsplätze schaffen, die Politik muss Grundvoraussetzungen dafür liefern. Wir müssen wachstumsorientierte Strukturreformen durchführen, damit auch wieder mehr investiert wird. Allein die Schaffung des digitalen Marktes und die Vollendung des Binnenmarktes bringen Europa einen Mehrwert von 500 Milliarden Euro in den nächsten fünf Jahren. Dies wird zu mehr Wachstum und mehr Jobs führen. Wir wollen vor allem die kleinen und mittleren Unternehmen fördern. Dort sind die meisten Arbeitsplätze in der EU. Aber auch die schleichende Entindustrialisierung Europas muss gestoppt werden.
Schulz: Erstens: Alle Maßnahmen der neuen Kommission müssen darauf ausgerichtet sein, mehr Wachstum, mehr Wettbewerbsfähigkeit und mehr Beschäftigung zu ermöglichen. Zweitens: Eines unserer größten Probleme, mit dem sich kleine und mittlere Unternehmen konfrontiert sehen, ist die Kreditklemme. Diese zu überwinden, ist unsere Aufgabe. Es ist ein Skandal, dass Banken von der EZB Geld für fast null Zinsen bekommen und es nicht an die Realwirtschaft weitergeben. Stattdessen nutzen sie es, um auf den Finanzmärkten damit zu spekulieren! Drittens sollten wir die Europäische Investitionsbank im Dienste des Mittelstandes zu einer europäischen Wachstumsbank weiterentwickeln.

profil: Sind Finanztransaktionssteuer und Bankenunion ausreichend im Kampf gegen Spekulation?
Juncker: Die Finanztransaktions­steuer soll erst am 1. Jänner 2016 in vorerst elf EU-Ländern eingeführt werden. Die Maßnahmen zur Bankenunion wurden vor Kurzem beschlossen. Es ist jetzt sichergestellt, dass nicht mehr immer nur Steuerzahler Banken retten müssen, sondern die Eigentümer der Bank.
Schulz: Das sind wichtige Maßnahmen, die jedoch nicht ausreichen. Unverantwortliche Spekulanten und Zocker haben Europa in die schlimmste Finanzkrise unseres Lebens gestürzt. Und wir erleben, dass das Casino längst wieder eröffnet ist und sich die Finanzmärkte von der Realwirtschaft abkoppeln. Deshalb: Europa muss die treibende Kraft für eine neue Ordnung der Finanzmärkte sein. Wir wollen gerade auch auf europäischer Ebene eine deutlichere Einschränkung riskanter Geschäfte und eine striktere Trennung von Investment- und Geschäftsbanking.

profil:
Wie schätzen Sie den künftigen Einfluss der Europagegner und Rechts-Parteien im Europa-Parlament ein?
Juncker: Ich rechne mit Zugewinnen dieser Gruppen. Man wird mit Europaskeptikern reden müssen, da sie ja nicht immer nur Unrecht haben. Aber mit rechtsextremen Parteien würde ich weder verhandeln noch Koalitionen eingehen. Und es darf diesen Parteien nicht gelingen, die europäischen Institutionen lahmzulegen. Außerdem gilt: Wer Populisten wählt, wählt leere Sätze.
Schulz: Diese Parteien haben für alles einen Sündenbock, aber für nichts eine Lösung. Sie versuchen den Menschen einfache Lösungen für komplizierte Probleme zu verkaufen. Durch platte Parolen wie „Grenzen hoch“ oder „Freizügigkeit einschränken“ wird aber kein einziger Arbeitsplatz in Österreich geschaffen. Im Gegenteil. „Raus aus dem Euro“ sagt sich leicht. Die Folgen wären aber katastrophal.

profil: Was soll die EU im Konflikt um die Ukraine tun?
Juncker: Falls Russlands Regierung die Lage weiter eskalieren lässt, müssen wir die dritte Stufe der Sanktionen auslösen. Das wird für die Mitgliedsländer unterschiedliche Auswirkungen haben, je nach Anteil des Handels mit Russland. Da müssen wir die innereuropäische Solidarität aktivieren, damit manche Länder darunter nicht mehr leiden als andere. Aber ich warne vor jeder weiteren Eskalation. Krieg ist keine Lösung. Es gibt schon zu viele Soldatenfriedhöfe in Europa.
Schulz: Das Infragestellen der territorialen Integrität der Ukraine oder weiterer Regionen würde die Krise verschärfen. Dann wären weitere Wirtschaftssanktionen unausweichlich. Sie umfassen drei Punkte: Stopp von Energielieferungen Russlands an uns, zweitens keine europäischen Investitionen mehr in Russland, drittens das Einfrieren russischen Kapitals in Europa. Das würde die Russen hart treffen und hätte Rückwirkungen auf uns selbst. Haben wir daran Interesse? Ich glaube: nein.