Georg Hoffmann-Ostenhof

Georg Hoffmann-Ostenhof Gesetz der Straße

Gesetz der Straße

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Der Geist der Revolte hat seit Anfang des Vorjahrs die Welt erfasst. Begonnen hat es mit dem arabischen Frühling. Von diesem inspiriert, machten die jungen US-Revoluzzer von Occupy Wall Street Furore. Und sie fanden überall Nachahmer. Vor allem im Süden Europas waren vergangene Woche Millionen Menschen auf der Straße, um mit Streiks und Demonstrationen gegen den EU-Sparkurs zu protestieren. Erstmals handelt es sich dabei um eine vom Europäischen Gewerkschaftsbund koordinierte, grenzüberschreitende Großaktion. Aufstand in Südeuropa. Was aber können solche Revolten bewirken?

Die Arabellion war zweifellos erfolgreich. Was immer auch die weitere Entwicklung in den betroffenen Nahoststaaten brachte – gleich mehrere Diktatoren wurden gestürzt, und die politischen Koordinaten in der Region haben sich massiv verschoben.

Occupy Wall Street war eine vergleichsweise sehr überblickbare Bewegung. Und sie lebte nur wenige Monate. Aber sie erwies sich als überraschend kulturprägend. Mit ihrem Slogan „Wir sind die 99 Prozent“ war sie „Agenda Setter“. Sie drückte nicht zuletzt mit ihrer radikalen Rhetorik das aus, womit dann Barack Obama die Wahlen gewinnen sollte. Gemessen an ihrer Größe und kurzen Lebensdauer, war ­Occupy Wall Street also extrem effektiv.

Die anschwellenden Protestbewegungen in Europa, die sich nun zu synchronisieren beginnen, scheinen auf den ersten Blick jedoch kaum etwas ausrichten zu können. Die europäischen Politiker waren bisher nur wenig von der Wut und Empörung auf den Straßen von Athen, Rom, Lissabon und Madrid beeindruckt. Da zeigte man im besten Fall Mitgefühl mit den ins Elend gestürzten Massen – nicht ohne gleichzeitig hinzuzufügen: Die Politik des Gürtel-enger-Schnallens ist alternativlos. Der Schuldenberg muss weg. Die Märkte wollen es so. Basta.

Selbst der Sozialist François Hollande, der mit scharfer Kritik gegen die Sparpolitik von „Merkozy“ den Weg in den Élysée-Palast fand, reihte sich nur wenige Monate nach seinem Wahlsieg in die Front der Fiskalpaktierer und Schuldenbremser ein, gegen die er bis vor Kurzem noch gekämpft hatte.

Der Massenprotest ist zudem bisher auf die mediterrane EU-Region beschränkt. In den nördlicheren Ländern gab es maximal kleine Sympathiedemos und -streiks. Gerade in Ländern, in denen man die europäische Wirtschaftskrise nur aus Funk und Fernsehen kennt, wie in Deutschland oder bei uns, ist die Solidarität mit den malträtierten Griechen, Italienern, Spaniern und Portugiesen enden wollend.

Es sieht also ganz so aus, als ob deren Revolte gegen die europäischen Sparrezepte ein verständliches, aber letztlich sinnloses Aufbäumen gegen das Unvermeidliche wäre. Man sollte sich freilich nicht täuschen.

In dieser Bewegung steckt mehr Kraft, als man auf den ersten Blick annehmen würde. Zunächst hat sich das Meinungsklima geändert. Bis vor Kurzem zeigte man in den bisher von der Krise nur wenig betroffenen Ländern kaum Empathie mit den Südländern. Ihnen zu helfen ist höchst unpopulär. Jetzt sind freilich immer mehr Leute auch in unseren Breiten schockiert von den Berichten über Selbstmorde von Delogierten, über den Andrang bei den Suppenküchen in Portugal, Madrid und Athen. Solche verzweifelten Dritte-Welt-Verhältnisse in unserem so reichen Europa? Das wird zunehmend auch im europäischen Norden als moralischer Skandal empfunden.

Die Anti-Spar-Proteste werden nun auch immer mehr von der Wirklichkeit bestätigt. Das, was Nobelpreisträger wie Paul Krugman, Josef Stiglitz und viele andere Ökonomen immer schon vorausgesagt haben, dass nämlich in Krisenzeiten wie diesen eine forcierte Sparpolitik nur noch tiefer in die Misere führe, ist nun eingetreten. Je radikaler das Austeritäts-Programm umgesetzt wird, desto stärker schrumpft die Wirtschaft, steigen Arbeitslosenrate und Staatsverschuldung. Die zornige Anklage der Straße klingt immer mehr wie die klügsten ökonomischen Analysen.

Und plötzlich beginnt auch die europäische Politikerkaste zu merken, dass sie sich auf dem falschen Dampfer befindet: Die Eurozone als Ganzes hat bereits ein halbes Jahr Minus-Wachstum hinter sich. Und selbst die bisher so robuste deutsche Wirtschaft droht – so prognostizierten vergangene Woche die Experten – demnächst in die Rezession zu schlittern.

Es ist abzusehen: Wenn die Krise auch voll den reichen Norden Europas erfasst, wird sich die Protestbewegung verbreitern. Sie wird den ganzen Kontinent erfassen.

Ob das EU-Establishment das Zeug hat, das wirtschaftspolitische Steuer herumzureißen, ist ungewiss. Eins freilich ist sicher: Wenn bisher die Sparpolitik mit „Sachzwängen“ begründet wurde und damit bloß „die Märkte“ gemeint waren, dann hat sich mit der erstarkenden Anti-Spar-Revolte eine Kraft herausgebildet, die auch so etwas wie ein Sachzwang ist. Die Streikenden und Demonstrierenden sind ebenso viel Realität wie die Investoren, Ratingagenturen und Börsen – eine Wirklichkeit, die zu ignorieren sich bitter rächen würde: Soziale Explosionen wären die Folge. An den Gesetzen der Straße kommt niemand mehr vorbei.

Letztlich wird ein Ausgleich zwischen diesen beiden Realitäten – da die Märkte, dort die Menschen – gefunden werden müssen.

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