Georg Hoffmann-Ostenhof

Georg Hoffmann-Ostenhof Pariser Idiotie

Pariser Idiotie

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Am 9. Oktober 2006, kurz bevor jenes Gesetz erstmals im französischen Parlament eingebracht wurde, das die Leugnung oder Verharmlosung des Völkermords an den Armeniern im Jahr 1915 unter Strafe stellt, veröffentlichte Hrant Dink, der türkisch-armenische Herausgeber der Zeitung „Agos“ einen Artikel. Darin bezeichnete er das französische Vorhaben als „Idiotie.“ Er schrieb: „Wie bekannt, bin ich in der Türkei verurteilt worden, weil ich gesagt habe, dass der armenische Genozid stattgefunden hat. Das ist natürlich abzulehnen. Aber gleichzeitig kann ich nicht akzeptieren, dass jemandem in Frankreich möglicherweise der Prozess gemacht wird, weil er verneint, dass es den Völkermord an den Armeniern gegeben hat. Wenn das in Paris Gesetz wird, bin ich der Erste, der nach Frankreich aufbricht, um dieses zu brechen. Dann können wir dem Wettlauf zwischen dem türkischen Staat und der französischen Regierung zusehen, wer von beiden mich zuerst einsperrt.“

Endgültig beschlossen wurde dieses dann doch nicht schon im Jahr 2006, sondern erst jetzt: im Dezember 2011 in der Pariser Nationalversammlung und Anfang vergangener Woche im Senat. Ein Jahr Gefängnis und eine Geldstrafe von 45.000 Euro droht jedem, der in Frankreich den genozidalen Charakter der Massaker an den Armeniern in Zweifel zieht. Hrant Dink kann freilich nicht mehr, wie er vorhatte, nach Frankreich fahren, um sich verhaften zu lassen. Er wurde im Jänner 2007 von einem jungen türkischen Nationalisten mit der Begründung erschossen, er habe das „Türkentum beleidigt“. Es ist erwiesen, dass der Mörder von Hintermännern aus dem türkischen Staatsapparat ausgeschickt worden war.

Bei den etwa 500.000 Armeniern in der französischen Diaspora finden Dinks Worte von damals freilich nur wenig Widerhall. Im Gegenteil: Sie jubeln den französischen Abgeordneten zu. Und das ist nicht ganz unverständlich. Seit einem Jahrhundert kämpfen sie um die Anerkennung des Leids, das dem armenischen Volk damals beim Untergang des Osmanischen Reichs zugefügt wurde. Sie wollen, dass die Türkei, die sich nicht und nicht ihrer Vergangenheit stellen will, und dass die Welt, die lange die armenische Tragödie totgeschwiegen hat, die geschichtliche Tatsache endlich akzeptieren: dass zwischen einer halben und eineinhalb Million Armenier in Anatolien umgebracht und weitere Hunderttausende von dort, wo sie seit jeher gelebt hatten, vertrieben wurden. Jetzt ist die Anerkennung ihres furchtbaren Schicksals von Frankreich sogar noch strafrechtlich abgesichert. Die Armenier in Paris sind begeistert. In Ankara ist man aber empört: „Das ist ganz klar ein Massaker an der Meinungsfreiheit“, wütet Recep Erdogan. Frankreich betreibe mit dem Gesetz doch bloß ein wahltaktisches Manöver. Und der türkische Premier droht Paris mit politischen und ökonomischen Konsequenzen.

Nun ist der Regierung in Ankara nur schwerlich die ehrliche Sorge um die Meinungsfreiheit abzunehmen: Das türkische Recht verbietet – spiegelbildlich zum französischen Armenier-Gesetz – noch immer die Bezeichnung „Genozid“ für den Massenmord im Jahr 1915, und über hundert Journalisten sitzen unter fadenscheinigen Beschuldigungen im Gefängnis.

Dennoch hat Erdogan Recht. Immer vor Präsidentenwahlen fallen der Pariser Politik die Armenier ein. Das war 2001 so, als die französische Nationalversammlung entschied, dass das, was 1915 passierte, ein Völkermord war, dann 2006, als man das Verbotsgesetz einbrachte, und jetzt, da man es beschloss. Alle Parteien, die linken wie die rechten, machen bei diesem unwürdigen Spiel mit. Es ist offensichtlich: Es geht um die Stimmen der französischen Armenier. Und um die antitürkische Stimmung der Franzosen, die von den Parteien wahltaktisch bedient werden will. Und natürlich ist es ein grotesker Verstoß gegen die Meinungsfreiheit, wenn sich das französische Parlament zum Richter über geschichtliche Ereignisse – noch dazu in einem anderen Staat – aufspielt.

Das Gesetz ist zudem nicht exekutierbar: Will man wirklich die französischen Gefängnisse mit Tausenden im Land lebenden und arbeitenden Türken füllen, die ihr Geschichtsbild aus den Schulbüchern ihres Herkunftslands beziehen? Natürlich nicht. Hier wird bloß eine gefährliche symbolische Politik betrieben.

Die zuallererst Frankreich selbst beschädigt. Es kann doch nicht im nationalen Interesse liegen, sich die Türkei zu einem Erzfeind zu machen. Hat man in Paris denn vergessen, dass sich die kemalistische Staatsgründung einst die französische Trennung von Staat und Religion zum Vorbild genommen hat, dass das Land am Bosporus gerade deshalb jetzt so erfolgreich ist und – selbst unter dem Islamisten Erdogan – heute für Millionen von Muslimen in der arabischen Welt das attraktive Modell für einen modernen und säkularen Staat darstellt?Letztlich aber – und darauf hat Hrant Dink 2006 aufmerksam gemacht – erweist das französische Gesetz den Armeniern einen Bärendienst. Es stärkt die radikalen Nationalisten in der Türkei. Und sabotiert die in den vergangenen Jahren aufblühenden Initiativen der türkischen Zivilgesellschaft, sich mit den dunklen Seiten ihrer Vergangenheit zu konfrontieren.

Zu hoffen bleibt, dass die französischen Verfassungsrichter dieses idiotische Gesetz doch noch kippen.

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