Georg Hoffmann-Ostenhof

Georg Hoffmann-Ostenhof Vergesst 1683!

Vergesst 1683!

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Die Österreicher sollten doch endlich das „Trauma der Türkenbelagerung“ überwinden, sagte vor Kurzem der schwedische Außenminister Carl Bildt in einem profil-Interview. Er zog eine Parallele: Die Angst vor und der Hass auf Katholiken hatte einst im Dreißigjährigen Krieg die protestantischen Nordländer angetrieben. Und so wie sie dieses Trauma inzwischen längst verarbeitet hätten, so müssten dies jetzt die Österreicher und das übrige Europa mit ihrer „Angst vor dem Islam“ tun.

Mehr hat der alte Schwede nicht gebraucht. Als „Standard online“ über diese Passage im Interview berichtete, brach ein Sturm der Empörung los. In über 500 Postings alterierten sich die Internauten über die Frechheit, mit der Carl Bildt sich unterstehe, uns Ratschläge zu erteilen. Da tauchten viele dieser virtuellen Kommentatoren in die Tiefen der Geschichte ein, um den Schweden, die doch uns Katholiken dazumal im 17. Jahrhundert so furchtbar massakriert hätten, ganz allgemein das Recht abzusprechen, die österreichische Turkophobie zu kritisieren.

In der Flut der Postings war wie immer viel Unsinn und Obskurantismus. Aber die Vehemenz der Gefühle, die das Interview provoziert hat, zeigt deutlich: Da mag die Frage der möglichen Mitgliedschaft der Türkei und der Beziehungen Wiens zu Ankara aus dem offiziellen Diskurs weitgehend verschwunden sein – das Thema wühlt die österreichische Seele weiter auf.

Und sosehr die „türkische Frage“ unter der Oberfläche bei uns brodelt, so bleibt sie auch für ganz Europa eines der großen Probleme, obwohl es derzeit von anderen überdeckt ist. Ja, man kann sagen: Wie sich die EU gegenüber Ankara verhält, ist – neben der Mängel bei der Gründung der Währungsunion – einer der europäischen Sündenfälle.

Zunächst geht es um Anstand und Moral. Lange Jahre hatte man dem NATO-Mitglied Türkei den Beitritt zur EU versprochen. 2005 war es dann so weit: Das Land wurde offiziell Kandidat. Beitrittsverhandlungen wurden aufgenommen. Ankara begann unter der 2002 an die Macht gekommenen AKP-Regierung des Recep Erdogan die Türkei zu modernisieren und reformieren, wie es die EU wollte. Die Verhandlungen wurden aber mit fadenscheinigen Begründungen – etwa der Zypern-Frage – eingefroren. Und nicht nur das. Jetzt hieß es plötzlich: Statt Vollmitgliedschaft soll bloß eine „privilegierte Partnerschaft“ anvisiert werden.

Was die Türken verständlicherweise als feindselige Akte Europas empfinden, ist aber nicht nur im extremen Maße unanständig. Es wird jeden Tag deutlicher: Die schlechte Behandlung Ankaras kann nur als außerordentlich dumm bezeichnet werden.

„Erdogan ist wohl der weltweit erfolgreichste Politiker der vergangenen 15 Jahre“, schwärmt Carl Bildt im profil-Interview. In der Tat: Die einst krisengeschüttelte rückständige Türkei – man sprach in der Vergangenheit oft vom „kranken Mann am Bosporus“ – hat sich in bloß einer Dekade zum dynamischsten Land Europas und Umgebung mit beinahe chinesischen Wachstumsraten gemausert; zum ökonomischen Kraftwerk am östlichen Rand eines nicht gerade prosperierenden Kontinents.

Das politische Modell Türkei strahlt zudem, gerade auch seit dem arabischen Frühling, auf die ganze nahöstliche Region aus: als Inspiration für eine Zukunft, in der islamische Identität mit Demokratie und Säkularismus verbunden werden kann.

Schließlich hat sich die Türkei durch kluge Diplomatie zu einer starken Regionalmacht im Nahen Osten und in Zentralasien entwickelt, die trotz aller Widrigkeiten von ihrer Westorientierung nicht abgeht.

Wie verrückt die EU agiert, wenn sie Ankara permanent brüskiert, kam einem so recht erst wieder beim Wien-Besuch von Ahmet Davutoglu am Donnerstag vergangener Woche zu Bewusstsein. Der türkische Außenminister, ein Politologieprofessor, präsentierte sich den österreichischen Journalisten als höchst kultivierter und gewiefter Diplomat, der mit feiner Ironie auf einige „Blödheiten“ der europäischen Politik hinwies. Wie etwa auf die des Visum-Regimes.

Serben, Albaner, Mazedonier – um nur einige Völker zu nennen – können frei in den Schengen-Raum einreisen. Staatsbürger der Türkei aber, jenes Landes, dessen wirtschaftliche Beziehungen mit Europa immer intensiver und enger werden, müssen einen bürokratischen Hürdenlauf absolvieren, um in der EU ihren Geschäften nachzugehen oder Ferien zu machen. Vor einer Visa-Liberalisierung hätte jedenfalls die EU nichts zu befürchten, versichert Davutoglu: „In der jetzigen wirtschaftlichen Situation will kein Türke in die EU umziehen. Aber es gibt viele, die gerne als Touristen auch nach Wien kämen.“

Es ist nicht anzunehmen, dass eine österreichische Regierung demnächst einen protürkischen Schwenk vollziehen wird. Aber eines wäre schon denkbar: Wenn österreichische Kinder erstmals mit acht Jahren in der Schule mit Geschichte konfrontiert werden, dann ist das die Erzählung von den mordenden und brandschatzenden Türkenhorden, die einst Wien einnehmen und Europa islamisieren wollten. Könnte man das nicht ersatzlos aus dem Volksschul-Lehrplan streichen und erst in der Sekundarstufe – und da ein wenig objektiver – von der Türkenbelagerung im Jahr 1683 berichten?

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