Georg Hoffmann-Ostenhof

Georg Hoffmann-Ostenhof Zeitenwende

Zeitenwende

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Da mag der Frühling noch so strahlend und wärmend sein. Der kalte Winter kommt – nach dem Sommer und dem Herbst – dann doch. So ist es nun mal mit den Jahreszeiten. Und entgegen allen Hoffnungen schien diese eiserne Naturlogik vergangenes Jahr doch auch für die Politik zu gelten. Der arabische Frühling, der auch in anderen Regionen der Welt so manche schöne Blume sprießen ließ, wollte nicht andauern.

Da sind zwar die Tyrannen reihenweise gefallen, aber dann verdunkelte sich wieder der Himmel. In Tunesien scheint es zwar recht erfreulich weiterzugehen. In Ägypten aber dominieren wieder die Generäle auf der einen, die Muslimbrüder auf der andern Seite, und die jung-frischen Internetler, welche die Revolution gemacht haben, sind schwer in der Defensive. Der Befreiungskampf in Syrien, wo der Tyrann nicht und nicht abtreten will, wird immer er- und verbitterter. Und auch sonst ist es inzwischen recht winterlich: Die „Occupyer“, die weltweit den Mächtigen mit ihren Zeltstädten Angst gemacht haben, sind längst frierend nach Hause gegangen oder von der Polizei vertrieben worden. War das Frühlingserwachen des Jahres 2011 also bloß ein kurzes Zwischenspiel? Wahrscheinlich doch nicht. Die letzten zwei Dezemberwochen gaben klare Hinweise darauf, dass es sich bei der im Maghreb begonnenen und dann sich global verbreitenden Revolte nicht um bloß eine passagere Angelegenheit handelt, sondern – trotz Rückschlägen und Pausen – um den Ausdruck einer langfristigen Tendenz.

Die Welt hatte sich bereits darauf eingestellt, dass die Russen das nächste Jahrzehnt in der Friedhofsruhe der „gelenkten Demokratie“ Putins leben werden. Die Herrschaft von Zar Wladimir schien auf lange Zeit gesichert. Da war es jäh und völlig überraschend mit der Duldsamkeit des russischen Volks vorbei. Provoziert durch Wahlfälschungen gingen in der Weihnachtszeit über hunderttausend Moskowiter auf die Straße und riefen lautstark nach einem „Russland ohne Putin“. Sie hatten sich über das Internet verabredet. Dass ihr Wunsch demnächst in Erfüllung gehen könnte, ist nicht mehr völlig ausgeschlossen. Die bis vor Kurzem gängige Voraussage, das Land werde lange Jahre dumpf in halbdiktatorischen Verhältnissen vor sich hin dämmern, scheint sich jedenfalls als falsch zu erweisen.

Auch das Reich der Mitte ist in Bewegung. Aufregend sind die jüngsten Nachrichten aus Wukan, einem Dorf in der reichen Guangdong-Provinz, wo sich die Dörfler erhoben und ihre korrupte lokale KP-Führung vertrieben, die in Gemeinbesitz befindliches Land verhökert hatte und und dabei reich geworden war. Ganz China twittert über die Helden von Wukan, die sich auch durch harsche Repression nicht einschüchtern lassen. Und es handelt sich dabei nur um den spektakulärsten Fall. Überall im Land wehren sich Bauern gegen die Enteignung durch diebische Parteibonzen. Tendenz steigend. So stabil ist die Herrschaft der erfolgsverwöhnten kommunistischen Führung Chinas offenbar auch nicht.

Das Jahr 2011 hat eine Epoche der weltweiten Unruhe eingeläutet. Und noch eins wurde klar: Die Finanzkrise von 2008 war kein isoliertes Ereignis, das innerhalb von zwei, drei Jahren überwunden werden kann, wie so manche Regierung optimistisch angenommen hatte. Wir erleben offenbar eine tiefe und systemische Krise der gesamten Weltwirtschaft. Und wie immer sich die Ökonomie entwickeln wird, in den kommenden Jahren ist Austerität angesagt. Notgedrungen wird die Frage lauten: Sparen auf wessen Kosten?

Es ist nicht vermessen, auch für Europa und die USA den Anstieg von Verteilungskämpfen vorauszusagen. Die Sparprogramme werden – so wie bereits in Griechenland und Italien – nicht ohne Widerstand durchzusetzen sein. Und dieser wird noch durch das wachsende Misstrauen beflügelt, das die Menschen inzwischen fast überall gegenüber der etablierten Politik empfinden.

2012 wird ein Jahr der sozialen Konflikte. Wie es aussieht, verbinden sich dabei die neuen Bewegungen der Internet-Generation mit traditionellen Kampfformen. Das Gefühl der Empörung über die ungerechten Verhältnisse und die so abgehobene Politikerkaste kombiniert sich mit ganz konkreten Abwehraktionen gegen Attacken auf den Lebensstandard und auf die sozialen Sicherungssysteme.

Lenin hat einmal definiert: Eine revolutionäre Situation sei dann gegeben, „wenn die unten nicht mehr wollen und die oben nicht mehr können“. Das passt gut auf die arabische Welt. Umstürze haben da ja tatsächlich stattgefunden. Aber auch im entwickelten Westen sind die Herrschenden zunehmend ratlos und die Beherrschten zunehmend wütend. Revolutionen sind da zwar gewiss keine in Sicht. Aber sicher ist auch, dass wir uns in einer Wendezeit befinden. Ebenso klar zeichnet sich ab: Neben den Staatskanzleien und Regierungen einerseits und den Börsen und Banken andererseits – also neben der Politik und den Märkten – hat ein dritter Spieler an Bedeutung gewonnen: die Straße. Und die ist gescheiter denn je.
Auf Gutenbergs bewegliche Lettern folgten die Reformation und die Renaissance. Was folgt auf Internet, Facebook und Twitter? Wir wissen es nicht. Aber ein wenig frühlingshaft fühlt es sich doch an.

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