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Justizopfer Mourad Taleb: "Sie wollen es vor der ganzen Welt verheimlichen"

Ein Marokkaner saß fast vier Jahre zu Unrecht in polnischer Haft. Zuvor lebte er in Österreich. Über profil-Recherchen wurde nun Amnesty International auf den Fall aufmerksam.

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Von Thomas Hoisl

1400 Tage fehlen in Mourad Talebs Leben. 1400 Tage, in denen Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt wurde, Greta Thunberg erste Reden hielt und das Coronavirus die Welt auf den Kopf stellte. 1400 Tage, in denen Mourad Talebs Neffe geboren wurde, sein Vater daheim in Casablanca erkrankte und seine Frau in Wien die Scheidung einreichen wollte. Die Zeit zwischen September 2016 und Juni 2020 verlief für Morad Taleb wie im Wachkoma -er verbrachte sie durchgehend in einer Gefängniszelle im Süden Polens, größtenteils isoliert in Einzelhaft.


Heute steht fest: Taleb, ein 29-jähriger gebürtiger Marokkaner, verbrachte knapp vier Jahre zu Unrecht im Gefängnis - als angeblicher internationaler Terrorist.

Vor sechs Wochen, nach 45 Monaten Untersuchungshaft, Ermittlungen und Dutzenden Gerichtsterminen, verkündete Berufungsrichter Miroslaw Ziaja in Katowice den rechtskräftigen Freispruch: "Die Beweiswürdigung in diesem Fall lässt in keiner Weise zu, dass dem Angeklagten die Beteiligung an der kriminellen Vereinigung ISIS zugeschrieben werden kann", heißt es in der schriftlichen Urteilsbegründung (siehe Faksimile)."Es gibt keine Beweise, dass der Angeklagte ihr beigetreten ist oder für sie Tätigkeiten ausgeführt hat."

Bis heute hat die Öffentlichkeit von diesem spektakulären Justizirrtum mitten in Europa keine Notiz genommen. Im März 2018, als der polnische Staatsanwalt Pawel Leks Anklage gegen Mourad Taleb erhob, war das anders. Bei Taleb handle es sich um den "ersten IS-Terroristen auf polnischem Boden", sagte Leks damals vor Fernsehkameras. Der Marokkaner sei ein "Späher" des "Islamischen Staates", habe sogar für den Drahtzieher der Pariser Terroranschläge persönlich gearbeitet. Tagelang war die polnische Presse voll mit den Vorwürfen gegen Taleb, auch international wurde berichtet - von der Nachrichtenagentur Reuters bis zur "Kronen Zeitung". Nach Prozessstart aber verschwand der Fall aus den Medien. Der Freispruch Ende April war dann nur noch eine Randnotiz in polnischen Regionalblättern.

Was ist hier passiert? Wer ist dieser Mann mit der markanten Hornbrille? Warum wurde er zum Terroristen erklärt? Was verschlug ihn nach Polen? Und welche Rolle spielt Österreich in diesem fragwürdigen Kriminalfall? profil recherchierte die Geschichte von Mourad Taleb über viele Monate hinweg, konnte umfassende Gerichtsprotokolle und Ermittlungsakten lesen und Dutzende Gespräche mit Beteiligten führen. Mittlerweile wurde auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International auf den Fall aufmerksam.

Mourad Taleb ist noch immer kein freier Mann. Nach seinem Freispruch Ende April 2020 nahm ihn die polnische Fremdenpolizei in Gewahrsam. Seither befindet er sich in einem Schubhaftzentrum im ostpolnischen Przemysl. Von hier aus schildert er uns in stundenlangen Gesprächen über Skype seine Erlebnisse, sie decken sich im Wesentlichen mit den Erkenntnissen des Gerichtes in Katowice. "Es ist alles wie ein schlechter Film. Man hat mein Leben zerstört, man hat mir vier Jahre genommen, und noch immer bin ich eingesperrt", klagt Taleb. "Nun will man mich abschieben und so tun, als wäre das alles nie passiert. Man will mich wegwerfen wie Müll."

Die Geschichte von Mourad Taleb beginnt in Casablanca, wo er am 20. November 1990 zur Welt kam. Seine Eltern, Brahim und Zahra, waren in Fabriken des Industrieviertels Ain Seba beschäftigt. Für ihre Kinder wünschen sie sich gute Bildung und sozialen Aufstieg. Während Talebs Schwester Ilham eine Ausbildung als Pädagogin einschlug, machte Mourad eine Tourismuslehre, jobbte in Hotels, wurde ausgebildeter Koch. Doch unter Marokkos Jugend grassiert Arbeitslosigkeit, und den Teenager zog es in die Welt hinaus. "In Marokko kann man kein freies Leben führen; man darf nicht einmal eine Frau auf der Straße küssen", sagt Mourad. Gemeinsam mit einem Freund entschloss er sich, nach Europa auszuwandern. Im September 2014 bestiegen die beiden ein Flugzeug nach Istanbul, die Balkanroute begann sich gerade zu etablieren. In der türkisch-bulgarischen Grenzstadt Edirne, wo Tausende Migranten aus Afrika und dem Nahen Osten gestrandet waren, gab es kein Weiterkommen. Im Dezember 2014 gelang es Taleb und seinem Freund dann, per Schlepperboot von Izmir aus auf griechischen Boden zu kommen. Von da an weiter durch Serbien, Ungarn und nach Österreich.

Am 5. Februar 2015 beantragte Taleb in Traiskirchen Asyl und wurde nach ein paar Wochen in einem Quartier in der Wiener Nussdorfer Straße untergebracht. Er träumte davon, irgendwann ein eigenes Restaurant aufzumachen. "Wien war für mich wie eine zweite Mutter, es ist die beste Stadt der Welt", sagt er heute. Er begann Deutsch zu lernen, jobbte als Zeitungsverkäufer und Küchenhilfe. Und dann war da noch die Polin Katarzyna -sie hatte Taleb bereits vor Jahren während ihres Marokko-Urlaubs am Strand in Casablanca kennengelernt. "Mourad rief mich an. Er sagte, er sei in Österreich", erzählt sie. Nachdem Katarzyna ebenfalls nach Wien übersiedelt war, wurden die beiden ein Paar, zogen in eine gemeinsame Wohnung. Im März 2016 heirateten sie in Katarzynas Heimatstadt Rybnik. Talebs wackeliger Aufenthaltstitel in Polen war durch die Heirat mit einer EU-Bürgerin fortan gesichert. Im Sommer 2016 reisten sie nach Marokko, besuchten Talebs Familie. Was niemand ahnte: Mourad Taleb war da bereits ins Visier des polnischen Inlandsgeheimdienstes ABW geraten.



 



Nach dem Rückflug am 2. September 2016 nach Warschau änderte sich alles. Als das Paar einige Tage später in seine Wohnung nach Wien zurückwollte, erschienen plötzlich schwer bewaffnete Beamte an der Wohnungstür im polnischen Rybnik. Die ABW-Beamten durchforsteten die gesamte Unterkunft, nahmen Speichelproben und zückten einen "Expray"-Schnelltest für explosives Material. Auf Talebs Kleidung, so der unglaubliche Vorhalt, seien Mikrospuren von Sprengstoff zu finden, protokollierten die Beamten (siehe Faksimile). Die Männer nahmen Mourad Taleb mit, das junge Paar fiel aus allen Wolken. Bereits wenige Tage später widerlegte eine genaue Untersuchung des ABW-Forensikers Krzysztof Markiewicz die angeblichen Sprengstoffspuren: "Es konnte kein explosives Material auf der Kleidung festgestellt werden", schrieb der Experte an den zuständigen Staatsanwalt. Ein Verfahrensrichter hatte da bereits Untersuchungshaft über Mourad Taleb verhängt. "Mir war rasch klar, dass Mourad in ziemlichen Schwierigkeiten steckt", sagt Talebs Verteidiger Christoph Mlodzik. Der Vorhalt mit den Sprengstoffspuren habe den ABW-Ermittlern lediglich als "Türöffner" gedient, um Talebs Habseligkeiten untersuchen zu können. In den Vernehmungen sei bald klar geworden, dass es eigentlich der Facebook-Account des Marokkaners war, der die Geheimdienste auf Talebs Spur gebracht hatte.

Auf der Plattform war der 29-Jährige mit offensichtlichen Fake-Accounts befreundet, die von niemand Geringerem als Abdelhamid Abaaoud genutzt wurden - dem Chefplaner der Terroranschläge von Paris 2015. Die Profile waren von Bilal C. eingerichtet - einem algerischen Schmuggler, der später IS-Terroristen nach Europa lotste und der heute in Frankreich auf seinen Prozess wartet. Mit Bilal C. machte Mourad Taleb im Zuge seiner Überfahrt nach Griechenland zufällig Bekanntschaft. Sie befreundeten sich auf Facebook. Dem polnischen ABW wurden diese Spuren im Rahmen europaweiter Terrorermittlungen von ausländischen Partnerdiensten übermittelt. Während die Behörden in Österreich oder Frankreich nie ein Interesse an Mourad Taleb zeigten, fackelten die Polen nicht lange mit der Verhaftung.

In der Folge durchleuchteten die Ermittler Talebs gesamtes Leben. Über Rechtshilfeansuchen wurde seine Wohnung in Wien durchsucht, sein familiäres Umfeld bis nach Marokko zurückverfolgt und befragt. Doch abgesehen von den spärlichen Spuren in den sozialen Medien fand sich nichts, was den Bezug zum Terrornetzwerk weiter erhärtet hätte. Schließlich tauchte in einer Presseaussendung der polnischen Staatsanwaltschaft eine Meldung auf, die sich später als falsch erwies. Auf Talebs Handy seien Bombenbaupläne gefunden worden. So wurde die Anklageerhebung im März 2018 von der Nachrichtenagentur Reuters zitiert. Doch weder in der tatsächlichen schriftlichen Anklage, noch im Gerichtsverfahren samt Urteilsbegründung war von dem angeblich brisanten Beweis jemals die Rede. Die Bombenbaupläne waren nicht auf Talebs, sondern im Zuge der Batanclan-Ermittlungen auf einem anderen Handy gefunden worden. Dem Erstgericht in Katowice reichten die fragwürdigen Facebook-Freundschaften für ein Urteil aus: Mourad Taleb wurde im März 2019 zu drei Jahren und acht Monaten verurteilt. Ein Jahr später, in der zweiten Instanz, dann der Freispruch: Mourad Taleb habe zu allfälligen Mitgliedern des IS wie Bilal C. nur "oberflächlich" und "flüchtig" Kontakt gehabt. "Sie trafen sich auf Plätzen, wo sich die Flüchtlinge versammelten, sprachen über alltägliche Dinge, woher sie kamen, warum sie nach Europa wollen, wo man kostenlos essen kann, wie man die türkische Grenze überqueren kann", hieß es in der Urteilsbegründung. "Es gibt keine Beweise für die vom Gericht der ersten Instanz vertretene These, dass der Angeklagte mehr wusste."

"Die Umstände dieses Falls wundern uns nicht", sagt Julia Hall, Anwältin und Expertin für Counter-Terrorism bei Amnesty International, gegenüber profil. "Wir haben solche Verfahren bereits öfter gesehen." Hall, die für ihre Organisation etwa auch das Verfahren rund um Julian Assange beobachtet, wurde im Zuge der profil-Recherchen auf den Fall Mourad Taleb aufmerksam und konnte wesentliche Aktenteile einsehen. "Ich will nicht sagen, dass das gesamte Verfahren unfair war, aber er wurde von der polnischen Justiz ungerechtfertigt verfolgt und auf unfaire Weise angeklagt." Talebs Fall sei für Hall "exemplarisch" für ein "Zusammenwirken aus vage definierten Terrorismusparagrafen, Geheimdiensten, die außerhalb der Gerichtsbarkeit agieren, und Islamophobie innerhalb der Sicherheitsbehörden." Laut der Menschenrechtsexpertin sollte Österreich aktiv werden: "Die österreichische Bundesregierung sollte Mourad Taleb eine Aufenthaltserlaubnis erteilen. Sein Asylverfahren und sein Visum endeten, als er ungerechtfertigt im Gefängnis war. Er sollte auf den Status quo zurückgestellt werden, an dem er vor der Verhaftung war."

Es fällt Mourad Taleb nicht leicht, über die 1400 Tage zu sprechen, die hinter ihm liegen: In der Haft in vier verschiedenen Gefängnissen Südpolens hat er Angst, Gewalt und Rassismus erfahren. "Ich war zuvor niemals im Gefängnis, ich konnte anfangs ohne Tabletten nicht schlafen", sagt Taleb. Bereits nach wenigen Wochen sei es zu Übergriffen von Mitinsassen gekommen. Er sei verprügelt worden, weil er nicht für andere putzen wollte; man habe ihm ins Gesicht geschlagen und seine Brille zerbrochen, weil er beim Fernsehen zu den österreichischen und nicht zu den polnischen Skispringern hielt. Als einziger Araber sei er tagtäglich Mobbing ausgesetzt gewesen.

Im Hochsicherheitsgefängnis Raciborz sei er eineinhalb Jahre in Einzelhaft gesessen, habe nur ein einziges Kleidungsstück tragen dürfen -einen orangen Overall, wie man ihn aus den US-Gefangenenlagern kennt. Mindestens zwei Mal habe er einen Selbstmordversuch unternommen. Auf seinem Bauch sind Narben von Schnitten einer Rasierklinge sichtbar. In Isolationshaft habe er monatelang weder Fernsehen noch Lektüre bekommen. "Manchmal ist es wirklich so, dass ich alles ausblenden kann. Aber ich erinnere mich an jedes kleinste Detail vor der Haft."

Und der Mann, der eigentlich rechtskräftig freigesprochen wurde, verabschiedet sich vom Skype-Bildschirm und geht zurück in seine Zelle.