Den Sieg im Halbfinale gegen England bejubelten die Kroaten laut aber friedlich. Nach dem Sieg gegen REussland gab es allerdings Randale auf der Ottakringerstraße in Wien.

Mit Karo und Kirche: Kroaten in Österreich

Die Kroaten in Österreich gelten als gut integriert und als angenehme Mitbürger. Ausgerechnet der große Auftritt bei der Fußball-WM hat ihr Image nun etwas ramponiert. Wie viel Patriotismus ist gerade noch vertretbar

Drucken

Schriftgröße

Fernsehen könnte bequemer sein als hier, aber der Wert von Komfort wird ja oft überschätzt. Am Mittwochabend vergangener Woche geht es auf der Ottakringer Straße in Wien nicht in erster Linie um Gemütlichkeit: Gegen 22:00 Uhr drängt sich eine Menschentraube vor dem Café Styxx. Nur die etwas Größeren im Pulk haben eine Chance, durch die Glasscheiben auf die Fernsehgeräte im Inneren des Lokals zu sehen. Richtig gut ist die Sicht aber auch für sie nicht; irgendein Kopf oder Ellbogen, Mauervorsprung oder Kellnertablett ist immer im Weg. Ein paar Mutige versuchen, ins brechend volle Lokal zu kommen. Sie stranden im Eingangsbereich, von wo aus man entweder auf die linken zehn Zentimeter eines Fernsehers geradeaus oder auf die unteren 30 Zentimeter des Fernsehers rechts hinten schauen kann.

Egal. Wenn auf dem Bildschirm etwas Interessantes passiert, kriegt das auch so jeder mit. Plötzlich kommt aus dem Styxx und aus ein paar anderen Lokalen der Gegend ohrenbetäubendes Gebrüll. Einen halben Wimpernschlag später kapieren auch die Leute auf der Straße, dass es Zeit ist, laut zu werden. Kroatien hat gegen England ein Tor geschossen; in der 19. Minute der Verlängerung steht es 2:1. Eine Viertelstunde später ist die Sensation perfekt: Kroatien steht mit Frankreich im Finale der Fußball-Weltmeisterschaft, England muss heimfahren.

Und Österreich darf (oder muss, das ist Geschmackssache) mitfeiern. „Nichts gegen Zagreb, Split oder Dubrovnik, aber die schönste Stadt Kroatiens ist immer noch Wien“, schrieb die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vor ein paar Tagen. Der Autor übertreibt, aber nur ein bisschen: Mehr als 27.000 Menschen mit kroatischer Staatsbürgerschaft oder kroatischen Wurzeln leben in Wien, im gesamten Bundesgebiet sind es fast 92.000. Dazu kommen noch Kroaten aus Serbien oder Bosnien, die von der Statistik nicht als solche erfasst werden. Sie alle bejubelten in den vergangenen vier Wochen die Siege ihrer Mannschaft. Am Mittwoch gestalteten sich die Feierlichkeiten temperamentvoll und laut, aber friedlich.

Am Samstag davor war die Sache allerdings aus dem Ruder gelaufen: Nach dem Sieg Kroatiens gegen Russland kam es auf der Ottakringer Straße – vulgo Balkanmeile – zu gewalttätigen Ausschreitungen. Es flogen Fackeln, Böller und Glasflaschen. Vier Polizisten und zwei Passantinnen wurden verletzt. Bald darauf kursierten im Internet auch noch Fotos von (in Kroatien verbotenen) Fahnen des faschistischen Ustascha-Regimes und von jungen Männern, die ihre Hand anscheinend zum Hitlergruß hoben.

Österreich reagierte einigermaßen schockiert. Schließlich gelten die Kroaten als eine Gruppe von Zuwanderern, mit denen es vergleichsweise wenig Probleme gibt. Sind die netten, etwas raubeinigen, superkatholischen, anscheinend bestens integrierten Mitbürger vielleicht doch nicht so harmlos?

Dass Fußballfans gern über die Stränge schlagen, ist bekanntlich kein speziell kroatisches Phänomen. Auch wenn der SK Rapid auf den Lokalrivalen Austria Wien trifft, lässt sich der Frieden vor und nach dem Spiel meist nur mit erhöhter Polizeipräsenz halbwegs garantieren. Fußball kann starke Emotionen freisetzen, das macht einen großen Teil seines Zaubers aus. Eine Weltmeisterschaft ohne patriotische Aufwallungen könnte man sich ebenso gut sparen. Allerdings fiel in den vergangenen Wochen auf, dass vor allem die Kroaten und die (nach der Vorrunde ausgeschiedenen) Serben auf einem sehr schmalen Grat zwischen Patriotismus und Brachialnationalismus wandeln – und dabei öfter auf der falschen Seite abstürzen. Nach dem Sieg Kroatiens über Argentinien sangen etwa die kroatischen Kicker in der Kabine ein nationalistisches Lied der höchst umstrittenen kroatischen Band Thompson. Ein Video davon kursiert im Netz.

Auf der anderen Seite musste sich der serbische Tennisstar Novak Đoković von hochoffizieller Seite rüffeln lassen, weil er in einem Interview gesagt hatte, dass er sich für Kroatien den WM-Titel wünsche. Ein Politiker der regierenden serbischen Fortschrittspartei twitterte daraufhin: „Nur Idioten können Kroatien unterstützen. Novak, schäme dich.“

Über 20 Jahre sind vergangen, seit auf dem Balkan blutige Schlachten um Selbstbestimmung und nationale Zugehörigkeit geschlagen wurden. Wie es aussieht, sind die alten Wunden längst nicht verheilt. Oder machen sich nur ein paar Provokateure einen Spaß daraus, die Narben immer wieder aufzureißen?

Vedran Džihić ist gebürtiger Bosnier mit familiären Wurzeln auch in Kroatien und lebt seit vielen Jahren in Wien. Als Politologe befasst er sich beruflich mit den Konflikten in der alten Heimat. Seine Diagnose fällt pessimistisch aus: „Der Krieg wurde ganz und gar nicht aufgearbeitet. Jedes Land Ex-Jugoslawiens ist in der Selbstwahrnehmung ein Opfer. Über die eigenen Taten wird nicht gesprochen.“ Eine Versöhnung, wie es sie nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen Frankreich und Deutschland gab, hält Džihić nicht mehr für wahrscheinlich.

In Ländern wie Kroatien sei stattdessen eine Retraditionalisierung der Gesellschaft zu beobachten. „So etwas kann sich in der Diaspora noch stärker auswirken als im Land selbst.“ Unter den jungen Leuten, die auf der Ottakringer Straße Ustascha-Fahnen schwenkten, seien sicher viele, für die das nur eine Art Folklore darstelle, meint Džihić. „Aber einige wussten, was sie tun.“

Ganz allgemein kann es ziemlich ins Auge gehen, den ideologischen Status eines ganzen Landes anhand einzelner Zitate (und seien es solche von Regierungspolitikern) beurteilen zu wollen. Über Österreichs diverse Rechtsrucke in den vergangenen 20 Jahren wurde auch schon viel geschrieben – darunter eine Menge grober Unsinn. Man sollte es sich mit der Verurteilung der Kroaten also nicht zu einfach machen. Nachvollziehbare Gründe für den ausufernden Patriotismus gibt es nämlich auch: Das kleine Land mit der langen Adriaküste ist erst seit 1991 ein eigener Staat. Der lange ersehnten Unabhängigkeit folgte erst ein schrecklicher Krieg und danach die ernüchternde Erkenntnis, dass eigene Grenzen nicht automatisch glücklich machen. Kroatien steht wirtschaftlich schlecht da. Auch der EU-Beitritt 2013 vermochte daran bis jetzt nichts zu ändern. Leichter gemacht hat die EU bisher nur die Abwanderung junger Leute.

Seit der Volkszählung im Jahr 2001 ist die Einwohnerzahl um mehrere Hundertausend Menschen auf nicht einmal 4,2 Millionen gesunken. Bei Aktionen wie jener auf der Ottakringer Straße entlade sich der Frust über den Zustand daheim genauso wie die unerfüllte Sehnsucht nach einer heilen Welt, meint eine junge Wienerin, die als Siebenjährige mit ihrer Familie vor dem Krieg nach Wien geflohen war. Österreich bot damals Schutz, und dafür seien die Kroaten heute noch dankbar, sagt sie. Aber viele zerstörte Biografien ließen sich nicht mehr ganz kitten. „Meine Eltern sind Akademiker, aber es gelang ihnen nicht, hier etwas daraus zu machen. Meine Mutter arbeitet im Textilhandel, mein Vater bei einer Spedition.“

Slavko Ninić ist gebürtiger Kroate und Sänger bei der Wiener Tschuschenkapelle. Er lebt seit gut 40 Jahren in Österreich und definiert sich als politisch links. Trotzdem wird er ziemlich unrund, wenn man ihn auf die angeblich faschistischen Umtriebe seiner einstigen Landsleute anspricht. „Es gibt sensationsgeile Journalisten, die ein ganzes Volk diffamieren, nur weil ein paar Randalierer irgendeine Fahne hochhalten. Wenn heute in Kroatien eine faschistische Partei bei Wahlen kandidieren würde, bekäme sie null komma irgendwas Prozent.“ Das besondere Faible der Kroaten für die eigene Nationalflagge und einschlägiges Zubehör sei aus der Geschichte zu erklären. „Das ist ein junger Staat, der sich die Freiheit blutig erkämpfen musste.“ Dass es zwischen Serben und Kroaten mitunter nicht ganz einfach sei, muss Ninić zugeben – und erzählt zur Illustration einen Witz: „Ein Serbe und ein Kroate gehen gemeinsam auf der Straße und finden einen Beutel mit Gold. Der Serbe sagt: ‚Schön, das teilen wir brüderlich.‘ Darauf der Kroate: ‚Auf keinen Fall. Wir teilen nicht brüderlich, wir machen fifty-fifty.‘“

Slavko Ninic: „Kroatien ist ein junger Staat, der sich die Freiheit blutig erkämpfen musste.“

In Österreich fallen die Kroaten auch deshalb als Gruppe wenig auf, weil sie nicht zur Vereinsmeierei neigen. Man trifft einander in Lokalen, bei Kulturveranstaltungen oder in der Kirche Am Hof in Wien, die jeden Sonntag bis auf den letzten Platz gefüllt ist. Der Katholizismus dient nach wie vor als stärkstes Bindeglied der Community. Bei aller Heimatverbundenheit der Diaspora reichte die Energie bisher nicht, um Pflöcke einzuschlagen: Eine kroatische Schule gibt es nicht, der einzige zweisprachige Kindergarten in Wien wird von den Burgenlandkroaten betrieben.

Auch der Fußball ist traditionell ein Metier, das Kroaten zusammenbringt. Und es muss nicht immer die Nationalmannschaft sein. Seit 2006 gibt es im 10. Wiener Gemeindebezirk den Verein Cro-Vienna Florio. Angefangen habe man seinerzeit nur mit kroatischen Jugendlichen, erzählt Obmann Mato Stojanović. „Aber jetzt sind auch andere Kinder dabei, Türken und Serben zum Beispiel.“ Probleme gebe es damit selten. Die junge Generation sehe das alles viel entspannter, glaubt er. Stojanović selbst ist seit 1988 in Österreich. Die Staatsbürgerschaft hat er bisher nicht beantragt. „Ich bin aber der Einzige in der Familie. Meine Frau und die Kinder sind Österreicher.“

Ruža Stjepanović ist Schriftführerin des Fußballvereins und in Österreich geboren. Der Heimat ihrer Eltern fühle sie sich trotzdem sehr verbunden. „Wenn ich ehrlich bin, hab ich hier im Verein begonnen, weil ich das Gefühl hatte, dass ich sonst komplett verösterreichere“, erzählt sie. Ob das so schlimm wäre? Stjepanović grinst verlegen. „Das ist schwer zu erklären, ich weiß.“ Manchmal habe sie das Gefühl, nirgendwo richtig daheim zu sein und die Koordinaten zu verlieren. „Bei uns im Verein hatten wir schon kroatische Kinder, die besser Türkisch sprachen als Kroatisch.“

Die Vorkommnisse nach dem Russland-Match sind beiden peinlich. „Ich glaube, die meisten wissen gar nicht, was die Ustascha wirklich war“, meint Stojanović. Und wer könne schon genau sagen, ob es wirklich nur Kroaten waren, die randalierten.

Ruža Stjepanovic und Mato Stojanovic. "Manchmal habe ich das Gefühl, nirgendwo richtig daheim zu sein und die Koordinaten zu verlieren", sagt die Schriftführerein des Fußballvereins Cro-Vienna Florio.

Am Mittwochabend in der Ottakringer Straße wird schnell klar, dass Stojanović mit seinem Einwand recht haben könnte. Hier stehen nicht bloß Kroaten im Fan-Outfit vor den Lokalen. Das karierte Trikot und die Flagge sind an diesem Abend schlicht der übliche Dresscode. Welche Nationalität sich darunter verbirgt, müsste man in jedem Einzelfall herausfinden. Manchen Besucher hat vielleicht auch die Aussicht auf ein bisschen Randale hergelockt. Aber schon in der Pause des Spiels ist absehbar, dass daraus heute nichts wird. „Am Samstag war viel mehr los“, sagt ein junger Wiener, der mit großer Kroatien-Flagge vor dem Irish-Pub „The Green Bogey“ steht. Er klingt ein wenig enttäuscht.

Dass sich Kroatien-Fans ausgerechnet in einem irischen Pub ein dramatisches WM-Match gegen England ansehen, hat ausnahmsweise keinen weltpolitisch-revanchistischen Hintergrund. Der Besitzer des „Green Bogey“ ist Kroate. Um den Konflikt zwischen den Iren und den Engländern geht es in diesem Fall also nicht.

100 Meter entfernt kann man die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts allerdings umso schöner besichtigen. Vor dem Café Styxx feiert ein junger Mann besonders beschwingt den Sieg. Glückwünsche lehnt er ab. „Ich bin kein Kroate. Mir gefällt nur, dass einmal ein kleines Land ins Finale gekommen ist“, behauptet er. Erst später gibt er zu, dass er sich sozusagen ums Eck freut: Er ist Albaner und sehr happy, weil sich die Serben mutmaßlich über den Erfolg der Kroaten ärgern.

Auf der Balkanmeile wird es wohl noch länger ziemlich kompliziert bleiben.

Rosemarie Schwaiger