„Hysterisch und schizophren“

Kenan Güngör: „Hysterisch und schizophren“

Interview. Der Soziologe Kenan Güngör über Gewalt und die Frage, warum es derzeit schwer ist, nicht islamophob zu sein

Drucken

Schriftgröße

Interview: Edith Meinhart

profil: In Belgrad zieht eine Drohne eine großalbanische Flagge über ein Fußballfeld, in Wien gehen daraufhin Albaner und Serben aufeinander los. Verrückt, oder?
Kenan Güngör: Nicht unbedingt. Die zweite und dritte Generation bleiben den Herkunftsländern verbunden. Sie werden „mehrheimisch“ statt „einheimisch“. Wenn es dort Spannungen gibt, kommt es in der Diaspora zu einer polarisierenden Re-Ethnisierung. Sowohl der Krieg in Ex-Jugoslawien als auch der kurdisch-türkische Konflikt haben das gezeigt. Sofort kam es in Österreich zur Trennung der Vereine.

profil: In der Ottakringer Straße ging das kürzlich bis zu Handgreiflichkeiten.
Güngör: Es sind die jungen Männer, die teilweise selbst noch geflüchtet sind und deren Väter vor 20 Jahren im Krieg waren. Das geht nicht so schnell weg. Der Giftstachel des Nationalismus und der gegenseitige Hass haben den Balkan tief durchtränkt. Aus soziologischer Sicht wäre es überraschend, käme es nicht zu Auseinandersetzungen.

profil: Müssen wir uns auf mehr davon einstellen?
Güngör: Das ist relativ. Die physische Gewalt hat in den vergangenen 50 Jahren massiv abgenommen. Allerdings, je geächteter Gewalt in einer Gesellschaft ist, desto irritierter ist man, wenn sie auftritt.

profil: Dass es in Ottakring keine Verletzten gab, ist der Polizei zu verdanken.
Güngör: Ja, sie hat im Vorfeld erkannt, wie gefährlich diese ethnische Polarisierung gerade bei einem Fußballspiel sein kann. Die Eskalation ist abgeklungen, der Hass aber bleibt entzündlich. Das hätte natürlich anders ausgesehen, wenn jemand gestorben und es zu Vergeltungstaten gekommen wäre.

profil: Sie meinen, am nächsten Tag sitzt man wieder einträchtig in der Schule oder trifft sich in der Arbeit?
Güngör: Es gibt eine tiefsitzende Feindschaft, die jederzeit aufbrechen kann. Aber sie ist nicht konspirativ, wie etwa der Dschihadismus.

profil: Ist die Integration gescheitert?
Güngör: Wirklich gescheitertes Zusammenleben sieht man auf dem Balkan, im Nahen Osten oder auch in abgeschwächter Form in den Vereinigten Staaten oder in den Banlieues in Frankreich. Wir leiden auf hohem Niveau. Gescheitert sind wir nur mit dem Bild, das wir uns gemalt haben. Integration verläuft nicht nur in einer harmonischen Geraden, sondern ist ein widersprüchlicher Prozess. Wir haben immense Fortschritte zu verbuchen, und Probleme gehören auch dazu.

profil: Was ist die Botschaft: Nur nicht aufregen, Konflikte gehören dazu?
Güngör: Wir arbeiten zu viel mit emotionalen und ideologischen Prämissen. Vielfalt kann einerseits die Triebfeder für Dynamik, Entwicklung und Freiheit sein, zugleich birgt sie problematische Entwicklungen. Wenn wir alles gehässig sehen oder alles optimistisch, halten wir entweder alles für gescheitert oder alles für gelungen. Davon müssen wir uns verabschieden, sonst werden wir hysterisch oder schizophren.

profil: Das kann man auch haben, wenn man mit einem FPÖ-ler und danach mit einem Grünen durch einen Wiener Randbezirk geht.
Güngör: Der Vielfaltsdiskurs ist ja als Gegenbewegung auf den Gehässigkeitsdiskurs entstanden. Aber man hilft irritierten Gesellschaften nicht, wenn man Schwierigkeiten leugnet oder die Probleme dramatisiert, sondern indem man sagt: Wir haben das im Auge. Diese dritte Sprache fehlt.

profil: Was meinen Sie damit?
Güngör: Mehr Ernsthaftigkeit in der Sache, aber mehr Besonnenheit im Umgang. Was wir haben, ist sehr häufig das Gegenteil.

profil: Im Internet wird zum individuellen Dschihad aufgerufen. Was, wenn der erste Verrückte mitten unter uns zuschlägt?
Güngör: Die Terroristen wissen, dass ein Messer genügt, um unsere Gesellschaft zu destabilisieren, und kalkulieren ein, dass wir dann wie aufgescheuchte Hühner wild herumflattern. Wir sollten uns vorbereiten, robuster und lernfähiger werden und den Zusammenhalt stärken, um es ihnen nicht so leicht zu machen.

profil: War Integration nicht immer konfliktträchtig?
Güngör: Sie ist zum großen Teil kein intentionaler Prozess. Ich gehe ja nicht vor die Tür und integriere mich mal für eine halbe Stunde, sondern es passiert, indem ich mein Leben bewältige. Dafür brauche ich Arbeit, eine Wohnung und vieles mehr.

profil: Im Moment weiß man kaum, was einen mehr erschrecken soll: In Wien-Floridsdorf befehden Tschetschenen einander, in Moscheen und sozialen Medien wirbt die islamistische Terrormiliz IS um Kämpfer.
Güngör: Wir werden Zeugen der Entgrenzung von Räumen aufgrund von Migration und Digitalisierung. Früher brauchte es Rädelsführer und eine Struktur, um die Gewalt zu organisieren. Heute geht das mit einer Sammel-SMS. Neu ist auch, dass es eine überethnische Gruppenbildung von muslimischen Jugendlichen gibt. Je homogener Gruppen werden, desto enger werden sie. Das kann sich sowohl in Nationalismus äußern als auch in religiösem Radikalismus.

profil: Die Soziologin Hilde Weiss, die den Wertewandel der Zuwanderer erforscht, sagt, die Eltern sind eher traditionell eingestellt, die Kinder liberalisieren sich. Doch ein kleiner Teil befürwortet schwere körperliche Strafen und Gewalt gegen Ungläubige. Wie soll man damit umgehen?
Güngör: Wir machen einen Fehler, wenn wir nur auf die Gewalt schauen. Es gibt einen Dschihadismus, der Gefahr läuft, Teil einer marginalisierten Jugendsubkultur und damit anschlussfähiger zu werden. Aber er ist nur die Spitze des Eisberges. Auf der anderen Seite haben wir nicht nur den Nationalismus, sondern in bestimmten Kreisen auch einen religiösen Fundamentalismus, der Ungläubige und anders Lebende abwertet und als Bedrohung sieht. Wenn Kindern eingeredet wird, dass sie von lauter unreinen Menschen umgeben sind, ist das eine indirekte Radikalisierung.

profil: Was kann man dagegen tun, außer sich empören?
Güngör: Wir brauchen weniger interreligiösen Dialog und mehr gesellschaftlichen Diskurs. Natürlich geht es nicht, eine Gruppe einfach nur zu bezichtigen. Menschen haben ein Gespür dafür, ob man es gut mit ihnen meint oder nicht. Aber wir sollten uns kritisch auseinandersetzen, statt uns darauf zurückzuziehen, dass alles okay ist, was nicht gegen Recht und Ordnung verstößt.

profil: Konkret also: Was tun, wenn Eltern ihre Töchter nicht in den Schwimmunterricht lassen oder Imame westliche Frauen abwerten?
Güngör: Wenn jemand kein Schweinefleisch essen will, ist das ein legitimes Bedürfnis. Daneben gibt es einen Graubereich, in dem man aushandeln muss, was legitim ist. Und dann gibt es einen Bereich, den man nicht verhandeln kann, weil es um unsere Grundwerte geht. Da sind wir gefordert, uns etwa zu fragen, was einst die Beweggründe bei der Aufhebung der Geschlechtertrennung waren.

profil: Verstehen Sie, dass man es leid sein kann, sich noch einmal damit zu beschäftigen und selbst liberale Menschen ein Problem mit dem Islam bekommen?
Güngör: Es ist im Moment leider sehr schwierig, nicht islamophob zu sein. Auch die Dämonisierung der Islamophobie ist ein Problem. Aber ich unterscheide, ob diese Haltung ideologisch gehässig ist oder einer nachvollziehbaren Sorge entspringt. Nur so können wir uns aus verdummenden Dichothomien lösen: Zu behaupten, Radikalisierungen hätten mit dem Islam nichts zu tun, ist so falsch, wie sie mit dem Islam gleichzusetzen. Es ist ein Problem, wenn IS-Kämpfer sich auf die gleichen Quellen im Koran beziehen wie der Rest der Muslime. Die andere Seite ist, dass Frauen die Kopftücher auf der Straße heruntergerissen werden.

profil: Muslime sehen sich vor allem als Opfer.
Güngör: Das schirmt gut vor Kritik ab, aber ich halte es nicht mehr für tragbar. Es ist eine kleine, stille Revolution, dass Kritik inzwischen nicht mehr nur dumm-plump von der FPÖ kommt, sondern weitaus begründeter von Leuten wie dem Religionspädagogen Ednan Aslan. Leider steht er damit noch recht allein.

Zur Person
Kenan Güngör, 45. Der türkischstämmige Soziologe lebt seit 2007 in Österreich. Sein Büro „think difference“ entwickelte Integrationsleitbilder für Vorarlberg, Tirol und Oberösterreich.

Foto: Michael Rausch-Schott