Österreich

Letzte Zuflucht

Anna L. glaubt seit Jahren das erste Mal wieder an sich selbst. Amina K. hat vieles verloren, aber ein neues Leben gewonnen. Seit 40 Jahren verändern die Frauenhäuser das Leben von Frauen, die wegen ihrer Männer durch die Hölle gingen.

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Maria P.*, Ende 50, hat im Jahr 2018 ihren ersten BH geschenkt bekommen. Ihr Mann, der sie über Jahrzehnte misshandelte und von allen Geldmitteln abschnitt, hatte ihr verboten, einen zu tragen, obwohl der schwere Busen ihren Rücken quälte. Die Mitarbeiterinnen im Frauenhaus hätten ihr gern einen zweiten gekauft, aber ihr reichte der eine. Sie bedankte sich drei Mal.

Elfi S. suchte mit fast 60 zum zweiten Mal Schutz im Frauenhaus. Knapp 30 Jahre zuvor, es war in den 1980er-Jahren, flüchtete sie das erste Mal, kehrte aber nach ein paar Tagen zurück zu ihrem gewalttätigen Mann, weil sie damals kein Geld und kaum Rechte hatte. Ihr Mann stand kurz nach ihrem ersten Einzug im Eingangsbereich des Frauenhauses und wollte, wenn schon nicht seine eigene, irgendeine andere Frau mitnehmen, weil er eine Arbeitskraft brauchte für den Bauernhof.

Amina K. und Anna L., 45 und 39 Jahre alt, waren am Anfang, so wie die meisten, sehr verliebt. Zwei, drei Jahre lang war es eigentlich ganz schön. Die Männer hatten doch auch viele gute Seiten. Heute fragen sie sich, wie es so weit kommen konnte. Warum wurde ihr, Amina, früher so offenherzig und gesellig, erst nach zehn Jahren bewusst, dass sie zur Zufriedenstellung ihres Partners all ihre Freunde aufgegeben hatte? Dass sie isoliert war? Wie konnte die selbstsichere Anna L. nach ein paar Jahren Ehe glauben, dass sie gar nichts mehr kann? Der Terror kam, so wie bei den meisten, nicht plötzlich. Schleichend nistete sich das Grauen ein.

Schutzeinrichtungen sind oft die letzte Hoffnung

Amina und Anna waren unter den 3341 Frauen und Kindern, die im vergangenen Jahr Schutz vor ihren Ehemännern, Partnern und Ex-Freunden in den 30 Frauenhäusern Österreichs gesucht haben. Seit 40 Jahren sind die Schutzeinrichtungen oft die letzte Hoffnung für jene, die Jahre und Jahrzehnte in Gewaltbeziehungen lebten und keinen Ausweg wissen.

Jede fünfte Frau in Österreich erfährt einmal im Leben körperliche oder sexuelle Gewalt. Jede siebente ist Opfer von Stalking. Seit das erste Frauenhaus 1978 in Wien eröffnete, sind die Zahlen der betroffenen Frauen nicht zurückgegangen - verändert habe sich trotzdem viel, sagt Maria Imlinger. Die 62-Jährige leitet seit fast 30 Jahren das Frauenhaus in St. Pölten, eines der größten. In 18 Zimmern können bis zu 40 Frauen und Kinder unterkommen. Selten bleibt ein Platz lange unbewohnt.

Heute lauern weniger Männer vor den Frauenhäusern als früher, sagt Imlinger, was auch mit schärferen Sicherheitsmaßnahmen zu tun hat. Vor dem Gebäude in St. Pölten sind Überwachungskameras installiert, Notknöpfe im Inneren kontaktieren umgehend die Polizei. Auch die "Dorfheiligen", wie sie Imlinger nennt, die anrufen mit der Aufforderung, man möge die Frauen wieder nach Hause schicken, die Schwiegermütter, die erklären, dass "man manche Sachen halt aushalten muss", sind verschwunden. Noch eine Veränderung nimmt Imlinger wahr: "Die größte Gruppe machen heute Frauen Ende 20 aus." Früher seien die meisten in ihren Endvierzigern gewesen. Für die Frauenhauschefin ist das ein gutes Zeichen, es zeige, "dass Frauen nicht mehr so lange in Gewaltbeziehungen leben". Die meisten zumindest: Die derzeit älteste Bewohnerin ist 79.

Heute kommt es mehr zu psychischer Gewalt

Heute kommen weniger Frauen mit schwersten Körperverletzungen, sagt Imlinger: "Die gewalttätigen Männer haben dazugelernt." Sie wenden heute andere Methoden an, die weniger Spuren hinterlassen, aber genauso lebensbedrohlich sind. Und: "Psychische Gewalt ist ein massives Thema." Frauenschutzvertreterinnen kämpfen schon lange dafür, dass psychische Gewalt als Delikt ins Strafgesetz aufgenommen wird. Den Einwand, dass psychische Gewalt schwer beweis-und objektivierbar ist, will Imlinger nicht gelten lassen: "Häusliche Gewalt ist generell oft schwer zu beweisen, weil meistens keine Zeugen dabei sind. Aber von psychischer Gewalt können ganze Leben beeinträchtigt werden."

Das weiß auch Anna L. Die 39-Jährige verbrachte den Winter im Frauenhaus in Graz. Es war ihre Rettung. "Ich war unter Schock", sagt sie. Sie konnte nicht glauben, dass sie einziehen durfte, obwohl sie ihr Mann nicht mit Schlägen und Hieben verletzt hatte. Erst im Frauenhaus wurde ihr bewusst, dass das ständige Niedermachen, die Wutausbrüche, die Beschimpfungen und Drohungen, die dauerhafte psychische Gewalt "echte" Gewalt sind und das, was sie als Quälerei empfunden hat, auch wirklich eine war.

Im Frauenhaus wurde Anna rechtlich und psychologisch beraten, man half bei der Wohnungssuche und erstellte Betreuungspläne. Doch das Wichtigste, das sie aus dem Haus mitnahm: "Sie haben mir mein Selbstvertrauen wieder zurückgegeben." Anna war für ihre damalige Liebe und ihren heutigen Ex-Mann in ein kleines Dorf in der Steiermark gezogen. Ihr Geld investierte sie in das gemeinsame Haus und seinen Hof, den sie gemeinsam bewirtschafteten. Irgendwann war sie finanziell abhängig.

Doch das Wichtigste, das sie aus dem Haus mitnahm: "Sie haben mir mein Selbstvertrauen wieder zurückgegeben."

Schlimmer als die tatsächlichen Übergriffe, sagt Anna, war die ständige Angst davor. Wird er heute wieder ausrasten? Die beiden Töchter, noch Kleinkinder, wieder aus dem Schlaf reißen, anbrüllen und ihnen eintrichtern, was für eine furchtbare Mutter sie haben? Wieder "Hure" schreien, ihr vorwerfen, dass sie im Haus nichts zusammenbringt, dass sie überhaupt nichts kann?

An einem Tag im Jahr 2014 war Anna körperlich am Ende. Sie fiel vom Sessel und konnte nicht mehr aufstehen. Anna verbrachte daraufhin einige Woche in der psychiatrischen Abteilung im Landeskrankenhaus Graz, bis sie wieder zu ihrem Mann zurückkehrte, mit der Hoffnung dass es besser wird.

"Er hat es geschafft, mir einzureden, dass gewisse Situationen gar nicht passiert sind. Irgendwann habe ich mir gedacht, ich bin wirklich verrückt." Lange konnte sie sich ihrer Familie nicht anvertrauen, auch im Dorf wusste niemand Bescheid. "Es war viel Scham dabei, weil ich so lange bei ihm geblieben bin, und ich hatte Angst, dass mir niemand glaubt. Mein Mann ist sehr beliebt im Dorf." Wie konnte sie den Menschen erklären, wie schwer das Gehen war? Sie hatte kein eigenes Geld und Angst um ihre Kinder. Und es war ja nicht alles schlecht. Nach einem zweiten Aufenthalt im Spital im vergangenen Herbst schaffte sie es mithilfe von Sozialarbeiterinnen ins Frauenhaus.

Es besteht immer noch ein Generalverdacht gegen misshandelte Frauen

Auch wenn es in vielen Bereichen Fortschritte gab, ortet Andrea Brem, Leiterin der Frauenhäuser Wien, in anderen einen Rückschritt: "Obwohl wir wissen, dass weltweit Millionen Frauen von Gewalt betroffen sind, gibt es dennoch einen Generalverdacht gegen misshandelte Frauen: Ihnen wird vorgeworfen, dass sie Mitschuld hätten oder lügen, um sich einen Vorteil herauszuschlagen." Es seien meist die Männer, die in den Häusern und auf dem Vermögen sitzen, sagt Brem, die seit Anfang der 1980er-Jahre in Frauenhäusern tätig ist: "Wir haben so viele Frauen, die sich eine ganz neue Existenz aufbauen müssen."

Unglücklich zeigen sich die Frauenhaus-Leiterinnen auch mit der gemeinsamen Obsorge. Dieser Kampf steht Anna noch bevor. In einer heilen Welt ist das geteilte Sorgerecht eine Ideallösung. Doch mit der Neuregelung 2013 bleibt es nach der Scheidung -auch wenn ein Elternteil gewalttätig war - zunächst grundsätzlich bei der gemeinsamen Obsorge. Für die Entscheidung des Gerichts über ein alleiniges Sorgerecht muss die Gewalt nachgewiesen werden können. Viele Väter würden nur deswegen um die Rechte kämpfen, um Macht und Kontrolle gegenüber den Müttern auszuüben. "Wenn eine Frau zum Beispiel jahrelangem Psychoterror ausgesetzt war, muss sie trotzdem die Obsorge gemeinsam gestalten. Die Gewalttäter können so ihre Dynamik weiterführen, die Frauen erpressen und damit drohen, dass sie die alleinige Obsorge beantragen", sagt Brem: "Viele Frauen gehen dann wieder in die Gewaltbeziehung zurück."

Das hat sich auch Amina überlegt. Als sie sich mitten im Sorgerechtsstreit mit ihrem Ex-Mann traf, spielte sie mit dem Gedanken, wieder zu ihm zurückzukehren, weil sie ihrer Tochter das Hin-und Herreisen ersparen wollte. "Aber heute bin ich froh, dass ich es nicht getan habe", sagt sie. Amina sitzt an einem sommerlichen Abend Anfang Mai in einem Gastgarten eines kleinen Cafés, daneben ihre damalige Betreuerin aus dem Frauenhaus, auf dem Tisch liegen Protokolle und Gerichtsakten.

"Dann sagte er: Was man nicht sieht, das gibt es nicht."

Der wirkliche Terror begann im Sommer 2016. Amina war mit ihrer damals fünfjährigen Tochter, der Mutter und ihrem Mann auf Urlaub. Sie stritten wieder, er wurde handgreiflich, sie konnte nicht mehr. Als ihm bewusst wurde, dass sie es diesmal mit der Scheidung ernst meinte, fuhr er allein zurück in das kleine Dorf in Oberösterreich. Es dauerte nur ein paar Stunden, bis Amina einen Anruf von der Polizei erhielt. Ein besorgter Vater habe mitgeteilt, dass sein Kind bei seiner psychisch gestörten Frau sei. Amina fuhr zur Polizei und versuchte, die Situation aufzuklären. Als sie Geld abheben wollte, war ihr Konto leergeräumt. In den nächsten Tagen habe ihr Mann die Autoschlüssel versteckt, irgendwann war ihre Monatskarte für den Zug verschwunden, später ihre gesamten Dokumente. Sie musste zu Fuß ins Dorf einkaufen gehen. Wenn sie heimkam, habe er jede Packung aufgerissen und in den Müllkorb geleert. Jeden Morgen nahm er die Tochter mit, war den ganzen Tag nicht erreichbar und kam spätabends wieder heim. "Ich weiß, es ist schwer zu glauben, aber ich hatte keinen Zugang mehr zu meiner Tochter", sagt Amina. Körperliche Gewalt habe er selten angewandt. Manchmal habe er sie weggestoßen oder ihr auf den Fuß getreten. "Dann sagte er: Was man nicht sieht, das gibt es nicht."

Eines Abends, so erzählt es Amina, brachte Manfred zwei Katzen mit nach Hause. Amina hat Angst vor den Tieren, eine Phobie. Manfred weiß das. Als Amina alle Räume, in denen sich die Katzen aufhielten, mied, habe ihr Ex-Mann damit gedroht, die Türen auszubauen. Ein paar Tage später, Manfred war in der Arbeit, klopfte es an der Haustür. Eine Frau vom Tierschutzverband ging einer eingegangenen Meldung nach. Ein Mann habe berichtet, dass Amina ihre Haustiere quält. Amina malt gern Bilder, einmal rief das Finanzamt bei ihr an, weil eine Meldung eingegangen sei -der Vorwurf: Sie würde die Werke schwarz verkaufen. Ein anderes Mal zeigte ihr Ex-Mann Aminas ältere Tochter aus erster Ehe an, weil sie Geld und Schuhe von ihm gestohlen habe. Schließlich musste Aminas Mutter zur Fremdenpolizei, weil diese einen Hinweis bekommen habe, dass sie vor Jahrzehnten mit gefälschten Papieren ins Land eingereist sei. Es ist nur ein Ausschnitt der Anzeigen und Vorwürfe. Alle erwiesen sich als falsch.

Flucht ins Frauenhaus wurde ihr im späteren Sorgerechtsstreit zum Verhängnis

Amina ging drei Mal in die örtliche Polizeistation, aber dort habe sie keine Hilfe bekommen. "Die Frage war immer: Schlägt er Sie oder schlägt er Sie nicht?", sagt Amina. "Beim letzten Mal haben sie mich gefragt, warum ich denn nicht einfach gehe, wenn es so schlimm ist?" Im Winter 2016 packte sie eine Tasche, nahm ihre beiden Töchter und flüchtete in einer Nacht-und Nebelaktion in das Frauenhaus. Ein Schritt, der ihr später im Sorgerechtsstreit zum Verhängnis werden sollte. Amina und ihr Ex-Mann haben zwar geteilte Obsorge, der Hauptaufenthaltsort des Kindes wurde aber dem Vater zugesprochen. Amina sieht ihre Tochter jedes zweite Wochenende. Ein Grund für die Gerichtsentscheidung war, dass Amina in die nächstgelegene Stadt zog, weil sie dort arbeitet. Beim Vater sei das Kind in ein soziales Netz eingebettet. Den anderen Grund führt die Familiengerichtshilfe im Gerichtsbeschluss so aus:

"Der Auszug der Mutter mit (Anm.: ihrer Tochter) ins Frauenhaus führte zu einem Bruch des ohnehin schon wenig vorhandenen Vertrauens der Elternteile ineinander und erschüttere dieses noch mehr Der von der Mutter vorgenommene abrupte Ortswechsel mit der Minderjährigen ohne jede Rücksprache mit dem Vater erfolgte nicht dem Kindeswohl entsprechend. Dass vom Vater ausgeübte psychische Gewalt Grund für diesen Auszug gewesen wäre, ist nicht belegt. Selbst wenn dies der Fall gewesen ist, hätte die Mutter spätestens nach dem Auszug telefonisch mit dem Vater Rücksprache halten können Dass die Mutter versucht hat, mit ihrem einseitigen Auszug Fakten zu schaffen, kann ihr nicht zum Vorteil gereichen."

Unabhängig von der Beweislage: Diese Begründung zeigt auf, wie wenig Sensibilisierung für die Dynamiken einer Gewaltbeziehung besteht. "Ich habe den Eindruck, dass wir hier in den vergangenen Jahren sogar einen Rückschritt erleben", sagt Imlinger. Die Leiterinnen der Frauenhäuser fordern schon seit Jahren eine verpflichtende Fortbildung für Rechtsvertreter.

Die Polizeiausbildung beinhaltet derzeit ein zweitägiges Seminar über häusliche Gewalt. Nach den derzeitigen Regierungsplänen soll diese Ausbildungseinheit noch um einen halben Tag gekürzt werden.

*Alle Namen der betroffenen Frauen wurden im Text geändert und Details aus ihren Biografien unkenntlich gemacht. SCHUTZRAUM Viele geflüchtete Frauen ziehen gemeinsam mit ihren Kindern ins Frauenhaus. FRAUENHAUSLEITERIN IMLINGER "Heute wenden Männer andere Methoden der Gewalt an, die weniger sichtbar, aber genauso lebensbedrohlich sind."