Der Widerständler

Peter Turrini: Die politische Seite des Schriftstellers

Lebenswerk. Die politische Seite des Schriftstellers Peter Turrini, der am 26. September 70 wurde

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Als ihn die Salzburger Festspiele 2005 leichtfertig einluden, die Eröffnungsrede zu halten, las er fast eine Stunde lang der damals noch amtierenden Regierung Schüssel und dem von ihr verkörperten Denken die Leviten: „Wer ein Lohnempfänger ist, musste in den letzten Jahren ständig Schuldgefühle haben, denn er ist ja ein Verursacher von Lohnnebenkosten.“

Als ihn vor zwei Jahren ein großer Ärztekongress in Wien zur Festansprache bat, führte Turrini den Medizinern ihre „Erhabenheit“ als Theateraufführung vor Augen: „Bei der Visite schreitet vorne der Herr Primar, ein weiß aufgeblasener Paradiesvogel, der etwas zum Oberarzt sagt, welcher etwas zum Turnusarzt sagt, der etwas zur Oberschwester sagt, die etwas zur philippinischen Hilfsschwester sagt, die nichts sagt, weil sie nichts zu sagen hat.“

Wer dachte, ein Theaterschriftsteller sei bloß da, um zu unterhalten oder – bestenfalls – das Publikum mit Erbaulichem und Geistreichem zu delektieren, lag bei Turrini immer falsch.

Im Jänner 1971, er ist 26, wird sein erstes Stück, „Rozznjogd“, im Wiener Volkstheater uraufgeführt. Es geht darin um ganz normale, von der kapitalistischen Werteordnung geprägte Leben, um Konsumzwang und Statussymbole. In seinem vergangene Woche erschienenen Erinnerungsbuch „C’est la vie. Ein Lebens-Lauf“ schreibt Turrini: „Schon eine Woche vor der Premiere meines Stücks standen die unglaublichsten Dinge in den Zeitungen. Von einer Schändung des Theaters, vom möglichen Untergang des Abendlands war die Rede.“

Turrini: Der randalierende Furor meiner Generation ging gegen einen Kapitalismus an, der ja harmlos war im Vergleich zu jenem, den ich jetzt in meinen beginnenden Siebzigern erlebe. Man staunt, wie viel Widerstand dieser vergleichsweise milde Kapitalismus hervorrief – von der Studentenbewegung auf politischer Ebene, vom Wiener Aktionismus auf ästhetischer und von Stücken von mir und anderen auf der theatralischen Ebene. Eine Generation rannte gegen eine schreckliche Gesellschaft an. Jetzt ist die Gesellschaft noch viel schrecklicher, aber das Anrennen hat aufgehört.

profil: Der Kampf ist verloren?
Turrini: Diesen Gedanken lasse ich nicht gerne zu, weil mir dann der Fatalismus mein Schreiben unmöglich machen würde. Ich brauche immer noch den Antrieb, dass ich durch mein Eingreifen etwas verändern kann. Ich bezweifle, dass das immer vernünftig ist, aber ich habe keine Alternative zu mir selbst.

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In Turrinis Kärntner Heimat waren viele ehemalige Nazis bei der SPÖ untergeschlüpft. Der Obmann des Kameradschaftsbundes war ebenso ein SPÖ-Politiker wie der Vorsitzende der Ulrichsberg-Gemeinschaft. „Die Bewohner des Stammtisches verachte ich, am Zustand der Sozialdemokratie verzweifle ich“, schrieb Turrini.
Turrini: „Wenn man in den 1950er-Jahren in einem Kärntner Dorf aufgewachsen ist, wo das Klerikale und das Postfaschistische weiterhin stolz im Wirtshaus saßen, dann hat man nicht verstanden, warum die Sozialdemokratie nicht dagegen vorging. Dass ausgerechnet die Sozialdemokratie, die ja ihre eigenen Opfer im Faschismus hatte, so innig am Generalpardon teilnahm und sich Landeshauptmann Leopold Wagner sogar brüstete, ein „hochgradiger Hitlerjunge“ gewesen zu sein, weil in Kärnten damit allemal noch ein paar Wähler zu gewinnen waren – das konnte ich nicht verstehen.“

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Geschichtsschreibung von unten hatten Peter Turrini und Wilhelm Pevny im Sinn, als sie Anfang der 1970er-Jahre in einer Wohngemeinschaft in Mauerbach bei Wien ihre „Alpensaga“ ersannen, die Sitten- und Sozialgeschichte einer bäuerlichen Dorfgemeinschaft in Österreich zwischen 1900 und 1945. Ab 1976 wurde die sechsteilige Serie unter der Regie von Dieter Berner gedreht und in ORF und ZDF ausgestrahlt. „Ein düsteres, poetisches Volksstück“ befand der „Spiegel“. Der „Bauernbündler“, das Blatt der ÖVP-Landwirte, sah das anders: „Die Bauern und Christen werden sich von Kommunisten und Kommunarden nicht tatenlos provozieren lassen.“

Turrini: Es wurde ein Rumor über etwas verbreitet, das es noch gar nicht gab. In den Zeitungen sind Artikel erschienen, wonach da eine ganz furchtbare Serie über die Landbevölkerung entstehe, bei der Otto Mühl einen Pfarrer spielen solle. Es gab noch gar kein fertiges Drehbuch, als der damalige Bauernbundchef Sixtus Lanner von einer „Schändung des Bauernstands“ gesprochen hat. Der Bauernbund hat sein Patronat bei der Deutung des Wesens des Bauernstands in Gefahr gesehen. Ihm war die Löwingerbühne, die die Bauern als Trottel dargestellt hat, lieber, als unser Versuch, die Geschichte des Bauernstands aus einer politischen Perspektive aufzuzeigen. Willy Pevny und mich hat es damals in dieses neue Medium Fernsehen gedrängt, vor dem sich die Massen drängten. Durch die Skandalisierungen hatten wir dann bei zwei Folgen der „Alpensaga“ sogar höhere Einschaltquoten als Peter Alexander.

profil: Damals war Gerd Bacher ORF-Generalintendant. Der hat das zugelassen?
Turrini: Er hat mir vor der Entscheidung Folgendes ausrichten lassen: „Warum glauben Sie Kommunist, dass Sie in meinen ORF kommen?“ Ich hab zurückgemault: „Warum glauben Sie Faschist, dass der ORF Ihnen gehört?“ Daraufhin hat er mich angerufen und gesagt: „Entweder Sie sind ein Trottel, oder Sie haben wirklich etwas drauf.“ Dann haben Pevny und ich in der Wohnung eines ORF-Redakteurs eine Lesung der „Alpensaga“ veranstaltet, bei der Bacher anwesend war – und er hat es gut gefunden.“

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Polizeiprotokoll vom 10. November 1990 über die Beobachtung der Aufführung des Turrini-Stücks „Josef und Maria“ am Wiener Burgtheater durch zwei Staatspolizisten: „Über den Handlungsablauf auf der Bühne wurden handschriftliche Aufzeichnungen, soweit dies möglich war, angelegt. Im Zuge der Vorstellung konnte von einem Billeteur ein Textbuch um den Betrag von Schilling 28,– angekauft werden und liegt diesem Bericht bei.

Die Vorstellung war gegen 22.15 Uhr ohne Zwischenfälle beendet und hielten die Beifallskundgebungen ca. 20 Minuten an.“ Turrini war zuvor wegen „Herabwürdigung religiöser Lehren“ und Pornografie angezeigt worden. Schon 1979 hatte die ÖVP heftig die „Souffleurkasten-Reihe“ kritisiert – ein Kompendium moderner österreichischer Literatur, das an AHS-Lehrer ausgegeben worden war. Er wolle nicht, dass seine zwölfjährige Tochter mit solchen Texten konfrontiert werde, sagte ÖVP-Obmann Josef Taus.

Turrini: Das war eine der vielen tollen Initiativen des damaligen Unterrichtsministers Fred Sinowatz, der so ganz anders war als alle Beamten. Er hat gesagt: „Wir müssen alles tun, um Literatur unter die Leute zu bringen.“ Da sind neue Stücke gedruckt und an Lehrer verteilt worden …

profil: … in denen auch das Wort „ficken“ vorkam.
Turrini: In der damals noch nicht durchpornografisierten Gesellschaft konnte man ja die Republik schon zum Wanken bringen, indem man die Worte „Fut“ oder „Beutl“ gesagt hat. Die ÖVP hat diese „Souffleurkasten-Reihe“ jedenfalls als Aufforderung gesehen, dem Haschischkonsum und Schlimmerem anheimzufallen. Das alles hatte etwas Rührendes. Heute kennen Zwölfjährige aus dem Internet mehr Stellungen als ich mit 70. Dieses System wirft heute das Fleisch des Menschen auf den Markt, wie es ja alles auf den Markt wirft. Empörung ist notwendiger denn je.

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Zum 70. Geburtstag Bruno Kreiskys im Jänner 1981 erschien ein Fotoband mit Aufnahmen des deutschen Starfotografen Konrad Müller. Peter Turrini und Gerhard Roth schrieben dazu Texte, worauf ihr Schriftstellerkollege Thomas Bernhard in einer Rezension in profil ätzte, dieses Buch solle nur „in ausgesuchten Devotionalienhandlungen“ verkauft werden, Kreisky sei bestenfalls ein „Höhensonnenkönig“.

Turrini: Ich habe mich von Lichtgestalten nicht blenden lassen, aber mich haben interessante Leute beeindruckt, und da gehörten ohne Zweifel Bruno Kreisky, aber auch ein Maria Saaler Alkoholiker namens Hansi Sattler dazu, der mir immer im Wirtshaus seine Philosophie dargelegt hat. Kreisky war eine bekämpfbare, streitbare Vaterfigur. Ich bin ja größtenteils vaterlos aufgewachsen, und da konnte man einen dingfest machen. Bei einem Abendessen mit Kreisky kurz vor der Zwentendorf-Abstimmung hat der Liedermacher Sigi Maron seinen Pullover hochgeschoben. Er hat darunter ein Leiberl mit dem „Atomkraft, nein danke“-Zeichen angehabt und zu Kreisky gesagt: „So, jetzt können S’ den ganzen Abend auf mein Leiberl schauen!“ Kreisky hat gesagt: „Gott sei Dank seh ich schon a bisserl schlecht.“

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Er wolle nicht mehr jede innenpolitische Entwicklung „wie ein Pawlowscher Hund“ kommentieren, erklärte Turrini bei einem seiner Geburtstags-Interviews.

Turrini: Es ist nicht so, dass die früheren Politiker alle Lichtgestalten waren und die jetzigen nur Tölpel sind. Herr Faymann, den ich persönlich nicht kenne, bekommt ja von niemandem eine Chance, eine Lichtgestalt zu sein. Politiker sind nur noch Mitläufer und nicht Gestalter der Geschichte.

profil: Die Märkte machen Geschichte, und die Politiker versuchen das Schlimmste zu verhindern?
Turrini: So kann man es sagen. Der Halliburton-Konzern ist heute ungleich mächtiger und in den Abgrund führender als jeder Politiker: Er liefert die Bomben, um alles kaputt zu machen, und die Mischmaschinen, um alles wieder aufzubauen.

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„Kärnten ist für mich eine Wunde, die sich schließt, wenn ich mich von diesem Land entferne, und die sich öffnet, wenn ich mich ihm nähere“, schrieb Turrini 2006, noch zu Lebzeiten Jörg Haiders. Als ihm kürzlich vom Büro des neuen Landeshauptmanns ein hoher Kärntner Verdienstorden angeboten wurde, lehnte Turrini dankend ab – nicht wegen Kärnten, sondern weil er prinzipiell keine Orden annimmt.

Turrini: Ich hatte in meiner Kindheit ein tiefes Bedürfnis nach Zugehörigkeit zur dörflichen Gemeinschaft – nicht zuletzt deshalb, weil mein Vater ein Gastarbeiter aus Italien war. Es gibt von mir herzzerreißende Fotos mit Lederhose und Wanderstock, denen man geradezu anmerkt: Da fleht einer um Aufnahme. Es hat nicht funktioniert, das ist meine Urwunde. Wenn es dann wieder einmal übel weiterging mit Kärnten, hat meine Wunde geschmerzt. Jetzt ist sie ein wenig verheilt, aber ganz traue ich diesem Heilungsprozess nicht. Die ehemaligen Haider-Wähler sind jetzt bei den Sozialdemokraten untergeschlüpft – aber was ist, wenn sie wieder ausschlüpfen?

profil: Kennen Sie den neuen Landeshauptmann?
Turrini: Ich habe Peter Kaiser einmal bei einer Veranstaltung der Kärntner Slowenen getroffen. Er ist sympathisch und etwas schüchtern, und ich denke, er macht seine Sache unter den gegebenen Umständen gut. Wenn ich bei Friesach nicht mehr so schwer beklommen nach Kärnten hineinfahre, dann hängt das auch damit zusammen. Aber achtsam bleibe ich. Vielleicht bin ich manchmal auch ungerecht. Einmal wollte mein Bruder Walter mit mir in Kärnten in einem bestimmten Wirtshaus ein Bier trinken und ich habe gesagt: „Nein, da sitzen nur alte Nazis drinnen.“ Hat er gesagt: „Da drinnen sitzen seit Langem nur mehr die Alternativbauern.“

profil: Jörg Haiders Ende könnte aus einem Ihrer Stücke sein: Ein Politiker sauft in einer Schwulenbar und verunglückt dann mit seinem riesigen Auto.
Turrini: Sie sehen: Wir Dichter sind harmlose Gesellen. Alle Schrecken in meinen Stücken und alle verrückte Kapriolen der Figuren sind harmlos gegen die Wirklichkeit. Aber mit dem Tod Haiders war ja das Stück nicht zu Ende. Dann wurde ja auch noch der israelische Geheimdienst dafür verantwortlich gemacht. Inzwischen wurde der Trunkenbold heilig gesprochen. Das Marterl steht schon.

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Die Kirche gehörte von Beginn an zu Turrinis schärfsten Kritikern – umgekehrt war es ähnlich.
Turrini: Religion hat eine nachhaltige Rolle in meinem Leben gespielt, ich bin ja im Schatten des riesigen Doms von Maria Saal aufgewachsen. Ich war dort Ministrant, die ersten erotischen Erlebnisse hatte ich in der Kirche, wenn am Sonntag die Schülerinnen aus dem Marien-Internat in die Messe gekommen sind. Da konnte man sich am Boden in der Kirchenbank verstecken und von unten in die Kittel schauen, göttlich. Ich wollte mich im Priesterseminar in Tanzenberg einschreiben lassen.

Schließlich war die Gier auf die Mädchen dann doch stärker als der liebe Gott. Mit 20 hab ich große Gotteslästerungen losgelassen. Als später meine Tochter als Baby hohes Fieber bekommen hat, hab ich wieder mit Stoßgebeten auf den lieben Gott zurückgegriffen. Vor ein paar Jahren hätte man sich in diesem Haus noch jede Polemik gegen die Kirche abholen können, aber in der vollkommenen Ökonomisierung der Welt nehmen ästhetische Restbestände wie die Liturgie der katholischen Kirche einen besonderen Platz ein. Und wenn man dann in die Grube fährt, soll das ja auch nicht völlig kommentarlos geschehen. Ein durchschnittlich alkoholisierter Dorfpfarrer wär schon ganz angenehm.