Daniel Kehlmann

profil-Morgenpost: Breite Männer, dicke Krawatten

Hochgeschätzte Leserin, lieber Leser!

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Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel”, ein kleineres Pendant von profil in Deutschland (kleiner weil gedämpfte Meinungsstärke und weniger Humor), druckt in seiner aktuellen Ausgabe ein Interview mit Daniel Kehlmann ab. Dass der Titel „Dicke Männer mit breiten Krawatten” dann doch von Witz zeugt, ist der Herkunft des Schriftstellers geschuldet (andernfalls hätte er ja auch „Schlips” gesagt): „Ich bin im Österreich der Achtzigerjahre in einer Welt alter und meist dicker Männer mit breiten Krawatten aufgewachsen.” Das Gespräch ist Teil eines Textes über einen „Generalverdacht” von Rassismus gegen alles und jeden — vor allem in den USA —, was die Löschung ganzer Serienepisoden mit sich bringe und „Einführungsseminare bei Hollywoodfilmen” notwendig mache. (Schönes hervorgehobenes Zitat aus dem Artikel: „Als würde Helene Fischer aus Protest gegen Überfischung auf ihren Nachnamen verzichten.”) Kehlmann hat sich als einer von 150 Intellektuellen im „Harper´s Magazine” für mehr Debattenfreiheit ausgesprochen, daher das Interview. Im „Spiegel” weigert sich Kehlmann auf eine Frage zur Woody-Allen-Biographie einzugehen, gegen deren Publikation sich eine Reihe von Rowohlt-Autoren wegen der Missbrauchsvorwürfe gegen Allen ausgesprochen hatte – während Kehlmann in einem „Die Zeit”-Text für die Publikation plädierte

Im Rahmen einer Morgenpost sind freie Assoziationen ja erlaubt und sogar gewünscht. Bei Kehlmann hatte ich zwei davon.

Erstens: Ich hatte das Woody-Allen-Buch vor einigen Wochen gelesen – beziehungsweise als Hörbuch (von Allen selbst eingelesen) gehört. Und ich habe ein wenig recherchiert. Auf dieser Basis halte ich es für sehr unwahrscheinlich, dass Woody Allen seine Adoptivtochter missbraucht hat, wie seine Ex-Frau Mia Farrow behauptet. Aber machen Sie sich selbst ein Bild und beginnen Sie mit dem Hörbuch, das in jedem Fall spannend ist, unabhängig davon, ob der Autor die Wahrheit sagt oder lügt! 

Zweitens: Kehlmann verweist im „Spiegel” eben auf seinen „Zeit”-Text, den er „jetzt nicht auf paar Sätze verkürzen möchte”. Mit dieser Begründung: „Wenn ich das tue, werden nämlich diese Sätze auf Twitter zitiert, als wären sie auch schon alles, was mir zu dieser Frage einfällt. Und das ist das Hauptproblem des Twitter-Mechanismus, sachliche Verkürzung mit extremer Bereitschaft zur Empörung zu verbinden.” Danke, Herr Kehlmann, genau so ist es.

Und deshalb tweete ich – unter @chr_rai — nur, weil Abstinenz mit meinem Job als profil-Chef nicht zu verbinden ist. Mein Erkenntnisgewinn auf Twitter hält sich aber in engen Grenzen – er betrifft selten inhaltliche Aspekte und häufig ergänzendes Wissen über den Gemütszustand der Twitter-Gemeinde (und deren Aggressionspotential). Beispiel gefällig? Die ORF-Pressestunde vom vergangenen Sonntag mit dem großartigen Wifo-Chef Christoph Badelt und deren Rezeption auf Twitter. Mein Befund: Da haben sich viele Menschen, die jene Sendung niemals gesehen hatten, aus wenigen Zitaten ihre eigene Welt gezimmert. Diesfalls nicht einmal durchgehend zum Schaden der Proponenten (Badelt, Barbara Battisti und ich), aber zum Schaden des Erkenntnisgewinns.

Herzlichst, Ihr

Christian Rainer

Herausgeber und Chefredakteur

Christian   Rainer

Christian Rainer

war von 1998 bis Februar 2023 Chefredakteur und Herausgeber des profil.