profil-Morgenpost

Requiem für ein Virus

Die vierte Welle wogt, und der Lockdown wird wie der Leibhaftige gescheut. Menschen mit guter Verdrängungskapazität haben derzeit die Nase vorn. Und bitte weiterhin kein Bleichmittel trinken!

Drucken

Schriftgröße

So heiter der Herbst sich derzeit noch gibt: Er droht in etwas ganz Anderes, deutlich weniger Heiteres umzuschlagen. Die Fallzahlen, auf die wir alle täglich wie die Kaninchen auf die Schlange starren, haben dieser Tage schwindelerregende Höhen erreicht, denn die immer noch viel zu niedrige Impfquote sorgt im Zusammenspiel mit der erstaunlichen Menge an Impfdurchbrüchen für ungehinderte Ausbreitung jenes Erregers, dessen Namen inzwischen niemand mehr hören kann.

Going viral, das war in der Welt der Rechnernetzwerke einmal ein positiv besetzter Begriff, und Corona war früher auch nur ein geschmacklich leicht überschätztes Bier. Die Welt hat sich verändert in den vergangenen 20 Monaten, man kann es nicht leugnen – wie sehr, das werden Sie (Achtung, Spoiler!) in der kommenden profil-Ausgabe statistisch untermauert und wissenschaftlich bombenfest argumentiert nachvollziehen können.

Einen melancholischen Song namens „Corona was a Beer Once“ gibt es übrigens tatsächlich, nachzuhören hier. Ich wünschte, ich könnte sagen: zur Entspannung, aber dazu ist das Stück dann doch zu deprimierend. Martyn Jacques und Adrian Stout, Masterminds des Londoner Cabaret- und Burlesque-Popunternehmens The Tiger Lillies, veröffentlichten es bereits am 11. April 2020, im Rahmen eines digitalen Konzeptalbums namens „Covid-19“ (und zwei Monate später legten sie sogar noch einen zweiten Teil dazu nach): Inspiriert von Carl Orffs „Carmina Burana“ und eingespielt in Selbstisolation, verfügen die Corona-Kompositionen der Band über eine Extraportion pandemischen Galgenhumors. Kann man gerade gut brauchen. Schon die Titel verströmen einen gewissen Sarkasmus: Songs wie „Toilet Rolls Mummy“ und „Sanitizer Survivor“ finden sich da. „Covid-19 Vol. 2“ glänzt mit Tracks wie „Don’t Swallow Bleach“ und „Just a Flu“.

Zaudern Sie noch?

Allzu viel seherisches Talent wird man dem – um Frohbotschaften („Gute Umfrage, gute Umfrage!“) nie verlegenen – Ex-Bundeskanzler jedenfalls nicht mehr unterstellen wollen, der vor ziemlich genau vier Monaten so leichtsinnig Covid-Entwarnung gegeben hat („Für jeden, der geimpft ist, ist die Pandemie vorbei“). Ach ja? Sieht nicht so aus. Mit Impfgegnerschaft ist das Ressentiment gegen populistische Ansagen dieser Art bitte keinesfalls zu verwechseln. Sollten Sie zu den Vakzin-Zauderern gehören, nur zur Sicherheit noch einmal: Lassen. Sie. Sich. Impfen! Es verhindert schwere Verläufe, verringert Ihr Infektionsrisiko und erhöht die Chancen, dass Ihre Kinder in den kommenden Monaten wenigstens ein Mindestmaß an Bildung vermittelt kriegen können.

In einem aktuellen Drei-Fragen-Video bringt profil-Innenpolitikredakteur Clemens Neuhold die Versäumnisse der Regierung ebenso auf den Punkt wie seine Befürchtung, dass die inflationäre Rede von regionalen Lockdowns in der Realität wohl kaum sinnvolle Umsetzungen finden wird. Neuhold spricht Tacheles, das ist die journalistische Grundbedingung. Frohbotschaften wird man in diesem Video daher vergeblich suchen. Es heißt: „Kommt der Lockdown für alle?“ 

Im Frühling 2021 brachten die Tiger Lillies übrigens ihr Album „Requiem for a Virus“ heraus. Verfrüht, mag sein. Oder es ist eben anders gemeint: als Flaschenpost beispielsweise aus jener fernen Zukunft, in der die Menschen und ihre Vertreter:innen im Parlament endlich zur Vernunft gekommen sind.

Einen wunderbaren, mit Vorfreude auf Besserung der Verhältnisse imprägnierten Donnerstag wünscht Ihnen die Redaktion des profil.

Stefan Grissemann

PS: Hat Ihnen die Morgenpost gefallen? Dann melden Sie sich jetzt an, um Ihren Werktag mit aktuellen Themen und Hintergründen aus der profil-Redaktion zu starten:

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.