In Wien streikten und demonstrierten die Freizeitpädagoginnen und Freizeitpädagogen am Donnerstag.
Österreich

Protestierende Freizeitpädagogen: „Wir sind am Limit“

In ganz Österreich protestieren Freizeitpädagoginnen und Freizeitpädagogen. Sie befürchten Gehaltskürzungen und Mehraufwand.

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Der Streik beginnt in einer Turnhalle in Wien-Ottakring. Zehn Sesselreihen sind aufgestellt, an einem Ende des Saals ist eine Bühne, am anderen stehen ein Bällebad und ein Klettergerüst, Spielsachen liegen auf dem Boden verteilt. Knapp 150 Leute sind da, viele in orangen Warnwesten, manche mit selbstgebastelten Schildern. „So nicht“, steht auf einem, „Freizeitpädagogik muss bleiben“ auf einem anderen. Ein Betriebsrat ruft von der Bühne: „Wir zeigen der Regierung heute, wie stark wir sind.“

Es ist 12 Uhr am Donnerstag dem 15. Juni, alle 2500 Freizeitpädagoginnen und Freizeitpädagogen in Wien legen die Arbeit nieder. Die 150 Menschen fahren nach der Versammlung in Ottakring zum zentralen Treffpunkt am Karlsplatz, von dort ziehen sie durch die Innenstadt. Auch in Graz streiken die Freizeitpädagoginnen und Freizeitpädagogen an diesem Tag. In Salzburg, Innsbruck, Linz und Bregenz finden Demonstrationen statt.

Sie richten sich gegen eine Reform, die die Freizeitpädagogik grundlegend neuorganisieren soll. Anfang Mai wurde das Vorhaben öffentlich, seither toben die Proteste. Der Großteil der rund 5000 Beschäftigten arbeitet an Österreichs Ganztagsschulen. Sie gestalten nicht den Unterricht mit, sondern sie spielen mit den Kindern, haben für sie ein offenes Ohr und bieten Kurse an. Die Reform soll das System vereinheitlichen. Statt wie bisher bei privaten Vereinen und Unternehmen angestellt zu sein, sollen die Freizeitpädagoginnen und Freizeitpädagogen in den öffentlichen Dienst überführt werden.

Damit sollen sie in ganz Österreich zu denselben Bedingungen arbeiten: ein einheitliches Entlohnungssystem, einheitliche Anforderungen und eine einheitliche Ausbildung. Das soll den Ausbau des ganztägigen Schulangebots erleichtern. Doch die Belegschaften wollen die Reform stoppen – oder in das Vorhaben zumindest eingebunden werden. Die Regierung versucht zu kalmieren. Vom heftigen Widerstand wurde sie überrascht.

Nicht nur Karten spielen

Michaela Schuh ist Freizeitpädagogin in einer offenen Volksschule in Wien-Simmering. Offen bedeutet: die Nachmittagsbetreuung ist optional und nicht gratis. 6,40 Euro kostet die Betreuung pro Kind am Tag, Eltern mit niedrigem Einkommen zahlen weniger oder – wenn sie von der Mindestsicherung leben müssen – nichts. Die 4,40 Euro die zusätzlich fürs tägliche Mittagessen zu entrichten sind, entfallen ab dem kommenden Schuljahr. Fast drei Viertel der 400 Schülerinnen und Schüler nehmen an ihrer Schule das Nachmittagsangebot in Anspruch, sagt Schuh. Sie macht den Job seit über 20 Jahren, davor kümmerte sie sich um ihre Kinder und arbeitete als Tagesmutter. „Das habe ich damals in meinem Lebenslauf geschrieben“, sagt sie. „Ich wusste, dass ich gut mit Kindern kann.“ Als sie 2001 angefangen habe, war sie noch Nachmittagsbetreuerin. Erst seit 2013 trägt ihr Job den Titel Freizeitpädagogin.

Wenn die Lehrerinnen und Lehrer mit dem Job fertig sind, kommt Schuh zum Einsatz. Sie begleitet die Schüler zum Essen und bestreitet mit ihnen den Nachmittag. „Die Leute glauben immer, wir sitzen mit den Kids herum und spielen Karten“, sagt sie. „Aber wir machen so viel mehr.“ So schmücke sie mit ihrer Gruppe zu bestimmten Anlässen – sei es Ostern, Weihnachten oder Halloween – die Schule mit Dekor, zu Mutter- und Vatertag werden Geschenke gebastelt. Und sie höre den Kindern zu, wenn sie von ihren Problemen erzählen. Einmal in der Woche bietet Schuh auch einen Kurs mit dem Titel „Schneiden, Kleben, Malen“ an. Bei Kolleginnen und Kollegen von ihr können die Kinder auch Bauchtanzen, Fußball oder Schach spielen. „Manchmal sind sie aber auch einfach froh, wenn du da bist, und sie in den Arm nimmst“, sagt Victoria-Sophie Fiedler, die wie Schuh an der Schule in Simmering arbeitet.

Es soll für niemanden Verschlechterungen geben

Sibylle Hamann

Grüne Bildungssprecherin

Vorreiter Wien

Dass Schulbildung nicht nur in den Unterrichtseinheiten stattfindet, ist eine Einsicht, die sich langsam auch in Österreich durchsetzt. Im Regierungsprogramm der schwarz-grünen Koalition wurde der „bedarfsgerechte Ausbau ganztägiger Schulformen“ festgeschrieben. Ex-Bildungsminister Heinz Faßman, brachte die Vereinheitlichung der Freizeitpädagogik aufs Tableau. „Das ist ein enorm wichtiges Vorhaben“, sagt die grüne Bildungssprecherin Sybille Hamann.

Für Hamann verspricht die geplante Reform neben der Vereinheitlichung einen weiteren wesentlichen Fortschritt: Mit der Überführung der Freizeitpädagogik in den öffentlichen Dienst würde der Bund das Personal aller ganztägiger Schulformen finanzieren. Bisher bremsen viele Gemeinden, von denen die Trägervereine ihr Geld bekommen, beim Ausbau. Wirklich voran geht er nur in Wien. Über ein Drittel der knapp 100.000 Volksschüler, die ganztägig betreut werden, besuchen in der Bundeshauptstadt die Schule. „Damit würde endlich etwas weiter gehen“, sagt Hamann.

Doch dass über das Vorhaben bereits jetzt öffentlich diskutiert wird, war nicht vorgesehen. Ein Gesetzesentwurf, an dem Beamte im Bildungsministerium gearbeitet hatten, fand nur zufällig seinen Weg in die Hände des Betriebsrats von „Bildung im Mittelpunkt“, jener GmbH, bei dem in Wien alle Freizeitpädagoginnen und Freizeitpädagogen angestellt sind. Dort sorgte der Entwurfstext für Aufregung. Denn das Gehaltsschema für den öffentlichen Dienst würde laut Angaben des Betriebsrats statt einem Einstiegsbruttogehalt von 2640 Euro nur eines von 2360 Euro vorsehen und außerdem eine Wochenarbeitszeit von 40 – statt wie bisher 37 – Stunden, dafür sollen die Ferien frei sein. Außerdem enthalten: eine bestandene Matura als Aufnahmekriterium. „Das ist alles noch nicht fix, die Maturapflicht etwa wird sicher nicht bleiben“, sagt Hamann, die die Proteste deswegen nur bedingt nachvollziehen kann. „Es soll für niemanden Verschlechterungen geben.“ Ein fixes Ziel jedoch: Die Freizeitpädagogen sollen künftig auch im Unterricht aktiv mitarbeiten, den Kindern also auch beim Lernen helfen. Wohl auch, um den grassierenden Lehrermangel abzufedern.

Am Limit

„Damit würde sich unser Berufsbild radikal verändern“, sagt Lidia Knapp. Sie hat eine Sozialakademie absolviert und arbeitet als Freizeitpädagogin in einer verschränkten Ganztagsvolksschule in Wien-Hernals, rund 80 dieser Schulen gibt es in Wien. Dort ist der Ganztagsbetreuung bis 15.30 Uhr kostenlos, der Unterricht findet über den ganzen Tag verteilt statt, Knapp kommt auch schon am Vormittag zum Einsatz. Das verlange vollen Einsatz, sagt sie. Die Corona-Pandemie hat seelische Spuren hinterlassen, viele Kinder kommen mit Problemen zu ihr. „Das ist schön, aber auch anstrengend. Wir sind am Limit“, sagt Knapp am Rande der Streikkundgebung in der Kaffeeküche neben dem Turnsaal.

Neben ihr sitzt Ming Gu, der als Freizeitpädagoge an einer Schule im 15. Wiener Bezirk arbeitet und wie Knapp Betriebsrat ist. Er arbeite gerne in dem Bereich, sagt er, man merke, wie wichtig es sei, wenn die Kinder auch abseits des Unterrichts von fachkundigem Personal betreut werde. Aber es gebe Schwierigkeiten: Es brauche mehr Freizeitpädagogen auch für Doppelbesetzungen in den Integrationsgruppen. Wenn eine Kollegin ausfällt, könne das die übrige Belegschaft nur mit Müh„ und Not abfangen. „Ich bin nicht grundsätzlich gegen eine Reform“, sagt Gu. „Aber dafür muss die Regierung mit uns reden. Und nicht über unsere Köpfe entscheiden.“

Moritz Ablinger

Moritz Ablinger

ist seit Mai 2023 Redakteur im Österreich Ressort. Schreibt gerne über Abgründe, spielt gerne Schach und schaut gerne Fußball. Davor beim ballesterer.