Irmgard Griss

Die Überraschung des Wahlkampfs: Irmgard Griss ist immer noch da

Dadaistische Auftritte, peinliche Patzer und trotzdem eine Erfolgswelle, die kaum jemand für möglich gehalten hätte: Das Ein-Personen-Unternehmen Irmgard Griss ist die Überraschung des Bundespräsidentschaftswahlkampfs. Eva Linsinger über die Newcomerin, die etablierte Parteien alt aussehen lässt.

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Ein paar ältere Damen und Herren verlieren sich im Spielautomatensaal, der Roulette-Croupier wartet auf Gäste, die Tische im Restaurant sind so gut wie leer. Nur in einem Nebenraum des Casinos Velden drängt sich an diesem lauen Sommerabend im April Perlenkette an kleines Schwarzes an Abendanzug zur "Ladies Lounge" der Kärntner Wirtschaftskammer. Irmgard Griss tritt in diesem Glitzer-Prosecco-High-Heels-Ambiente nicht anders auf als sonst: praktischer Hosenanzug, flache Schuhe, kontrolliert-kühler Grundton. Auch ihre Rede schillert nicht: Plädoyers für einen legistischen Dienst im Parlament, Überlegungen zum "ambivalenten Verhältnis Österreichs zu Gesetzen". Alles durchdacht, fundiert, wohlformuliert - aber wenig, was zu elektrisieren vermag.

Andere Politiker hätten ein solches Podium genutzt, um irgendwann einen zarten Hinweis auf die Bundespräsidentenwahl einzuflechten. Griss legt Wert darauf, nicht wie andere Politiker zu sein, sondern im Gegenteil eine Anti-Politikerin, unabhängig von Parteien und Ideologien. Das ist ihr größtes Atout und mittlerweile ein Selbstläufer. Selbst nach dem knochentrockenen Vortrag im Casino bekommt sie viel Applaus und Zuspruch, aus einem Umfeld wohlgemerkt, das von der Papierform her eine ÖVP-Bank sein sollte.

Aber in diesem merkwürdigen Wahlkampf zählt Papierform nichts. Niemand hätte vor ein paar Monaten auch nur einen Plastikjeton darauf gewettet, dass Irmgard Griss im April überhaupt noch wahrzunehmen sein würde: Wenn die Großparteien erst ihre Wahlkampfmaschinerie anwerfen, spätestens dann werde das politische Ein-Personen-Unternehmen Griss zur Randnotiz degradiert. Das Gegenteil trat ein: Die filigrane Ex-Höchstrichterin mutierte zur Schutzmantelmadonna der Frustrierten, surft auf der Welle der Politikerverdrossenheit, verstärkt den Unmut über das etablierte Parteiensystem und hat sogar Chancen, in die Stichwahl zu kommen. Sie ist die seriös-soignierte Alternative für jene Protestwähler, denen die FPÖ zu radikal, zu rechts oder zu plump ist. Der bemerkenswerte Hype um die Nicht-Politikerin erzählt fast mehr über den kläglichen Zustand der ehemaligen Großparteien und das Ausmaß, in dem sie in Verruf geraten sind, als über Griss selbst. SPÖ/ÖVP-Reformstau-Verknöcherung sind Folien, vor denen sich prächtig glänzen lässt.

Bunt zusammengewürfeltes Kampagnenteam

Selbst mit einem handgestrickten Wahlkampf, ohne politische Erfahrung und mit einer ungeübten Truppe. Griss hat keine Organisation hinter sich, stattdessen ein bunt zusammengewürfeltes Kampagnenteam: enthusiastische junge Menschen, die sich bisher mit Kulturprojekten, Start-up-Gründungen oder Öko-Förderungen beschäftigten und nun erstmals politische Werbung oder gar Wahlkampf machen. Da sind ein paar Wissenslücken unvermeidlich: Als Griss und ihr Team vor dem Wiener Hauptbahnhof Aufstellung beziehen, werden sie vor laufenden Fernsehkameras von einem ÖBB-Mann höflich, aber energisch darauf hingewiesen, dass Wahlkampfveranstaltungen auf ÖBB-Grund verboten seien. Sie müssen abziehen.

Prinzipiell kann zu Wahlkampfauftritten kommen, wer gerade Zeit und Lust hat. Das mutet teils reichlich dadaistisch an: "Aha, ich dachte, ich müsste Zettel oder so etwas verteilen", sagt Johann Zirkowitsch, eigentlich in der Flughafenseelsorge beschäftigt, kurzfristig aber im Wahlkampf tätig. Er wandert mit Griss durch Wien-Favoriten und weiß nicht so recht, worin seine Aufgabe als Wahlhelfer eigentlich besteht: "Na, dann schreite ich halt einmal zeremoniell mit." Neben ihm stapft Franz-Stefan Meissel, Universitätsprofessor für römisches Recht; auch für ihn ist es offensichtlich der erste Wahlkampfeinsatz seines Lebens.

Viel ist ohnehin nicht zu verhauen. Griss hat sich für ihren Montagsspaziergang durch den traditionsreichen Wiener Arbeiterbezirk Favoriten, den die SPÖ bei der Wien-Wahl vergangenen Herbst nur knapp gegen die FPÖ verteidigen konnte, zielsicher die Morgenstunden ausgesucht. Das minimiert die Kontakte mit potenziellen Wählern spürbar, selbst der berühmte Viktor-Adler-Markt ist zu dieser Zeit nahezu verwaist. "Ist hier immer so wenig los?", fragt Irmgard Griss den einzigen Döner-Kebab-Standler, dessen sie habhaft werden kann. Sie eilt weiter, lässt sich vom Mahnruf der Pressesprecherin ("Langsamer, wir haben 90 Prozent der Medien verloren!") kaum bremsen, kauft Orangen und Spargel und erreicht schließlich den berühmten Eissalon "Tichy". Dort herrscht an diesem kalten Tag um halb zehn Uhr vormittags zwar auch noch gähnende Leere, aber immerhin eine der drei Kundinnen erkennt Griss: "Na, die Frau Doktor, das ist ja allerhand." Eine Favoritnerin ist die Dame nicht, sondern, so wie Griss, aus Graz, dennoch hat sich der Vormittag für Griss gelohnt, befindet sie selbst nicht ohne feine Selbstironie: "Ich war das erste Mal am Viktor-Adler-Markt und das erste Mal beim Tichy, nach dem Motto: Österreichs Jugend lernt die Bundeshauptstadt kennen."

Österreichs Wählerschaft hat Griss mittlerweile kennen gelernt, ihr Startmanko der fehlenden Bekanntheit konnte sie rasch wettmachen, auch durch eine Serie souveräner Fernsehauftritte, in denen Griss sich von manch lümmelndem oder pampigem Mitbewerber durch die mit jeder Faser ihrer Körperspannung vermittelte Botschaft abhob: Ich will wirklich unbedingt Bundespräsidentin werden!

Steile Lernkurve

Taugt eine Superpraktikantin für das höchste Amt im Staat? Griss macht kein Hehl daraus, dass sie mit manchen Wahlkampfritualen fremdelte: "Es war mir anfangs peinlich, so oft das Gleiche sagen zu müssen." Die Erzählung von der einfachen Bauerntochter, die es durch Fleiß und Disziplin zur Höchstrichterin brachte, sitzt mittlerweile recht routiniert, auch ansonsten zeigt Griss eine steile Lernkurve.

Sie stiefelt neugierig durch den Wahlkampf, stellt interessiert Fragen und glänzt durch eifrige Mitarbeit. Etwa in einem Kurzentrum in Althofen im Norden Kärntens. "Wofür macht man Unterwassertherapie?", will Griss wissen. Oder: "Welche Krankheiten werden hier behandelt?" Zum Abschluss demonstriert sie im Versammlungssaal der Klinik vor rund 100 Zuhörern, dass sie zu jedem Thema etwas zu sagen weiß -von Flüchtlingen über Klimaschutz bis zu Zugsverbindungen. Ihre Kernbotschaft: "Ich will meinen Beitrag leisten, dass ein Ruck durchs Land geht."

Griss verfügt über die Gabe, selbst banale Sätze wie "Das wichtigste Buch darf nicht mehr das Parteibuch sein" mit einer eindringlichen Verve vorzutragen. Doch Feuereifer schützt nicht vor manchem Fauxpas - etwa jenem, recht ungeschickt über die Nazi-Zeit herumzudrucksen. Sollte die Newcomerin am Ende tatsächlich in die Hofburg einziehen, kann man nur hoffen, dass ihr einige diplomatisch erfahrene Mitarbeiter zur Seite stehen.

Griss weiß um ihr Manko und versucht, sich mit Menschen zu umgeben, die Expertise verströmen. Andreas Kirchschläger zum Beispiel, bekannt vor allem durch seinen Großvater Rudolf, parteiunabhängiger Bundespräsident von 1974 bis 1986, legendär durch sein geflügeltes Wort vom "Trockenlegen saurer Wiesen". Andreas Kirchschläger, Jurist und Geschäftsführer einer Stiftung in der Schweiz, sitzt Anfang April mit Griss im Wiener "Café Sperl", parliert mit ihr auf hohem Niveau über das 2. Vatikanische Konzil und liberal-christliche Werte und versichert ihr seine Unterstützung: "Bisher war die ÖVP die beste Wahl für mich, diesmal unterstütze ich Griss - wegen ihrer Integrität, ihrer Unabhängigkeit und ihrem Leistungsausweis." Griss lächelt und dankt. Auch für die 2500 Euro, die Kirchschläger für den Wahlkampf spendet.

841.948,75 Euro (Stand: Freitagnachmittag) hat die Grass-Roots-Bewegung von Griss bisher eingesammelt, vor allem aus Kleinbeträgen von zehn oder 20 Euro. Mit dieser für Österreich neuen Form von Kampagnenfinanzierung können die etablierten Parteien kaum umgehen: Die SPÖ versucht, Griss als eiskalte Neoliberale zu brandmarken (weil sie für Studiengebühren ist), die ÖVP hingegen konträr als verkappte Sozialistin (weil sie für Erbschaftssteuern eintritt). Beide tun sich merkbar schwer mit einer Kandidatin, die nicht ideologisch berechenbar agiert.

Demokratiewerkstätten und Bürgerdialoge

Bombastische Veranstaltungen und große Bühnen sind mit Griss' Budget nicht drin. Sie lädt stattdessen zu Demokratiewerkstätten und Bürgerdialogen und reist schier unermüdlich durchs Land. Händeschütteln im Vorbeigehen beherrscht sie nicht, sie sucht das Gespräch und lässt sich intensiv auf ihr Gegenüber ein. Etwa an einem Vormittag in der Klagenfurter Fußgängerzone: Mit einer Frau plaudert sie über ihre eigene Patchworkfamilie, mit einem Ex-Lehrer über die Ungerechtigkeiten des Pensionssystems, mit einem Studenten über TTIP. Vages Schwurbeln ist ihr durchaus geläufig ("Die Weltwirtschaft ist ein großes Thema"), Anbiederung hingegen nicht: Einen Mann, der ihr seine Probleme mit der Mindestsicherung klagt, fragt sie streng: "Und, wie sieht's mit einer Arbeit aus?" Einem anderen Herrn, der ihr vorschlägt, Migranten des Landes zu verweisen, wenn sie sich nicht an die hiesigen Bräuche halten, gibt sie eine Einführung in das Asylrecht und weist seine Forderung nach einem Burkaverbot energisch zurück: "Ein Burkaverbot brauchen wir nicht, das haben bei uns nur Touristinnen aus Saudi-Arabien auf, und da würden Geschäftsleute ordentlich jammern, wenn die nicht mehr kommen. Und wenn ein paar Frauen ein Kopftuch aufhaben, das werden wir wohl aushalten." Der Mann stimmt zu: "Na ja, da haben Sie recht, das hatte meine Großmutter auch auf."

Nur mit Menschen am unteren Rand der Gesellschaft fremdelt Griss. Sie sitzt in einem Wiener Sozialprojekt und plaudert mit Obdachlosen, die versuchen, wieder auf die Beine zu kommen. Ein Mann, gebürtiger Galizier, berichtet von seinen Problemen. Griss antwortet: "Ah Galizien, da bin ich einmal im Frühjahr bei der Ginsterblüte durchgefahren, das war wunderschön." Der Mann will lieber darüber reden, dass er keine Krankenversicherung hat und sein Notquartier bald zusperrt. Griss nickt wortlos.

Später kommt sie ins Sinnieren: "Ich habe seit 40 Jahren eine kleine Wohnung in Wien und kenne offenbar nur einen kleinen Ausschnitt der Stadt."

Wieder etwas gelernt.

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin