Mormonstatus

Viele Amerikaner misstrauen Mitt Romney, weil er Mormone ist

USA. Viele Amerikaner misstrauen Mitt Romney, weil er Mormone ist

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Ein Frühjahrsabend im Jahr 1820 in Manchester, einer Kleinstadt im Westen des Bundesstaats New York. Das 15-jährige Landarbeiterkind Joseph Smith zieht sich zum allabendlichen Gebet in sein Schlafzimmer zurück. Plötzlich erscheint ihm ein Engel, der sich als „Moroni“ vorstellt und von geheimen Goldplatten erzählt, die auf einem nahe gelegenen Hügel vergraben sind.
Vier Jahre später taucht der Engel erneut auf und gibt Smith zu verstehen, dass es nun an der Zeit sei, die Platten aus der Erde zu holen. Joseph Smith folgt der Aufforderung Moronis und entdeckt auf den Goldplatten antike ägyptische Schriftzeichen, die er mithilfe einer magischen Brille enträtselt und ins Englische übersetzen kann.

So weit die Gründungslegende. Ein paar Jahre nach der Privatoffenbarung veröffentlicht Smith die angeblich von ihm entdeckten Schriften unter dem Titel „Das Buch Mormon“. Und gründete die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, kurz LDS genannt. Der Mormonismus, Amerikas erste eigene Religion, ist geboren.

Im Joseph-Smith-Museum in Salt Lake City, Bundesstaat Utah, wird diese Geschichte in einer an Pathos nicht gerade armen Dokumentation im Halbstundentakt gezeigt. Und als ob das noch nicht genug ist, schwirren zusätzlich mormonische Missionare durch die vier Hektar große Tempelanlage, um den Besuchern das Wunder von Joseph Smith in allen Details zu erklären.

„Haben Sie das ,Buch Mormon‘ gelesen?“, fragt Sister Christensen mit verklärtem Lächeln.
„Nein, noch nicht.“
„Bitte machen Sie das!“
„Warum?“
„Es hat mein Leben verändert. Ich bin heute ein glücklicher Mensch. Lesen Sie es, und auch Sie werden glücklicher sein als je zuvor. Wir haben überall auf der Welt Missionare, auch in Wien. Die kommen gerne zu Ihnen nach Hause, geben Sie mir Ihre Adresse.“

Schwester Christensen ist aus Kalifornien nach Salt Lake gezogen, um ein Jahr lang Missionarsdienst zu leisten. Der republikanische Präsidentschaftskandidat Mitt Romney war gerade einmal 19 Jahre alt, als er Mitte der sechziger Jahre zum selben Zweck für zwei Jahre nach Frankreich ging. In Paris und Bordeaux versuchte er, den Franzosen Wein und Gitanes-Zigaretten abzugewöhnen. In dieser Zeit konnte Romney – wie er sich später erinnerte – nicht mehr als „zehn, vielleicht 15 Franzosen“ bekehren.

Doch die Mission ist kein Wettbewerb, sondern soll in erster Linie eine spirituelle Erfahrung für den Mormonen-Nachwuchs sein. „Dabei verlierst du deine Beziehung zu Gott, oder sie wird noch tiefer. Mein Glaube ist in dieser Zeit definitiv noch viel tiefer geworden“, sagte Romney unlängst über seine Zeit in Frankreich. Die LDS-Kirche wiederum muss schon damals die herausragenden Führungsqualitäten Romneys erkannt haben. In Paris wurde er zum Assistenten des Missionspräsidenten in Paris ernannt, die höchste Position, die ein Missionar überhaupt einnehmen kann.

Als Romney in die USA zurückkehrte, zog er auf Wunsch seiner damaligen Freundin und heutigen Ehefrau Ann Davies nach Utah, wo sie gemeinsam an der Brigham Young University (BYU) in ­Provo studierten. Die idyllische Kleinstadt liegt eine gute Autostunde südlich von der Hauptstadt Salt Lake City am Fuße der Wasatchkette, eines Gebirgszugs der ­Rocky Mountains.

Auf den ersten Blick ist der BYU-Campus wie jede andere Universität in den USA: Studenten sitzen in kleinen Gruppen zusammen, manche lernen, andere plaudern oder genießen einfach nur die Mittagssonne. Die Hochschule – benannt nach Brigham Young, dem Nachfolger von Joseph Smith an der Spitze der Mormonen – ist dennoch besonders: 98 Prozent der Studierenden sind Angehörige der LDS. Vor jeder Unterrichtsstunde wird gebetet, Gottesdienste im lokalen Tempel sind obligatorisch. Die Studiengebühren sind vergleichsweise gering, die Absolventen hingegen bestens gebildet und sehr gefragt am amerikanischen Arbeitsmarkt.
In einem strikt einzuhaltenden Verhaltenskodex der Universität heißt es: „Führe ein keusches und tugendhaftes Leben.“ Eine andere Regel besagt: „Enthalte dich alkoholischer Getränke, des Tabaks, Kaffees und des Drogenkonsums.“ Sex vor der Ehe ist ebenso verboten wie Pornofilme. Eine Gruppe von vier Studenten streift über den Campus. Zwei von ihnen erzählen vom Studentenalltag an der BYU.

„Feiert ihr eigentlich Partys?“
„Natürlich, nur eben ohne Alkohol, Zigaretten und Drogen. Und die Feste dauern bei uns auch nie länger als bis Mitternacht“, sagt John, ein Filmwissenschaftsstudent an der BYU.
„Warum nur so kurz?“
„Wir wollen am nächsten Tag ausgeschlafen sein, Gottesdienste besuchen und arbeiten. Lange schlafen und einfach in den Tag hinein leben ist für mich eine echte Sünde“, sagt sein Freund Bryan.
„Habt ihr eine Freundin?“
Stolz präsentiert Bryan seinen Ehering.
„Ich habe vor ein paar Monaten geheiratet, nächstes Jahr werde ich Vater.“
Auf dem Campus schieben viele junge Frauen einen Kinderwagen vor sich her. Die meisten frommen Mormonenfamilien sind überdurchschnittlich kinderreich. Romney macht da keine Ausnahme: Mit seiner Ehefrau Ann hat er fünf Söhne und inzwischen 16 Enkel.

Für glühende Anhänger der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage geht ein Traum in Erfüllung, wenn sie ihre Hochzeitszeremonie im größten und wichtigsten aller mormonischen Gotteshäuser feiern können: dem sechstürmigen Tempel im Zentrum von Salt Lake City. An fast jedem Tag sind hier Hochzeitsgesellschaften zu sehen. Auch die Romneys standen einmal hier und ließen sich feiern. Das war am 22. März 1969.

Wer allerdings kein Mormone ist und von einem Bischof nicht als „tempelwürdig“ empfunden wird, dem ist der Eintritt strengstens verboten. Selbst die Eltern von Ann Romney – beide sind Protestanten – durften an der Hochzeitszeremonie ihrer Tochter nicht teilnehmen.

Ins Innere des Salt-Lake-Tempels gelangt man über ein teuer möbliertes Entree. Dort wachen drei weiß gekleidete ältere Männer hinter einem Schreibtisch und setzen finstere Mienen auf, als sich der Besucher nähert.

„Haben Sie einen Ausweis für den Tempel“, fragt einer der Männer.
„Nein.“
„Dann gehen Sie bitte wieder.“
„Darf man nicht einmal einen kurzen Blick in Ihren Tempel werfen?“
„Auf keinen Fall, gehen Sie, sofort!“
„Vielleicht ein Foto?“
„Schluss jetzt, bitte verlassen Sie das Gebäude.“

Schon lange steht die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage unter dem Generalverdacht, in Wahrheit eine perfide, geheimbündlerische Sekte zu sein, zumal niemand weiß, was bei Zeremonien in diesen Tempeln eigentlich so passiert. Bis vor einigen Jahren sollen Tempelbesucher sogar einen Blutschwur geleistet haben, dass sie niemals die Geheimnisse der Gemeinde nach außen tragen.

Bekannt ist Folgendes: In den meisten Tempeln gibt es getrennte Umkleidekabinen für Männer und Frauen. Dort legen die Gläubigen weiße Gewänder an, die sie in Spinden aufbewahren. Einige Männer tragen zudem eine traditionelle „heilige“ Unterwäsche, die sie stets an ihre Verbindung mit Gott erinnern soll – eine Tatsache, die Romney in den vergangenen Monaten viel mediales Gespött einbrachte. Es wurde gemutmaßt, der republikanische Präsidentschaftskandidat trage unter dem stets zugeknöpften Anzug auch bei Wahlkampfauftritten die geweihte Trikotage.

Romney wollte diese Gerüchte weder bestätigen noch dementieren. Noch bizarrer mutet die so genannte Totentaufe an, bei der Verstorbene rückwirkend zu Mitgliedern der LDS geweiht werden. Nach mormonischem Glauben sind dafür allein die Kenntnis des korrekten Namens sowie die Geburts- und Sterbedaten notwendig. Es ist daher kein Zufall, dass sich keine zwanzig Meter neben dem Tempel das umfangreichste genealogische Archiv der Welt befindet: Die Datenbank „Familysearch“ verfügt über eine Milliarde Einträge.

„Ich habe schon oft Ahnen oder verstorbene Freunde posthum taufen lassen“, erzählt Eric Stevenson, der in der Nähe von Provo eine Farm betreibt.
„Warum macht man so etwas?“
„Man nimmt Kontakt mit seinen Ahnen auf und will ihnen die Möglichkeit geben, sich taufen zu lassen, was ihnen vielleicht zu Lebzeiten nicht möglich war.“
„Und woher weiß man, ob die Toten das wollen?“
„Man fragt sie einfach um Erlaubnis.“

Die Totentaufe geriet ins schiefe Licht, als vor ein paar Jahren an die Öffentlichkeit drang, dass sie lange Zeit auch auf zahlreiche verstorbene Opfer des Holocausts angewandt wurde. Wen Mitt Romney im Laufe der vergangenen Jahrzehnte posthum taufen wollte, hat er freilich nie öffentlich gesagt. Es ist aber anzunehmen, dass seine eigenen Vorfahren nicht unter den Auserwählten waren. Denn die Familie Romney ist ohnehin seit Generationen mit der Kirche verbunden.

Urgroßvater Miles Park Romney war einer der Ersten, der sich um 1830 der vom Staat verfolgten Sekte anschloss. Während Joseph Smith und seine Anhänger in der Salzwüste Utahs das Gelobte Land erkannten und ihren eigenen Mormonenstaat aufbauten, wurde Miles Romney mit der Gründung eines Außenpostens in Mexiko betraut. Dem Aufruf, mehrere Nachkommen zu zeugen, kam er gerne nach: Er hatte fünf Frauen und um die 30 Kinder. ­Polygamie wurde von der LDS-Führung zwar um die Jahrhundertwende abgeschafft, eine ­fundamentalistische Abspaltung hält diese Praxis aber bis heute aufrecht.

Auch Mitt Romneys Vater George Romney wurde in Mexiko geboren, Mitt hat dort etliche Cousins und Cousinen. In ihrer soeben erschienenen Biografie über den „echten Romney“ („The Real Romney“) machen sich Michael Kranish und Scott Helman nicht nur auf die Suche nach den mexikanischen Wurzeln des republikanischen Präsidentschaftskandidaten – sie beschreiben auch Romneys Zeit als mormonischer Laienbischof in Belmont, einem Vorort von Boston. In dieser Funktion war Romney Anfang der achtziger Jahre für knapp 4000 Glaubensmitglieder verantwortlich.
Eines seiner Schäfchen war Peggie Hayes. Die damals 23-Jährige war schwanger, aber frisch geschieden. Ein Fall für Bischof Romney: Er habe ihr mit der Exkommunikation gedroht, falls sie das Kind nicht gemäß der mormonischen Sitte zur Adoption freigebe, schreiben Kranish und Helman in ihrem Buch. Hayes entschied sich letztlich für das Kind und gegen die Kirche der Heiligen der Letzten Tage.

Nicht alle Mormonen hätten so gehandelt. Ein Mann, der genau weiß, was ein Ausschluss aus der Kirche für einen Mormonen bedeutet, ist Shawn McCraney. Der Mittfünfziger wuchs selbst als Mormone auf, ehe er mit 18 freiwillig austrat und seither die Widersprüche und Lügen der Mormonen aufdeckt. „In Utah, wo zwei Drittel der 2,7 Millionen Einwohner Mormonen sind und die Kirche Politik, Medien und Gesellschaft bestimmt, begehen viele Leute Selbstmord, wenn sie ausgeschlossen werden“, sagt McCraney, der heute eine bissige TV-Show namens „Heart of the Matter“ in Salt Lake City moderiert und Ex-Mormonen Hoffnung auf ein neues Leben geben möchte. „Man kann sich das kaum vorstellen: Familien und Freunde brechen den Kontakt ab, man wird wie ein Schwerverbrecher behandelt.“

*

Es gibt einen wesentlichen Grund, warum Protestanten und Katholiken die Mormonen als Sektierer betrachten: Die Angehörigen der LDS glauben nicht nur, Gott sei einmal ein Mensch gewesen – sie sind auch überzeugt, dass Menschen Götter werden und einen eigenen Planeten beherrschen können. Wer so etwas glaubt, „darf niemals US-Präsident werden“, fordert Tricia Erickson, Autorin des Buchs „Can Mitt Romney serve two masters?“ („Kann Mitt Romney zwei Herren dienen?“).

Solche Ängste scheinen überzogen. Ex-Präsident Ronald Reagan hatte Dutzende Minister und Berater um sich, die Mormonen waren und niemals durch persönliche Glaubenskonflikte auffällig wurden. Auch Mitt Romney ist alles andere als ein politischer Neuling: 2002 war er eine Legislaturperiode lang Gouverneur von Massachusetts, wo er sich als gewiefter Pragmatiker profilierte.

In vielerlei Hinsicht sind die mormonischen Glaubensgrundsätze mit den protestantischen Idealen der Amerikaner vergleichbar. Erziehung und frühkindliche Förderung haben einen großen Stellenwert, frei nach dem Motto: Wer fleißig ist, wird im Jenseits von Gott reich belohnt.

Die Riten der Mormonen mögen seltsam erscheinen. Nüchtern betrachtet haben aber auch die Mainstream-Religionen Gründungsmythen, die jener der LDS an Verrücktheit kaum nachstehen. Es mag gute Gründe geben, den republikanischen Präsidentschaftskandidaten Mitt Romney nicht zu wählen: sein radikal wirtschaftsliberaler Kurs etwa; seine Forderung nach einem Abtreibungsverbot; oder sein Wunsch, die reichsten Amerikaner steuerlich zu entlasten – ob sein Glaube in der Wahlkabine eine entscheidende Rolle spielt, das weiß im religionsaffinen Amerika derzeit nur Gott.