Interview

VfGH-Präsident Grabenwarter: „Die Verfassung ist kein Wunschkonzert“

VfGH-Präsident Grabenwarter argumentiert, dass eine Demokratie auch unangenehme Demonstrationen aushalten muss. Er hielte es für eine gute Lösung, dass Verfassungsrichter nicht nebenbei als Anwälte arbeiten dürfen und appelliert, das Bundesverwaltungsgericht bald zu besetzen.

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Seit dem Angriff auf Israel finden in der Wiener Innenstadt Demonstrationen und Anti-Israel-Gegendemonstrationen statt. Sollten sie untersagt werden?
Christoph Grabenwarter
Die Versammlungsfreiheit gehört zu den ersten Errungenschaften der liberalen Bewegung des 19. Jahrhunderts und ist ein Kerngrundrecht der Demokratie. Daher darf die Polizei nur dann eingreifen, wenn es unbedingt erforderlich ist, wenn also Gefahr von der Demo ausgeht oder Gewaltbereitschaft vorliegt. Das müssen Einsatzkräfte vor Ort beurteilen und die Schranken richtig austarieren.
Gelang das bisher?
Christoph Grabenwarter
Der Verwaltungsgerichtshof und der Verfassungsgerichtshof kontrollieren erst danach. Neu an den Fällen ist, dass Konflikte im Ausland zu Konflikten werden, die in Österreich ausgetragen werden.
Wie bei manchen Corona-Demos wird die Polizei kritisiert.
Christoph Grabenwarter
Uns erreichten damals hauptsächlich Beschwerden wegen Verletzung der Maskenpflicht. Der VfGH hat in keinem Fall das Vorgehen der Behörden beanstandet.
Bis zu einem gewissen Grad muss also eine Demokratie unangenehme Demonstrationen aushalten?
Christoph Grabenwarter
So ist es.
Es gab im Sommer viele Ideen, was in die Verfassung kommen soll: Bargeld oder Zugang zu Seen. Was davon haben Sie bisher in der Verfassung vermisst.
Christoph Grabenwarter
Der Seenzugang steht sogar in der Kärntner Landesverfassung.
Mit wenig Konsequenzen: Kärntens Seen sind sehr verbaut.
Christoph Grabenwarter
Es steht als Staatsziel in der Kärntner Verfassung, wie Nachhaltigkeit oder Tierschutz in der Bundesverfassung. Die Verfassung ist kein Wunschkonzert. Wir im Verfassungsgerichtshof definieren nicht, welche Regelungen wir vermissen. Staatsziele legt die Politik fest. Und in politische Debatten habe ich mich nicht einzumischen.
Seit 2013 steht Nachhaltigkeit in der Verfassung, sie soll Lebensqualität für künftige Generationen sichern. Daher haben Jugendliche beim VfGH das Klimaschutzgesetz eingeklagt. Der VfGH hat das abgewiesen und wurde dafür kritisiert. Verstehen Sie die Kritik?
Christoph Grabenwarter
In derselben Woche haben wir in einem Fall zu fossilen Brennstoffen ausführlich die Schutzpflichten des Gesetzgebers bei Umweltbeeinträchtigungen dargelegt. Daher halte ich die Kritik für nicht berechtigt. Wir können nur Anträge mit dem korrekten Anfechtungsumfang behandeln. Die Klage der Jugendlichen betraf auch Kompetenzen der Bundesländer. Daher haben wir sie zurückgewiesen und gar nicht inhaltlich geprüft.
Höchstgerichte in anderen Staaten ließen die Klage zu.
Christoph Grabenwarter
Die Situation in Deutschland war anders, weil dort das Klimaschutzgesetz anders ist. Warten wir einmal ab, was der Europäische Gerichtshof mit der Beschwerde der portugiesischen Jugendlichen macht. Auf diese Entscheidung warten wir als VfGH gespannt. Der VfGH hat sich in der Vergangenheit danach gerichtet. Prinzipiell weichen wir als VfGH gesellschaftspolitisch heiklen Themen nicht aus. Wir haben zur Ehe für alle genauso geurteilt wie zur Sterbehilfe.
Wie politisch muss ein Höchstgericht sein? Bei Homosexuellen-Rechten hat der VfGH Fakten geschaffen und jahrelange Untätigkeit der Regierungen korrigiert.
Christoph Grabenwarter
Aber ein Höchstgericht darf nicht politisch agieren. Unser Maßstab ist ein rechtlicher, geregelt von der Bundesverfassung. Das unterscheidet uns von der Politik. Politisch ist der VfGH nur, weil seine Entscheidungen Auswirkungen haben. Das ist unvermeidlich, weil wir die Kompetenz haben, Gesetze aufzuheben.
Tut sich das Höchstgericht bei gesellschaftspolitisch heiklen Themen manchmal sogar leichter als die Politik? Verfassungsrichter müssen im Gegensatz zu Politikern immerhin nicht wiedergewählt werden.
Christoph Grabenwarter
Richterliche Unabhängigkeit ist ein hohes Gut und verpflichtet dazu, nicht auf Mehrheiten zu schauen. Ein Verfassungsgericht hat häufig die Rechte von Minderheiten im Blick zu behalten, die sich nicht immer von einer parlamentarischen Mehrheit unterstützt sehen.
Das gilt auch für Asylfälle. Wie viel Prozent Ihrer Arbeit machen die aus?
Christoph Grabenwarter
Grob gesprochen ist jede zweite unserer Entscheidungen eine im Asyl- und Fremdenrecht. Dieser Wert ist seit 15 Jahren konstant. Wir haben uns so aufgestellt, dass wir jeden Asylfall binnen drei bis vier Monaten entscheiden. Da geht es um fundamentale Rechte, da muss es rasche Entscheidungen geben.
Die Stelle des Präsidenten oder der Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts ist seit fast einem Jahr unbesetzt. Sie saßen damals in der Ernennungskommission und kürten eine Erstgereihte. Trotzdem kann sich die Regierung seit einem Jahr nicht einigen.
Christoph Grabenwarter
Alle Beteiligten sollten sich bemühen, möglichst rasch Entscheidungen zu treffen, damit die volle Besetzung im Bundesverwaltungsgericht gegeben ist. Dass die Spitze nicht besetzt ist, hat aber keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Rechtsprechung. Auch der VfGH wurde vor vier Jahren knapp neun Monate vom Vizepräsidenten geleitet.
Von Ihnen – weil Präsidentin Brigitte Bierlein nach dem Ibiza-Skandal als Bundeskanzlerin einer Übergangsregierung einsprang.
Christoph Grabenwarter
Ja. Es war eine herausfordernde Situation, weil die Zahl der Fälle nicht stehen blieb und wichtige Entscheidungen zu treffen waren. Besser ist es also, wenn solche Stellen besetzt sind.
Sabine Matejka, ehemals Vorsitzende der Richtervereinigung, ist Bestgereihte und kritisiert, dass es für die Besetzung unabhängiger Gerichte kein politisches Hickhack geben soll.
Christoph Grabenwarter
Zum konkreten Fall äußere ich mich nicht, weil ich Mitglied in der Ernennungskommission war. Generell zur Bestellung von Richtern: Es ist in Europa üblich, dass demokratisch legitimierte Organe – also Parlamente, das Staatsoberhaupt oder die Regierung – Richter ernennen. Wenn diese Form von politischer Abstimmung dazu führt, dass sich hervorragende Juristinnen und Juristen nicht bewerben, dann kann das den Rechtsstaat gefährden. Wir in Österreich haben aber eine sehr wache Justiz. Auch im VfGH ist ein hohes Bewusstsein für die richterliche Unabhängigkeit da. Auch wenn wir alle einmal vom Nationalrat, vom Bundesrat oder von der Bundesregierung bestellt wurden, spielt das für unsere Urteile keine Rolle. Wir Verfassungsrichter haben das Privileg, bis zum 70. Lebensjahr ordentliche Richter bleiben zu können, und zwar völlig unabhängig vom Ausgang von Wahlen. Dieses Privileg haben wenige Berufsgruppen. Das verpflichtet zu unabhängiger Amtsführung.
Wie passt zu diesem hehren Anspruch, dass VfGH-Mitglied Michael Rami als Anwalt für FPÖ-Politiker wie Heinz-Christian Strache oder Promis wie Florian Teichtmeister arbeitete? Oder dass VfGH-Ersatzmitglied Werner Suppan ÖVP-Anwalt ist und Bernhard Bonelli im Kurz-Prozess vertritt?
Christoph Grabenwarter
Wir ignorieren diese Diskussion nicht. Rami hat mittlerweile sämtliche Mandate mit Bezug zu Politikern zurückgelegt. Und Werner Suppan ist zwar Ersatzmitglied, wird aber nicht einberufen, um derartige Nähe und Befangenheitskonstellationen zu vermeiden.
In Deutschland dürfen Verfassungsrichter an Universitäten unterrichten, aber nicht als Anwälte arbeiten. Sollte Österreich das ähnlich regeln?
Christoph Grabenwarter
Das wäre sicher eine Lösung. In der Ersten Republik bis 1929 konnten Verfassungsrichter sogar Politiker sein, etwa Friedrich Austerlitz, Nationalratsabgeordneter und Chefredakteur der „Arbeiterzeitung“. Wir sind in Österreich international ein Ausnahmefall, auch weil wir seit den 1920er-Jahren bestehen und damit eines der ältesten Verfassungsgerichte sind. Aus dieser Zeit stammen die Regeln. Wir können sie nur bestmöglich leben, indem wir uns in unseren Ausgangsberufen sehr zurückhalten.
Aber eine grundsätzliche Reform wäre Ihnen lieber?
Christoph Grabenwarter
Man muss das sorgfältig diskutieren und darf nur an kleinen Schrauben drehen. Eine überhastete Regelung schadet mehr als sie nützt.
Wolfgang Brandstetter wechselte seinerzeit direkt aus der Regierung in den VfGH. Die Koalition wollte ähnliche Fälle verhindern und eine Abkühlphase beschließen. Kommt das noch?
Christoph Grabenwarter
Wir entscheiden nicht über das Zustandekommen von Gesetzen. Es gibt schon eine Abkühlphase für Mitglieder des Parlaments. Ähnlich könnte man es für Mitglieder der Regierung regeln. Es geht einfach um das Problem des Anscheins. Ein Verfassungsgerichtshof lebt vom Vertrauen: Alles, was das Vertrauen gefährdet, muss man möglichst hintanhalten.
Brandstetter war nicht nur wegen Interessenskonflikten ein Problem, sondern auch wegen Ermittlungen gegen ihn.
Christoph Grabenwarter
Dazu äußere ich mich nicht mehr.
Wurde nach der Ibiza- und Chat-Affäre genug getan, um Korruption und Postenschacher zu verhindern?
Christoph Grabenwarter
Wir haben ein Staatsgrundgesetz aus 1867, das im Artikel 3 gleiche Zugänglichkeit zu öffentlichen Ämtern garantiert. So viel zur Verfassungsrechtslage. In der Realität muss es ein ständiges Bemühen sein, auch um Transparenz.
In den berüchtigten Chats entsteht ein anderer Eindruck, nämlich dass es sich manche richten.
Christoph Grabenwarter
Ja.
Der VfGH beschäftigt sich mit der Grundsatzfrage, wann Handys abgenommen werden können. Ist das derzeit zu lax geregelt?
Christoph Grabenwarter
Wir hatten dazu vor dem Sommer eine Verhandlung. Wir prüfen derzeit, ob die Rahmenbedingungen in der Strafprozessordnung hinreichend sind und werden in den nächsten drei bis sechs Monaten eine Entscheidung treffen.
Das Gesetz stammt aus 2008, da war Chatten mit WhatsApp noch gar nicht erfunden.
Christoph Grabenwarter
Die Technik hat sich in den vergangenen 20 Jahren rasant entwickelt, schneller als seit der Erfindung des Telefons. Auch deswegen werden wir in Ruhe beraten. Wir lassen uns nicht drängen. Es wird ohnehin an zu vielen Orten zu aufgeregt debattiert. Es ist nicht nur ein österreichisches Phänomen, aber ich beobachte, dass sich der Umgang im öffentlichen Diskurs und auch in den sozialen Medien in den letzten zehn Jahren gewandelt hat.
Hat das mit Corona zu tun?
Christoph Grabenwarter
Grabenwarter: Sicher auch.
Der VfGH war in den vergangenen beiden Jahren viel mit der Aufarbeitung von Corona-Gesetzen beschäftigt, zuletzt wurde die Cofag, zuständig für Auszahlung der Corona-Hilfen, für rechtswidrig erklärt. Ist damit die Corona-Zeit aus Sicht des VfGH abgeschlossen?
Christoph Grabenwarter
Mit Prognosen bin ich sehr vorsichtig, seit Corona noch mehr. Wir hatten von der Impfpflicht bis zu Ausgangssperren viele Fragestellungen. Das waren sicher schwierige Verfahren, noch dazu unter Zeitdruck.
In Niederösterreich zahlt der Corona-Fonds Corona-Strafen zurück. Wie beurteilen Sie das?
Christoph Grabenwarter
Ich bewerte das nicht, das spielt sich im politischen Feld ab.
Ihre Spezial-Expertise ist Medienrecht. In einem Fachkommentar zur Rundfunkfreiheit in Deutschland im Jahr 2018 zitierten Sie ein Urteil des Menschengerichtshofs zu Moldau. Nun hat der VfGH die ORF-Gremien teilweise aufgehoben, weil die Regierungsparteien eine zu große Mehrheit haben. Gibt es irgendwo eine Ideallösung?
Christoph Grabenwarter
Der Blick von der britischen BBC bis zur sehr intensiven deutschen Diskussion zeigt vereinfacht: Das Ei des Kolumbus haben wir nirgends gefunden. Es gibt überall das Spannungsverhältnis, wie sehr die Regierung auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk Einfluss nimmt. Es gibt in keinem Nachbarstaat ein Vorbild, das man 1:1 auf den ORF übertragen könnte.
Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin