Auf Schildern wird quer durchs Land nach Mitarbeitern gesucht

Vier-Tage-Woche: Was hilft gegen den Arbeitskräftemangel?

Quer durch Österreich finden Betriebe kein Personal. Ist es zu bequem, arbeitslos zu bleiben? Oder braucht es Experimente wie die Vier-Tage-Woche?

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Die Bezahlung ist mit 4000 Euro brutto pro Monat nicht gerade lausig, der Arbeitsort, 14 Kilometer entfernt vom Attersee, auch nicht übel. Dennoch meldet sich seit drei Monaten kein einziger Elektrotechniker, der den ausgeschriebenen Job bei der Firma Haginger Maschinenbau im Bezirk Vöcklabruck in Oberösterreich haben will. "Es ist momentan extrem schwierig, Leute zu finden. Wir suchen für mehrere Jobs schon lange", seufzt Christoph Wieder, der Geschäftsführer des Traditions-Maschinenbaubetriebs. Fachkräfte im Technikbereich waren schon vor Corona rar. Die Pandemie habe aber die Einstellung geändert, glaubt Wieder: "Wer ein paar Monate zu Hause sitzt, verliert die Lust, arbeiten zu gehen."

Diese Schlussfolgerung ist ein Extremfall - Wieders Problem aber alles andere als ein Einzelfall. Pleitewellen und lang anhaltende Massenarbeitslosigkeit wurden bei Ausbruch der Corona-Krise prophezeit - allesamt Fehlprognosen. Die Realität: Die Wirtschaft brummt, die Arbeitslosigkeit ist mit 268.028 Jobsuchenden niedriger als vor der Pandemie, in Bundesländern wie Oberösterreich oder Salzburg herrscht gar Vollbeschäftigung, Arbeitskräfte mutieren zu Mangelware. Quer durch die Branchen und Regionen werden dringend Beschäftigte gesucht: Tischler. Küchenchefinnen. Pfleger. Programmierer. Die Zahl der offenen Stellen hat mit 120.000 einen neuen Rekordwert erreicht.

Muss mehr Druck auf Arbeitslose ausgeübt werden?

Gleichzeitig klettert die Zahl der Langzeitarbeitslosen auf 170.000. Das heizt eine Diskussion neu an, die in Österreich immer wieder geführt wird: Muss mehr Druck auf Arbeitslose ausgeübt werden? Bisher endeten derartige Debatten flugs in eingefahrenen ideologischen Schützengräben, die Wirtschaftsseite donnerte "soziale Hängematte", die Gewerkschaft schmetterte "soziale Kälte" - und es änderte sich gar nichts. Arbeitsminister Martin Kocher, der unabhängige Experte auf ÖVP-Ticket, sucht nicht nach Reflex-Antworten, sondern plant eine ernsthafte Reform von Arbeitsmarkt und Arbeitslosenversicherung. Diese Woche ist er in Schweden auf Fact-Finding-Mission. Die unerwartet gute Lage am Arbeitsmarkt öffnet ein Fenster für eine sachliche Debatte, Kocher könnte die richtige Person sein, sie zu führen.

Denn gewiss ist: Druck allein wird das Problem nicht lösen, es braucht auch Mut zu Experimenten. Mariahof, eine 1300-Einwohner-Gemeinde im steirischen Murtal. Die dortige Tischlerei Schneider hat viele Aufträge, ist bis Februar 2022 ausgelastet, will eigentlich wachsen, die neue Fertigungshalle ist schon im Bau. Bloß: Personal war nicht und nicht zu finden. Zu den bisherigen elf Tischlern und Hilfskräften sollten fünf weitere eingestellt werden "Zwei Jahre lang haben wir dafür beim AMS gesucht, es kam nichts", erzählt Juniorchef Johannes Forstner. Dann hatte der 26-Jährige eine Idee: Er bot zwei Arbeitszeitmodelle an-arbeiten von 6 Uhr bis 14.30 Uhr, Montag bis Freitag. Oder: Arbeiten von 6 Uhr bis 16.30 Uhr, Montag bis Donnerstag. Vorige Woche stellte er vier Schilder in die Wiese mit "Bei uns hat die Woche vier Tage", postete das auf Facebook - und ist überwältigt: "Wir bekamen 50 Bewerbungen, aus Vorarlberg, Wien, Deutschland, sogar der Türkei, auch aus der Umgebung." Forstner zieht daraus den Schluss: "Freizeitblöcke sind gerade Jüngeren wichtig. Die Zahl der Arbeitsstunden bleibt gleich, nur die Arbeitszeit verteilt sich anders. Mit solchen Benefits zieht man Mitarbeiter an."

"Man kann den Arbeitskräftemangel auch als Chance sehen"

Das ist kein österreichisches Phänomen. Die Rekordzahl von zehn Millionen offenen Stellen wird derzeit in den USA gelistet, "Help wanted"-Schilder hängen quer durchs Land. Unternehmen locken mit Prämien und Goodies: In manchen McDonald's-Filialen bekommen neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein iPhone überreicht, die Sandwichkette Jersey Mike's zahlt bis zu 10.000 Dollar zusätzlich pro Jahr, der Einzelhandelsriese Walmart übernimmt Studiengebühren von Beschäftigten.

"Man kann den Arbeitskräftemangel auch als Chance sehen: für bessere Arbeitsplätze, höhere Löhne und mehr Steuern", analysiert Marcel Fratzscher, Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Er will den Arbeitskräftemangel nicht beklagen, sondern erhofft sich dadurch einen Modernisierungsschub.

Sind das verkopfte Theorien eines Wissenschafters? Gar Wunschträume, die mit der Realität nichts zu tun haben? Oder hat Fratzscher recht?

Wer Antworten auf diese Fragen sucht, kann sie bei Peter Sticht finden. Er ist Geschäftsführer des oberösterreichischen Familienunternehmens Stiwa, spezialisiert auf Hochleistungsautomation, elf Werke in vier Ländern, China, USA, 2200 Mitarbeiter. Sticht sagt: "Es ist ein Kampf um die besten Köpfe, auf 20 offene Stellen kommt ein Bewerber. Man muss Mitarbeitern etwas bieten: Unternehmenskultur, Betriebsklima, ansprechende Büros. Oder: Vor Corona waren wir restriktiv, mittlerweile kann auch jeder im Homeoffice arbeiten." Sticht ist überzeugt, dass ein tiefgreifender Wandel einsetzt: "Selbst im China findet man keine Leute mehr, die bereit sind, stupid Dinge von A nach B zu tragen. Der Arbeitskräftemangel wird Innovation und Automatisierung befördern." Sein Lösungsvorschlag: Ausbildung, bessere Schulen, zielgerichtete AMS-Kurse.

Zuverdienst als "Fehlanreiz"?

Experten sehen zudem Änderungsbedarf beim Arbeitslosengeld: Minister Kocher überlegt, das Arbeitslosengeld degressiv zu gestalten - zuerst höher, dann absinkend, um Impulse zu geben, sich rasch wieder einen Job zu suchen. Im Visier von Experten vom Arbeitsmarktservice ist auch die Möglichkeit, sich zum Arbeitslosengeld für einige Wochenstunden Arbeit monatlich 475 Euro dazuzuverdienen. "Fehlanreiz" heißt das im Fachsprech, weil der Zuverdienst dazu verführen kann, sich keinen Job zu suchen, sondern in der Mischung aus Arbeitslosengeld, Zuverdienst (plus vielleicht Schwarzarbeit) zu verharren.

Jacqueline Beyer, die Chefin des Salzburger Arbeitsmarkt-Service, kann vorrechnen, warum sie den Zuverdienst für einen Fehlanreiz hält: Das durchschnittliche Arbeitslosengeld für Hilfsarbeiter in Salzburg beträgt 950 Euro, an Zuverdienst sind 475 Euro möglich (brutto und je zwölf Mal pro Jahr). Zum Vergleich: Ein Abwäscher in der Gastronomie verdient 1570 Euro brutto (14 Mal pro Jahr). Der Unterschied motiviert nicht rasend, sich einen Vollzeitjob zu suchen. Die Reform des Arbeitslosengeldes wird das wohl ändern. Ausschließlich mit mehr Druck lässt sich aber nicht jede offene Stelle besetzen, warnt Beyer: "Viele Unternehmen wollen Wunderwuzzis als Beschäftigte." Und keinesfalls jemand über 50.

Fast Hälfte der Langzeitarbeitslosen älter als 50 Jahre

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Mit 42 Prozent ist fast die Hälfte der Langzeitarbeitslosen älter als 50 Jahre. Seit Langem wird reihum beklagt, dass Österreichs Arbeitsmarkt altersfeindlich ist. Wer den Arbeitsplatz verliert, findet schwer wieder einen, die Tradition der Frühpensionistis hat Spuren hinterlassen. Vielleicht gelingt es in Zeiten des Arbeitskräftemangels endlich, diese Unsitte zu ändern.

"Erst bei Arbeitskräftemangel strengen sich Politik und Unternehmen an, Ältere, Frauen, Arbeitslose in Jobs zu bringen", sagt Markus Marterbauer, Chefökonom der Arbeiterkammer. Und bringt zwei Beispiele: Derzeit sind in der Alterskohorte zwischen 60 und 64 Jahren rund 30 Prozent in Beschäftigung. Würde diese Quote um 15 Prozentpunkte gesteigert (was im vergangenen Jahrzehnt gelang), brächte das 90.000 zusätzliche Menschen in Jobs. Oder: Die Frauenerwerbsquote liegt bei 68 Prozent. Eine Anhebung auf das Niveau der Niederlande (74 Prozent) würde 174.000 Personen in Arbeit bringen.

Auch Wirtschaftskammer-Generalsekretär Karlheinz Kopf hat das "Riesenpotenzial" von Frauen für den Arbeitsmarkt im Visier: Mit 47 Prozent arbeitet fast jede zweite Frau Teilzeit, bei Weitem nicht alle davon freiwillig, sondern weil Kindergärten mittags zusperren oder (vor allem in ländlichen Regionen) gar nicht vorhanden sind. Kopf plädiert daher für ein Recht auf einen Kinderbetreuungsplatz (siehe Interview), zuerst ab dem zweiten, dann ab dem ersten Lebensjahr des Kindes. Derartige Töne sind für ÖVP-Politiker neu - der Arbeitskräftemangel führt offenbar zum Umdenken.

Zumindest eine Branche bräuchte schnelle Lösungen: die Gastronomie. Während der langen Lockdowns ist ein Drittel der Beschäftigten abgewandert, rund die Hälfte davon hat sich mit der Corona-Job-Offensive umschulen lassen und hat jetzt keine Lust mehr aufs Arbeiten an Wochenenden und abends. Arbeitskräfte aus dem EU-Raum sind in der Pandemie in ihre Heimatländer zurückgekehrt und dort geblieben .

Das Resultat kann etwa Ernst Pühringer beschreiben, der zwei Hotels und Gasthöfe wie die "Hölle" neben dem Friedhof in der Stadt Salzburg betreibt. Er sucht dringend Abwäscher und würde mittlerweile 1600 Euro netto bezahlen - und findet dennoch niemand. "Wenn das AMS jemand schickt, bleiben die nur ein paar Tage", klagt er. Und: "Die Jungen wollen nur chillen und Freizeit."

Seine Notlösung: Der Küchenchef und er waschen derzeit selbst ab.

 

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin