Webfehler

Webfehler: Die Kapitulation des Indivi­duums vor den Algorithmen

Internet. Die Kapitulation des Individuums vor den Algorithmen

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Die beste Nachricht des Jahres stammt natürlich aus dem Fundus von WikiLeaks. Sie betrifft ausnahmsweise keine Botschafter, sondern das Medium selbst: In den vergangenen Wochen wurde anschaulich demonstriert, dass das Internet immer noch sehr verwirrend sein kann. Das ist tatsächlich eine gute Nachricht – auch wenn die meisten Menschen das tendenziell ganz anders sehen, weil sie Sicherheit, Übersichtlichkeit und Unkompliziertheit verständlicherweise bevorzugen. Aber ihnen wird im Internet derzeit ohnehin recht erfolgreich geholfen, von Apple zum Beispiel oder von Facebook und nicht zuletzt von Google. Das wiederum ist ganz und gar keine gute Nachricht, weil das Internet, wie wir es kennen, die Unordnung braucht und mit dem Chaos seinen zentralen Wesenszug verliert. Damit könnten aber auch ein paar Hoffnungen verschüttet werden, die gemeinhin mit dem Internet verbunden werden – mehr Freiheit, Gleichheit, Öffentlichkeit, mit einem Wort: mehr Demokratie.

Das soll nicht heißen, dass „Cablegate“ einen großartigen demokratiepolitischen Fortschritt darstellt. Im Wesentlichen offenbarte die Veröffentlichung Zigtausender diplomatischer Dossiers nur den außenpolitischen Hochmut der Immer-noch-Weltmacht USA. Das ist nicht nichts, aber auch nicht sehr viel mehr. Was die Debatte über WikiLeaks wirklich interessant macht, ist vor allem die Nichtigkeit ihres Anlasses: Dass Auslandsdiplomaten ihre Regierungen mit vertraulichen Einschätzungen zur politischen Lage und zum politischen Personal in ihrem Gastland versorgen, wusste man schon vorher. Dass diese Einschätzungen nicht immer ganz ­diplomatisch ausfallen, konnte man zumindest ahnen. Die eigentlich brisanten WikiLeaks-Veröffentlichungen des ­vergangenen Jahres – Belege für staatlich protegierte Korruptionsfälle und vertuschte Kriegsverbrechen – gingen im Geschnatter der vergangenen Wochen fast vollständig unter.

Die Gründe für diese seltsame kognitive Dissonanz liegen auf der Hand. Ältere, wesentlich brisantere WikiLeaks-Veröffentlichungen offenbarten einen klaren Sinn, nämlich Unrecht aufzudecken und die Verantwortlichen für dieses Unrecht, wenn schon nicht zur Verantwortung zu ziehen, so doch immerhin bloßzustellen. Das war leicht zu überschauen und auch leicht einzuschätzen. „Cablegate“ hingegen offenbarte keinen vergleichbaren Sinn und hinterließ ein entsprechend mulmiges Gefühl. Das Internet hatte sich als ziemlich verwirrend erwiesen, vor allem aber als ziemlich uneinschätzbar – auch in einem moralischen Sinn: Was ist gut? Was schlecht? Und wer entscheidet das eigentlich? Man muss kein Philosoph sein, um diese Fragen wichtig zu finden. Genau deshalb erregt „Cablegate“ so außergewöhnliche Aufmerksamkeit, trotz seiner grundlegenden Banalität. Und das ist durchaus eine gute Nachricht.

Am 5. Dezember präsentierte die deutsche Ausgabe der Online-Enzyklopädie Wikipedia ihren Usern als „Artikel des Tages“ das Thema „Ziviler Ungehorsam“. Die Autoren formulierten gespreizt, aber zutreffend: „Durch einen symbolischen, aus Gewissensgründen vollzogenen und damit bewussten Verstoß gegen rechtliche Normen zielt der handelnde Staatsbürger mit einem Akt zivilen Ungehorsams auf die Beseitigung einer Unrechtssituation und betont damit sein moralisches Recht auf Partizipation.“ Der Satz würde auch für eine Definition des World Wide Web taugen. Schließlich verankert dessen Grundverfassung ein moralisches Recht des einzelnen Users auf Teilnahme und Handlung, und sei es im Ungehorsam gegenüber geltenden Normen: Gerade weil das Netz so unübersichtlich ist, ist in ihm alles möglich und auch fast alles erlaubt. Doch eben dieses vermeintliche Grundgesetz hat sich im vergangenen Jahr als äußerst dehnbar erwiesen.

Dabei handelt es sich keineswegs um eine Nebensache. Nur 20 Jahre nach seiner Erfindung zählt das World Wide Web zu den fundamentalen Selbstverständlichkeiten unseres Lebens. Die digitale Revolution ist vollzogen, die digitale Technik zu einer eigenen Realität geworden. Unser Alltag hängt in wesentlichen Bereichen vom Web ab und vollzieht sich mit steigender Intensität ebendort. Das ändert nicht nur unseren Alltag, sondern auch das Web. Die digitale Revolution frisst ihre Kinder – und dabei gleich auch noch sich selbst.

Drastische Veränderungen erfordern drastische Maßnahmen: Der britische Informatiker Tim Berners-Lee, der das Web vor 20 Jahren am Genfer Kernforschungszentrum CERN entwarf, beschwor Ende November in einem Essay für das US-Magazin „Scientific American“ den ursprünglichen Geist seiner Erfindung, die egalitäre Grundhaltung, aus der sie entstanden ist, und schwang sich dabei zu ein paar recht hochtrabenden Sätzen auf: „Das Web entscheidet nicht nur über die digitale Revolution, sondern auch über unseren fortgesetzten Wohlstand – und sogar über unsere Freiheit. Wie die Demokratie muss auch das Web verteidigt werden.“

Man kann die Verzweiflung nachvollziehen, die in diesen Worten mitschwingt. Tatsächlich befindet sich der Geist des Web in Gefahr, und es wird immer unklarer, ob er sich überhaupt noch bewahren lässt. „Ziel des Web ist es, der Menschheit zu dienen“, schreibt Berners-Lee. Google, Facebook und Apple sehen das anders und sind auf dem besten Weg, ihre Ansichten umfassend durchzusetzen. Kaum hat sich das Web in Blogs, Wikis und sozialen Netzwerken zum Mitmach-Web entwickelt und eine emanzipierte, demokratische Online-Zukunft verheißen, macht sich eine Hand voll Konzerne dasselbe Web Untertan. Dessen antiautoritäre Grundverfasstheit haben sie in ihren kleingedruckten Geschäftsbedingungsklauseln bereits aus dem Weg geräumt, nun geht es seiner konstituierenden Unordnung an den Kragen: Facebook schottet sich und die Daten seiner über 500 Millionen Mitglieder vom Restweb ab, damit ja niemand mitnascht am Marketing-Kuchen. Google-Manager überlegten zuletzt unverhohlen, ob man für schnelleren Service nicht auch mehr Geld verlangen könnte, sprich: ob es nicht Zeit wäre, endlich ein Zwei-Klassen-Netz zu etablieren. Apple wiederum sorgt mit der App-Kultur, die es rund um das iPhone und das iPad etabliert hat, für eine sehr gewinnträchtige Ordnung im weltweiten Saustall: Schicke Dienstprogramme, die mit den unfassbaren Weiten des World Wide Web so viel zu tun haben wie ein Schrebergarten mit dem australischen Outback, reduzieren das Netz auf einen leichenblassen Abklatsch seiner selbst. Dass genau in dessen Saustallhaftigkeit die emanzipatorische Kraft des World Wide Web liegt, vergisst man aus Dankbarkeit für die neue, praktische Netzordnung nur allzu gern.

Und nicht nur das.
Auch die zweite internetbezogene Großdebatte des vergangenen Jahres entzündete sich an einer Lappalie, nämlich an der Frage, ob es einem privaten Unternehmen erlaubt werden soll, Bilder von Privathäusern online zu stellen. Erbittert wurde über Googles Street View gestritten, Positionen und Argumente kannte man schon aus früheren Online-Debatten: Datenschützer witterten einen unzulässigen Eingriff in die Privatsphäre, Regierungen wussten nicht recht, ob sie zuständig sind, und Google ließ sich nicht weiter aus dem Konzept bringen. Warum auch? Niemandem kann es verwehrt werden, in den fünften Wiener Gemeindebezirk zu fahren, sich das Haus, in dem ich wohne, anzusehen und daraus seine Schlüsse zu ziehen. Warum sollte er sich die Anfahrt nicht einfach sparen und seine Schlüsse per Street View am Computer ziehen können? Das ist nicht das Problem.

In der Hitze der Debatte verlieren die Google-Kritiker den eigentlichen Knackpunkt aus den Augen: Nicht die Privatsphäre ist in Gefahr, sondern die Öffentlichkeit. Denn diese beruht auf dem Gedankenaustausch zwischen erkennbaren Individuen, und diese wiederum verlieren im Web der Konzerne zusehends an Erkennbarkeit. Der Medientheoretiker Norbert Bolz brachte es auf den Punkt: „Ich bin meine Maus-Klicks. Identität ist heute eine Rechenaufgabe.“

Das Menschenrecht auf Individualität ist unteilbar, wird aber durch seine Mitteilung in der digitalen Sphäre gerade neu definiert und dabei auch ein Stück weit korrumpiert – wie weit, wird sich erst zeigen. Aber wenn die Kontrolle über das eigene Selbst dieses Selbst wesentlich mitbestimmt, dann verlieren wir uns in der unkontrollierbaren Selbst- und Fremddarstellung des Internet. Das Individuum löst sich in der ­digitalen Sphäre auf und gibt damit seine Unteilbarkeit auf. Ich bin viele, und viele dieser Ichs erkenne ich gar nicht wieder: Google zerlegt mich in zigtausend Suchabfragenantworten, von denen die meisten gar nichts und sehr viele nur sehr peripher mit mir zu tun haben. Facebook stellt mich als eine ziemlich banale Collage aus aktuellen und veralteten Statusmeldungen, Bildern und Kommentaren dar. Im sozialen Netzwerk erscheine ich, wie ich bin, wie ich war und wie ich sein möchte, und zwar gleichzeitig. Zum Individuum gehört aber auch, dass es sich entwickelt, und zwar in einem einigermaßen sinnvollen Nacheinander. Diese Eigenschaft verliert es im Netz, weil ich im Netz eben nicht nur als aktuelles Ich erscheine, sondern auch als Ich von gestern, vorgestern und von vor fünf Jahren – ob ich will oder nicht.

Aber nicht nur meine Gegenwart ändert sich im Digitalen, auch meine Zukunft wird verhandelbar, auch sie wird zur Rechenaufgabe. Es gehört zum Geschäftsmodell von Google, Amazon oder Apple, mir konkrete Vorschläge zu machen, die sich aus meinem vergangenen Such- und Kaufverhalten destillieren lassen: „Dieser Artikel könnte Ihnen gefallen! Haben Sie das schon versucht?“ Damit bestimmen die Algorithmen von Google, Amazon oder Apple aber auch, was ich in Zukunft finden, kaufen und damit – in der Logik des Digitalen – sein werde. Google-CEO Eric Schmidt formulierte die Mission seines Unternehmens sehr unverblümt: „Unser Ziel ist, dass Sie eine Frage stellen, und Google gibt Ihnen die eine und immer richtige Antwort.“ Netterweise erklärte Schmidt auch, welche Fragen ihm dabei vorschwebten: „Was soll ich morgen tun? Welchen Job soll ich annehmen? Was sagen Sie mir für meine Zukunft voraus?“ Ganz ehrlich: Wer will auf solche Fragen nur eine, immer richtige Antwort?

Kulturpessimismus wirkt im Umgang mit neuen Technologien leicht kleingeistig. Natürlich verfolgen börsennotierte Konzerne in erster Linie ökonomische Ziele, und natürlich werden nach den gängigen Marktgesetzen bald auch Alternativen zu Google, Facebook und Apple entstehen. Aber die subkutane Entwicklung wird davon nicht tangiert: Wir werden uns selbst immer unähnlicher. Der New Yorker IT-Pionier Jaron Lanier erläutert in seinem aktuellen Buch „You Are Not a Gadget“, wie sich der Mensch im Umgang mit Informationssystemen (also zum Beispiel sozialen Netzwerken oder Suchmaschinen) selbst reduziert. Seine These in Kurzform: „Information unterrepräsentiert die Realität.“ Das komplizierte Wuchern einer menschlichen Persönlichkeit ist digital nicht darstellbar. Da die digitale Selbstdarstellung aber rasant an Bedeutung gewinnt, reduziert der Mensch seine Persönlichkeit, beschränkt sich auf einfache Kaufentscheidungen, Statusmeldungen oder Einträge in Multiple-Choice-Fragebögen. Und weil die Grenze zwischen online und offline längst verschwommen ist, bleiben die Auswirkungen dieser Selbstreduktion nicht auf unsere Facebook-Repräsentanz beschränkt. Die Autorin Zadie Smith vergleicht diesen Vorgang mit einer „transzendenten Erfahrung: Wir verlieren unseren Körper, unsere uneindeutigen Gefühle, unser Begehren, unsere Ängste.“ Das wiederum ist eine Nachricht, vor der man ruhig Angst haben kann.