Panorama

Moderne Philosphie: Sokrates auf YouTube

Philosophie versteckt sich heute nicht mehr in stillen Bibliotheken, sondern tritt uns in Podcasts, sozialen Medien und auf Bühnen entgegen.

Drucken

Schriftgröße

Ein runder Glastisch, zwei Stühle, ein Bücherregal. Am Bild an der Wand prangt eine dschungelartige Szene, irgendwo im Raum steht eine Grünpflanze. Die kleine Standuhr am Bücherregal tickt hörbar. Die Philosophin Marina Rendl sitzt aufrecht da, der Blick ist aufmerksam auf das Gegenüber gerichtet: "Warum sind Sie hier?" Da ist zum Beispiel das Gefühl, dem Leben ständig hinterherzurennen. "Sind Sie mit dem vielen, das Sie im Leben haben, zufrieden, ist es von Wert für Sie? Oder möchten Sie auf etwas verzichten, diesen Umstand verändern?"

Die akademische Philosophie hatte lange Zeit den Ruf, abgehoben, lebensfremd und schwer verständlich zu sein. Das scheint sich zu ändern. Seit einiger Zeit bewegt sich die Philosophie von den Universitätshörsälen rein ins Leben. In Philosophischen Praxen wie jener von Marina Rendl in Salzburg kann man anbringen, was einem am eigenen Leben unerklärlich scheint, und im Gespräch nach Antworten suchen. Darüber hinaus organisieren Philosophinnen und Philosophen philosophische Salons, Cafés, Spaziergänge, Wanderungen und Philo-Slams, eine Art Poetry-Slam mit philosophischen Gedanken. Sie schreiben Bestseller, stürmen Bühnen, werden wie Superstars gefeiert, betreiben Podcasts und sitzen in Talkshows. In Fernsehen und Radio werden sie gern als Expertinnen und Experten konsultiert, etwa in den Ö1-Sendungen "Logos" oder "Lebenskunst". Im 2021 eingeführten ORF-Format "Philosophisches Forum" diskutieren die Gäste zwei Mal im Jahr aktuelle Themen in größerer Runde. Daneben sind philosophiebezogene Bücher gefragt: Dieses Jahr wurden laut einer Auswertung der Media Control im Auftrag des Hauptverbands des Österreichischen Buchhandels bis September um 5,5 Prozent mehr Philosophie-Titel verkauft als im Vergleichszeitraum 2019.

Philosophie in digitalen Kanälen 

Angekommen ist die Philosophie, die "Liebe zur Weisheit", auch in der Online-Welt: Auf YouTube werden philosophische Theorien zum Besten gegeben, und Philosophinnen wie die Autorin Lisz Hirn machen sich in eigenen Podcasts Gedanken zu Fragen wie "Ersetzt uns die Technik?"oder "Gibt es gerechte Kriege?".Die Philosophische Praktikerin Cornelia Mooslechner-Brüll geht in ihrem Podcast auf philosophische Konzepte, Theorien und Bücher ein. "Die digitale Kommunikation ist Realität. Besser, wir gestalten diese mit und bieten auch dort Diskursräume an, als wir meiden und negieren sie", sagt sie. In ihrem YouTube-Kanal "Philoskop" teilt sie Inhalte aus Seminaren mit der Online-Community. Philosophische Einzelgespräche mit Gästen, wie sie ihre Klienten nennt, finden wahlweise offline oder online statt, so erreicht sie Menschen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum. Einen eigenen Podcast plant auch die philosophische Praktikerin Tina Wittholm. Aktuell betreibt sie mit @philosophieweltkind einen Instagram-Account mit mehr als 3800 Followern. 95 Prozent ihrer Klientel gewinnt sie über soziale Medien. Die Gespräche finden bisher zumeist online statt, eine Praxis in Wien soll folgen.

Die Philosophische Praxis, wie sie von Rendl, Hirn, Mooslechner-Brüll und Wittholm in recht unterschiedlicher Ausführung betrieben wird, bringt viel Bewegung in die neue Lust am Denken. Den sperrig anmutenden Begriff prägte der deutsche Philosoph Gerd B. Achenbach 1981, vor 41 Jahren. Er gründete die weltweit erste Philosophische Praxis in Bergisch Gladbach, um den Menschen eine philosophische Reflexion des eigenen Lebens anzubieten. Basierend auf Achenbachs Engagement ist seither quasi ein neues Berufsbild im Entstehen, das sich laufend weiter formiert. "Es ist noch ein experimentelles Feld und eine ausbaufähige Nische",sagt der Philosophische Praktiker Alfred Pfabigan, Autor des Buches "Philosophie hilft" (Verlag: Vitolibro),im Rahmen eines Philosophischen Cafés Anfang November in der Wiener Sargfabrik. Seit 2014 bietet die Universität Wien den einzigen akademischen Ausbildungslehrgang in Philosophischer Praxis im deutschsprachigen Raum an, der in Kooperation mit der "Gesellschaft für angewandte Philosophie" entworfen wurde. Das Bedürfnis, sich selbst und die Welt zu verstehen und sich zu entwickeln, wohnt dem Menschen inne. Schon vor 2500 Jahren stellte sich der antike Philosoph Sokrates auf den Marktplatz, um mit den Leuten ins Reden zu kommen. "Dieser praktische Ansatz war immer da, ist aber jahrelang im Schatten der akademischen Philosophie gewesen",erklärt Marina Rendl in ihrem Praxisraum in Salzburg.

Die digitale Kommunikation ist Realität. Besser, wir gestalten diese mit und bieten auch dort Diskursräume an.

Cornelia Mooslechner-Brüll

Philosophin mit YouTube-Kanal

Denken mit Praxisbezug

Die Philosophische Praxis holt den philosophischen Dialog zurück in die Lebensrealität der Menschen. Im engeren Sinn handelt es sich meist um ein Zwiegespräch, das in der Lebensrelevanz des Einzelnen wurzelt und sich im Gesprächsverlauf auf eine Metaebene bewegt, in der philosophische Blickwinkel und Positionen eingebracht werden. Das heißt: Jemand kommt mit einer persönlichen Lebensfrage, die mithilfe philosophischer Standpunkte durchgedacht wird. Der philosophische Dialog ist ein Raum für die Suche nach der richtigen Art, sein Leben zu führen, nach Selbsterkennung, den Grenzen des Selbst, nach Ethik und Werten. Nicht selten zieht er Menschen an, die sich in Umbruchphasen, beruflichen und persönlichen Krisen oder Entscheidungskonflikten befinden. Letztendlich läuft alles auf die Frage hinaus: Wie gehe ich gelingend durchs Leben? Manche Praxisbesucher und- besucherinnen wollen sich auch einfach nur intellektuell weiterbilden. Das geschieht etwa, indem gemeinsam philosophische Texte gelesen und besprochen werden. Eine philosophische Gesprächseinheit kostet zwischen 60 und 120 Euro, erklärt Kai Kranner. Er betreibt im Waldviertel eine der wenigen hauptberuflichen Philosophischen Praxen in Österreich und ist Vorstandsvorsitzender des Vereins "Kreis akademisch philosophischer Praktiker*innen".

Im Gegensatz zur Diskussion am Stammtisch oder im Freundeskreis ist der philosophische Dialog ein neutraler Raum. Schubladendenken und voreilige Bewertungen fallen weg. Das soll eine Begegnung auf Augenhöhe ermöglichen. Zusätzlich werden philosophische Blickwinkel und Positionen eingebracht. Der Ansatz sei, die "Lebenskönnerschaft" und die Dialogfähigkeit des Einzelnen zu fördern, sagt Kranner. Ihm geht es auch darum, die Dialogkultur insgesamt zu beleben. Aktuell bedeute Diskurs oft nur mehr, recht haben zu wollen. Für die Gesellschaft von morgen sei es aber wichtig, wieder dialogisch reflektiert zu lernen. Die in Baden bei Wien ansässige Philosophische Praktikerin Cornelia Mooslechner-Brüll fühlt sich dazu verpflichtet, Diskursräume zu öffnen, in denen Bürger und Bürgerinnen sich begegnen und über aktuelle Fragen gemeinsam verhandeln. Sie veranstaltet öffentliche Salons und Dialoge, um Resonanzräume zu schaffen. "Die Menschen möchten die Perspektiven der anderen wieder besser in den Blick kriegen, um sich nicht so allein zu fühlen im Umgang mit Krisen, Problemen und Schwierigkeiten." Die Philosophie unter die Leute und "auf die Straße bringen" will auch der "Verein für praxisnahe Philosophie":Er lädt in Wien zum öffentlich zugänglichen "Philosophische Grätzl" ein, neuerdings auch im Burgenland. "Dabei erhalten die Teilnehmenden einen rund 20-minütigen Input zu einem Thema, danach diskutieren wir bis zu zu eineinhalb Stunden lang gemeinsam darüber", erklärt der Philosoph Markus Mersits. Ein weiterer philosophischer Fixstern sind die "Nächte der Philosophie" der "Gesellschaft für angewandte Philosophie".

Weg von der traditionellen Philosophie hin zu mehr Dialog will man auch an der Volkshochschule Wien. "Allein das Wort Philosophie kann unserer Erfahrung nach den spontanen Reflex auslösen: Das ist mir zu hoch", sagt Erhard Chvojka, Fachreferent für Politik, Gesellschaft und Kultur. Deshalb wurde das Programm in den vergangenen Jahren interaktiver gestaltet und ausgeweitet. Einer der neuen Ansätze: Philosophie-Studierende und Philosophen führen moderierte Gespräche zu ausgewählten Themen durch. "Das ist viel anschaulicher, nachvollziehbarer und alltagstauglicher als ein klassischer Vortrag und wird von Menschen aus unterschiedlichen Bildungsschichten und Altersgruppen gut angenommen", so Chvojka. Ziel der neuen Philosophie-Formate sei es, gesellschaftliche Teilhabe und Selbstbemächtigung zu fördern. "Die Teilnehmenden sollen zur Erkenntnis gelangen: Das, was in der akademischen Bildung, der Wissenschaft und der Philosophie gemacht wird, ist gar nicht so weit von meinem eigenen Leben entfernt, und ich traue mir auch zu, zuzuhören und mitzureden." Eines dieser Hauptformate trägt den Namen "Wir müssen reden".Einer der Kursleiter, der Philosophie-Doktorand Lois Marie Rendl, bespricht darin klassische philosophische Fragen wie "Was ist Moral?"oder "Was ist Gerechtigkeit?"anhand aktueller Aufhänger und bringt philosophische Positionen mit ein. "Das Bedürfnis, solche Fragen zu besprechen, ist vorhanden, da im Alltag weder die Zeit noch der Raum dafür bleibt", sagt er.

Der Körper braucht Bewegung, der Geist auch.

Marina Rendl

Philosophische Praktikerin

Zurück zum philosophischen Zwiegespräch in die Philosophische Praxis von Marina Rendl in Salzburg. Während die Standuhr weiter tickt, erklärt sie, wie sie den philosophischen Dialog versteht-und wie er helfen kann, um im eigenen Leben weiterzukommen: Situationen werden nüchtern betrachtet und rational eingeordnet. Neutrale Fakten und emotionale Urteile werden voneinander getrennt: Was ist Tatsache, was Interpretation? Welche Normen, Vorstellungen, Klischees und Erwartungen prägen das eigene Leben? Was steht überhaupt in der eigenen Macht, um ein Problem zu lösen? Ziel sei es, Klarheit in die eigenen Gedanken zu bekommen und eine innere Ordnung zu schaffen. Im Prinzip ist das ein analytischer Problemlösungsansatz, sagt Rendl. Dafür brauche es Aufgeschlossenheit, Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst, Spaß am Diskurs und an der Weiterentwicklung.

Populär-Wissenschaften

Der philosophische Dialog wird von der sich formierenden Berufsgruppe mitunter als mögliche Alternative zur Psychotherapie bezeichnet. Hier ordnen sich etwa auch Kranner und Mooslechner-Brüll ein, zudem könne er eine Ergänzung sein. Sie würden durchaus auch von Menschen aufgesucht, die mit einer klassischen Gesprächstherapie nicht vorankämen. "Die philosophische Praxis ist ein weiteres, gleichwertiges Angebot auf diesem Sektor",beantwortet Kranner die häufig gestellte Frage nach der Grenze zur Psychotherapie. Zudem sei die Philosophie der Ursprung aller Wissenschaften und heute in vielen Fachrichtungen anzutreffen. Der Zugang erfolgt in der Philosophischen Praxis allerdings nicht über die psychischen Mechanismen, sondern über die Ratio, den Verstand. Weg von Emotionen hin zum Blick von oben, um die Dinge in einem größeren Kontext zu betrachten. "Dadurch kann sich natürlich auch unmittelbar etwas im Empfinden ändern", ergänzt Mooslechner-Brüll. Marina Rendl stellt klar: In der Philosophischen Praxis werde nicht diagnostiziert, nicht behandelt, nicht beraten, nicht therapiert. Das philosophische Gespräch sei ein Prozess, der die geistigen Ressourcen aktiviere und im Idealfall transformierend wirke. Geistige Fitness. "Der Körper braucht Bewegung, der Geist auch. Dieser intellektuelle Klettersteig ist mit Anstrengung verbunden, aber es lohnt sich."

Wie lässt es sich nun erklären, dass die Philosophie mehr und mehr im Lebensalltag ankommt? Die Popularisierung der Wissenschaft sei ein allgemeiner Trend, meint der Philosophie-Doktorand Lois Marie Rendl. "Die Universitäten begreifen es als gesellschaftlichen Auftrag, das dort generierte Wissen einem breiteren Publikum zugänglich zu machen." Wenn in Krisenzeiten die persönliche oder äußere Welt aus den Fugen gerate, steige das Bedürfnis nach Erklärung und Verständnis, sagt Kranner. Die Philosophie habe sich schon immer mit existenziellen Fragen befasst. Sie biete einen Fundus an Denkansätzen und Lösungsmöglichkeiten, findet Pfabigan: "Es gibt keine Situation im Leben, die im philosophischen Kanon nicht schon gedacht wurde." Auf die Tendenz zur Oberflächlichkeit in den vergangenen Jahrzehnten folgt nun eine Gegenbewegung, ist Mooslechner-Brüll überzeugt. Sie vernimmt in ihrer Praxis das Bedürfnis nach Dialog und Tiefe, nach echten Begegnungen und dem Wunsch nach gemeinsamem Nachdenken und Weiterentwickeln. Marina Rendl zufolge ist es der bodenständige, nüchterne, verstandesorientierte Ansatz ohne spirituellen Beigeschmack, der den philosophischen Dialog auszeichnet. Während sich der Abendverkehr durch Salzburg staut, hat auch das Gespräch in ihrem Praxisraum an Fahrt aufgenommen. "Praktische Philosophie ist Lebenskunst", fasst sie über den Glastisch hinweg zusammen: "Wie komme ich durch?"