Beslinda Rama und Schuldirektor Michael Fleck.

Auslese-Verfahren: Was tun gegen Bildungsvererbung?

Auslese-Verfahren: Was tun gegen Bildungsvererbung?

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Es war ein weiter Weg in Richtung Normalität: 2005 verlässt Beslinda Rama im Alter von zehn Jahren den Kosovo, Wien wird zum Lebensmittelpunkt ihrer Familie. Das Mädchen, das in der alten Heimat zwei Klassen Volksschule besucht hat, sieht Tafeln und Kreiden aber vorerst nur aus der Ferne. Erst sechs Monate später läutet auch für sie endlich die Schulglocke einer Volksschule in Wien-Liesing. Doch nach dem Abschlusszeugnis wird der jungen Migrantin trotz ihres Eifers die rote Karte gezeigt: Latente Sprachdefizite rücken alle AHS-Träume in weite Ferne; ein "Befriedigend“ in Deutsch erweist sich als Hindernis. Bis eine Schule in der Anton-Krieger-Gasse im 23. Bezirk in Wien auf den Plan tritt und Beslinda aufnimmt.

In der dortigen gemeinsamen Schule der Zehn- bis 14-Jährigen ticken die pädagogischen Uhren anders. Offene Unterrichtsformen, Individualisierung und Kleingruppen prägen den Alltag. Was andere als pure Gutmenschen-Zeitverschwendung abgetan hätten, trägt Früchte: Nach der Matura will Beslinda studieren und später Richterin werden.

Man kann noch so schwach sein, aber wenn klar ist, dass du dich bemühst und es schaffen willst, wirst du gefördert.

Als Karriere-Katalysator fungierte gezielte Hilfe zur Selbsthilfe. "Es gab einige Möglichkeiten, meine Deutschkenntnisse durch Kurse oder Lesetrainings zu verbessern. Aber ohne die Unterstützung meiner Lehrerteams wäre ich nicht so weit gekommen. Das macht diese Schule aus. Man kann noch so schwach sein, aber wenn klar ist, dass du dich bemühst und es schaffen willst, wirst du gefördert“, sagt sie.

Beslindas Geschichte wirkt wie ein Märchen aus der Welt zwischen Pult und Tafel. Denn die Realität des österreichischen Bildungswesens sieht meist anders aus: Bildung wird vererbt. Eine Tatsache, vor deren Folgen Bildungsexperten seit Langem warnen und der Betroffene wahlweise apathisch oder zornig gegenüberstehen: Gebildete Eltern dürfen ruhig auf gebildete Kinder hoffen, der Rest sitzt meist lebenslang auf der Wissensersatzbank.

Ein aktueller Bericht der OECD lässt kaum Zweifel daran - in Österreich ist etwa die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind von Akademikern hohe Lesekompetenz entwickelt, um 20 Prozent größer als bei Söhnen und Töchtern von Eltern ohne universitäre Bildung. Zudem können nur 21 Prozent der jungen österreichischen Erwachsenen einen höheren Abschluss realisieren als die eigenen Eltern. Im OECD-Schnitt liegt dieser Wert bei keineswegs sensationellen 32 Prozent.

Das österreichische Bildungssystem funktioniert scheinbar noch immer nach der Devise: Zeige mir deine Eltern, und ich sag dir deine Bildung.

Überraschen können solche Zahlen nur notorische Realitätsverweigerer. Denn die Kräfte der Beharrung sind stärker als jedes Reformdenken in Richtung Chancengleichheit. "Das österreichische Bildungssystem funktioniert scheinbar noch immer nach der Devise: Zeige mir deine Eltern, und ich sag dir deine Bildung“, sagt Christina Götschhofer, Bundesvorsitzende der Aktion Kritischer SchülerInnen.

Sie verweist auch auf die Effekte der frühen sozialen Auslese: "Wir benötigen keine Differenzierung mit zehn Jahren, sondern Institutionen, in denen auf individuelle Stärken und Schwächen sämtlicher Schüler eingegangen wird.“ Statt weniger Privilegierter müssten alle über die Chance auf bestmögliche Bildung verfügen. Aufrufe wie diese sind Beobachtern der Materie wahrlich nicht unbekannt. In politischen Sonntagsreden wird gerne publikumswirksam auf entsprechenden Handlungsbedarf hingewiesen, die reale Last der Erstarrung tragen andere.

"Für Kinder aus gebildeten Familien ergeben sich keine negativen Folgen, wohl aber für solche aus den bildungsfernen Milieus. Sie bringen ein geringeres Niveau mit, ihre Eltern sind an Veränderung oft wenig interessiert - und Nachhilfe ist teuer. Die Betroffenen erkennen bald, dass sie zu den Bildungsversagern gehören werden, was die Lernmotivation senkt“, bedauert Michael Fleck, Direktor der erwähnten Schule in der Anton-Krieger-Gasse.

Bei bildungsfernen Kids ist es wichtig, Chancen aufzuzeigen und die Eltern über Perspektiven des Gymnasiumbesuches ausreichend zu informieren.

Nach dem finalen Läuten der Schulglocke werden die Auswirkungen der Misere rasch spürbar: Die Suche nach einem Arbeitsplatz wird für Systemopfer oftmals zum Marathon, weil die Wirtschaft händeringend Top-Fachkräfte sucht, aber die eigene Ausbildung gerade einmal für diverse McJobs reicht. Wie sich die Spirale weiterdrehen wird, wenn Benachteiligte selbst eine Familie gründen, ist auch ohne große Fantasiebegabung leicht abzuschätzen.

"Bei bildungsfernen Kids ist es wichtig, Chancen aufzuzeigen und die Eltern über Perspektiven des Gymnasiumbesuches ausreichend zu informieren“, weiß Sandra Jensen, Projektleiterin für Schulsozialarbeit der Grazer Nonprofit-Organisation ISOP (Innovative Sozialprojekte). In diesem Zusammenhang kann Beratung eine bedeutende Rolle spielen. In anderen Ländern sind dafür ausgebildete Helfer im System verankert, zählen Psychologen oder Sozialarbeiter selbstverständlich zum Schulpersonal und leisten entsprechende Unterstützung.

Es gibt fast keine Drop-outs, weil ein engmaschiges Netz der Arbeit im Klassenverband die Jugendlichen entsprechend fördert.

Einen Weg zu mehr Chancengerechtigkeit weist die Berufsschule für Verwaltungsberufe in der Embelgasse im 5. Wiener Bezirk. Hier erhalten zwei Klassen pro Jahrgang die Gelegenheit, neben ihrem regulären Unterricht auch Kurse zur Vorbereitung auf die Matura zu besuchen. Drei der vier Teilprüfungen in Deutsch, Englisch, Betriebswirtschaft und Rechnungswesen werden in der Lehrzeit erledigt.

"Es gibt fast keine Drop-outs, weil ein engmaschiges Netz der Arbeit im Klassenverband die Jugendlichen entsprechend fördert“, erläutert Direktorin Daniela Kirnbauer, die hier ein Modell für Chancengerechtigkeit im Bildungssystem ortet. Im Rahmen des Herbsttermins schafften heuer 32 von 36 Schülern die Prüfung der Englisch-Matura.

Die Freude über solche Zahlen könnte indes bald Nostalgie sein, denn der Versuch soll im nächsten Jahr auslaufen. Insgesamt 1580 Stunden im Schuljahr statt der regulären 1260 Stunden kosten eben Geld. Außerdem sehen es Arbeitgeber nicht allzu gerne, wenn ihnen Lehrlinge weniger lang zur Verfügung stehen. Der Elternverein der Berufsschule hat eine Petition bei der Gemeinde Wien hinterlegt, sich den Schlusspfiff für das ehrgeizige Projekt noch einmal zu überlegen - damit nicht noch mehr Schüler das unerwünschte Erbe bildungspolitischer Versäumnisse antreten müssen.

"Gerechtigkeit braucht langen Atem“

Arbeiterkammer-Präsident Rudolf Kaske über Facetten eines heimischen Bildungsschreckgespenstes.

profil: Bildung wird in Österreich immer noch vererbt. Warum hat sich bis heute nichts gravierend geändert?

Rudolf Kaske: Es hat sich etwas geändert. Vor allem wollen die Eltern, dass ihre Kinder die bestmögliche Bildung für bestmögliche Berufschancen bekommen. Es müssen alle Talente gefördert werden. Wir konnten jetzt gerade das zweite Gratiskindergartenjahr durchsetzen, seit einigen Jahren gibt es auch Lehre mit Matura. Wer Bildungsgerechtigkeit will, braucht trotzdem einen langen Atem.

profil: Welche Elemente des Bildungssystems bremsen?

Kaske: Es ist längst bekannt, wie Nachteile aufgrund des Familienhintergrundes ausgeglichen werden können. Man muss es nur tun. Die Stichworte sind frühe Förderung im Kindergarten, echte Ganztagsschulen mit dem Wechsel zwischen Unterricht, Üben und Freizeit. Aber auch eine gemeinsame Schule, bei der die Kinder nicht mit zehn Jahren auf verschiedene Schultypen aufgeteilt werden.

profil: Was bedeutet diese Vererbung für Betroffene und ihr Leben nach der Schule, speziell was Migranten betrifft?

Kaske: Ich mache keinen Unterschied, ob Kinder Migrationshintergrund haben oder nicht. Entscheidend sind Bildungsabschluss sowie Berufsabschluss. Wer maximal Pflichtschule absolviert hat, ist am häufigsten ohne Arbeit. Das Lehrpersonal muss imstande sein, mit Unterschieden beim Lernen von Sprache umzugehen. Verschränkte Ganztagsschulen helfen bildungsfernen Schichten.

profil: Welche konkreten Maßnahmen abseits politischer Sonntagsreden sind nötig, damit sich etwas ändert?

Kaske: Ich will eine nationale Strategie für gerechte Chancen auf Bildung. Dazu gehört eben auch eine neue gemeinsame, ganztägige Schule. So wie eine sozial und regional differenzierte Finanzierung. Schulen, die mehr Probleme lösen müssen, sollen mehr Ressourcen erhalten.