"Es geht vor allem darum, die Technik in den Dienst der Pädagogik zu stellen, um so die drängendsten Probleme in unserem Bildungssystem zu lösen"

Interview mit Jörg Dräger: "Lernen lernen und Kenner kennen"

Interview mit Jörg Dräger: "Lernen lernen und Kenner kennen"

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profil: Die USA, Asien und Südamerika scheinen uns voraus zu sein, wenn es um die Berücksichtigung des Digitalen im Bildungssystem geht. Was machen die besser als wir?

Jörg Dräger: Andere Länder haben schlicht größeren Leidensdruck als wir: Gerade in den USA sind die Studienkosten explodiert, in vielen Schwellenländern fehlen Lehrer und Professoren. Das hat zur Suche nach Lösungen geführt und die Entwicklung digitaler Bildung beschleunigt. Bei uns höre ich häufig, man hätte schon genug Probleme: zu große Klassen, Inklusion, Massenuniversitäten, hohe Abbrecherzahlen - da könne man sich nicht auch noch um digitales Lernen kümmern. Andere Länder sehen Digitalisierung eher als Teil der Lösung, nicht als weiteres Problem.

Es gibt zwar in allen Ländern spannende Initiativen, die aber meist auf dem Engagement einzelner Lehrer und Professoren beruhen.

profil: Welche Länder stehen innerhalb Europas angesichts der Veränderungen, die Industrie 4.0 mit sich bringt, gut da - bezogen aufs Bildungssystem?

Dräger: Die "Zauberformel" der Digitalisierung lautet "massenhaft günstig, individuell zugeschnitten". Insofern lassen sich Industrie 4.0 und die digitale Bildungsrevolution durchaus vergleichen. So fortschrittlich einige Länder in Europa in der vernetzten Fertigungstechnik sind, so rückständig sind wir leider, wenn es um neue Medien in Schulen und Hochschulen geht. Es gibt zwar in allen Ländern spannende Initiativen, die aber meist auf dem Engagement einzelner Lehrer und Professoren beruhen.

profil: In Ihrem Buch vertreten Sie den sehr optimistischen Zugang, dass Digitalisierung "Bildung für alle" ermögliche. Was aber geschieht mit der steigenden Zahl der Schulabbrecher? Oder mit jenen, die nicht technik- oder computeraffin sind, oder sich schwer tun, vernetzt zu denken?

Dräger: Bei digitaler Bildung geht es um viel mehr als Schulen und Hochschulen mit iPads oder Smartboards auszustatten. Es geht vor allem darum, die Technik in den Dienst der Pädagogik zu stellen, um so die drängendsten Probleme in unserem Bildungssystem zu lösen: eine stärkere Personalisierung des Lernens, damit alle in ihrem Tempo vorankommen; einen spielerischen Zugang, damit auch jene motiviert werden, die keine Lust auf Bücher und traditionellen Unterricht haben; direktes Feedback nach jeder Aufgabe statt nach Tagen oder Wochen wie bei einer Klassenarbeit. All das hilft, dass jeder Schüler sein Bestes erreicht.

Ich muss selber kontinuierlich in der Lage sein, mir Neues beizubringen; Routinetätigkeiten beherrschen Roboter besser.

profil: Wenn wir unser künftiges Leistungssystem auf dem Digitalen aufbauen - wie lange kann Ausbildung dann überhaupt mit der Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts mithalten? Oft scheitert es auch daran, dass Schulen nicht das Geld haben, sich alle drei Jahre neu hochzurüsten.

Dräger: Was ist die Alternative? Eine schlecht gebildete Jugend, die nicht auf ein digitales Leben und Arbeiten vorbereitet ist, kommt auf jeden Fall teurer. Jedes Bildungssystem muss mit den Veränderungen einer Gesellschaft mithalten. Das gilt für den technologischen Fortschritt genauso wie aktuell für hohe Zuwanderung. Ein leistungsfähiges WLAN an jeder Schule und Hochschule wird zum Standard gehören wie Strom und fließendes Wasser. Endgeräte wie Laptops oder Tablets hingegen muss der Staat nicht in großem Stil kaufen, ein Smartphone hat heute ohnehin fast jeder in der Tasche. Am wichtigsten ist die lang wirkende Investition in die Aus-und Fortbildung der Lehrkräfte.

profil: Welche Skills müssen bei der digitalen Erziehung des Menschen besonders gefördert werden, damit er seinen Wert gegenüber dem Roboter auch in Zukunft behaupten kann?

Dräger: Wir werden in einer vernetzten und sehr datenintensiven Welt leben. Ging es früher häufig um "Wissen wissen", ist heute "Lernen lernen" ein wichtigeres Bildungsziel: Ich muss selber kontinuierlich in der Lage sein, mir Neues beizubringen; Routinetätigkeiten beherrschen Roboter besser. In Zukunft wird es zudem mehr und mehr darum gehen, "Kenner zu kennen". Unsere anstehenden Aufgaben sind zu komplex, als dass sie ein Einzelner noch lösen könnte. Stattdessen ist immer öfter ein Netzwerk an Experten notwendig, die gemeinsam an interdisziplinären Fragestellungen arbeiten. Die digitale Vernetzung ist hier ein wesentlicher Erfolgsfaktor.

Die digitale Bildungsrevolution von Jörg Dräger und Ralph Müller-Eiselt, Deutsche Verlags-Anstalt (DVA). 17,99 Euro.