Bildungsministerin Heinisch-Hosek will das Angebot der Ganztagsschulen ausbauen.

Von Teilzeit zu Vollzeit: Das Modell Ganztagsschule

Der geplante Ausbau der verschränkten Ganztagsschule soll mehr Chancengleichheit für Schüler und damit die Basis für späteren Erfolg schaffen. Doch was bringt sie tatsächlich? Und wie gelingt sie im Idealfall?

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Geht es nach der Bildungsministerin, soll die Regierung 2017 besonderes Augenmerk auf den Ausbau der Ganztagsschule richten: Mit dem geplanten Autonomiepaket für Schulen sollen, so Gabriele Heinisch-Hoseks Plan, Freizeitaktivitäten, Kultur und Sport verstärkt in den Schulen stattfinden. Dies wäre ein wichtiger Schritt zur derzeit heiß diskutierten verschränkten Ganztagsschule, deren Ausbau die SPÖ nach eigenen Angaben mit 160 Millionen Euro pro Jahr fördern will. Die ÖVP, eher skeptisch gegenüber der Idee, würde sich nur dann einverstanden zeigen, wenn jener Schultyp nicht verpflichtend wird.

Der Zögerlichkeit mancher Eltern, den finanziellen Herausforderungen und dem viel zitierten Widerstand der Lehrer (die für die nachmittäglichen Lerneinheiten nur die Hälfte einer herkömmlichen Unterrichtseinheit angerechnet bekommen) stehen internationale Studien entgegen, die dem verschränkten Unterricht eine wichtige Rolle in der Erschaffung von Chancengleichheit zusprechen.

Das Kind ohne Schultasche nach Hause schicken.

"Was der Staat hier auf der einen Seite in der Schule spart, muss er auf der anderen Seite wieder ausgeben. Auf der Strecke bleiben dabei die jungen Menschen, die Misserfolge sammeln und als ‚Problemfall‘ abgestempelt werden“, so Marina Laux, Bildungsbeauftragte der Arbeiterkammer.

Aber beim Idealbild Ganztag ist Achtung geboten: Von der Essensauswahl bis zu den Sport- und Freizeitangeboten muss für durchgehend qualitativ hochwertiges Programm gesorgt werden, damit das Schulmodell tatsächlich seine hohen Versprechen einlösen kann.

Insgesamt gibt es derzeit 976 "echte“ Ganztagsklassen an 164 Standorten in Österreich (590 davon in Wien). Das klingt nach viel, stellt aber nur 1,5 Prozent aller Klassen dar. Bei der "echten“ Ganztagsschule handelt es sich um die sogenannte "verschränkte“ Form, in der sich Unterricht und Freizeit abwechseln, ein Modell, das laut Bildungsforschern dem Lernrhythmus der Kinder besonders zusagt. In freien Lernstunden erledigen die Schüler ihre Hausübungen in der Schule, unterstützt werden sie dabei von Pädagogen. "Das Kind ohne Schultasche nach Hause schicken“, formulierte Bildungsministerin Gabriele Heinisch-Hosek ihre Idealvorstellung bereits mehrfach.

Nur 21 Prozent der Kinder erlangen einen höheren Bildungsgrad als ihre Eltern.

Dafür ist es auch höchste Zeit: Im internationalen Vergleich ist Österreich schon lange ein Nachzügler, wenn es um ganztägigen Unterricht geht. Das belastet nicht nur berufstätige Eltern (2014 arbeiteten immerhin 91,6 Prozent der Männer und 81,5 Prozent der Frauen mit Kindern im schulpflichtigen Alter), sondern geht auch kräftig ins Geld: Auf 119 Millionen Euro beliefen sich in diesem Jahr die Kosten für Nachhilfe - um zehn Millionen Euro mehr als im vergangenen Jahr.

Laut einer IFES-Befragung der Arbeiterkammer benötigen 23 Prozent aller Pflichtschüler private Hilfe, das sind um 20.000 mehr Schüler als im Vorjahr. Doch selbst Nachhilfe gleicht einen beunruhigenden Gesamttrend nicht aus: Bildung ist hierzulande nach wie vor besonders stark vererbbar, wie eine OECD-Studie des Jahres 2014 zeigt. Nur 21 Prozent der Kinder erlangen einen höheren Bildungsgrad als ihre Eltern - OECD-weit belegt Österreich damit den drittletzten Platz. Besonders hart betroffen von der gläserne Decke zu höherer Ausbildung sind - leider wenig überraschend - Kinder mit Migrationshintergrund.

Die verschränkte Form der Ganztagsschule (in der sich Lern- und Freizeitphasen abwechseln) würde somit tatsächlich Abhilfe schaffen: Laut IFES-Befragung lernen bei einem Ganztagssystem 24 Prozent der Eltern täglich mit ihren Kindern, während das bei anderen Formen der Nachmittagsbetreuung immerhin rund 40 Prozent der Eltern tun.

Früh übt sich

Um Chancengleichheit von Anfang an zu garantieren, empfiehlt sich die Ganztagsschule bereits ab dem Volksschulalter. "In erster Linie stelle dies eine enorme Erleichterung für berufstätige und alleinerziehende Eltern dar“, erklärt Lisa Horril, langjährige Lehrerin an der Ganztagsschule Schumpeterweg in Wien Floridsdorf. Eine deutsche Studie von 2009 zeigt, dass rund 80 Prozent der Schüler in Ganztagsangeboten arbeitende Mütter haben. Vor allem ressourcenärmere Familien fühlen sich durch das Angebot entlastet, letztendlich auch mit positiven Folgen für das Familienklima.

Dazu könnte auch die größere Sozialkompetenz beitragen, die Kinder durch die intensive Auseinandersetzung mit ihresgleichen erwerben. In der Ganztagsschule - das ergaben diverse Untersuchungen - tritt Störverhalten im Klassenraum seltener auf. Vor allem Kinder von Migranten und neu angekommene Flüchtlingskinder profitieren von der Vermischung von Freizeit und Arbeit: Sie lernen die neue Sprache spielerisch und viel schneller. Und im Erwachsenenalter genießen bei Bewerbungsgesprächen zunehmend jene einen Startvorteil, die sich mit Soft Skills positiv hervortun: "Die Unternehmen wollen immer Absolventen mit sozialen Kompetenzen, aber wie sollen Schüler die entwickeln, wenn sie nur fünf Minuten in der Pause interagieren dürfen“, hinterfragt etwa Pädagogin Horril den vorherrschenden Status quo.

Für den Direktor des Wiener Gymnasiums Draschestraße, Georg Röblreiter, sei die Ganztagsschule eine "Herzensangelegenheit", da er selbst zwei Kinder habe.

Kontrolliertes Austoben

Die 1000 Schüler des Gymnasiums Draschestraße im 23. Wiener Gemeindebezirk dürfen sich glücklich schätzen: Ihnen steht ein riesiges Schulgelände zum Austoben zur Verfügung. Dass die ersten zwei Klassen als Ganztagsschule geführt werden, ist für Direktor Georg Röblreiter eine Herzensangelegenheit: "Ich selbst habe zwei Kinder im Volksschulalter und gemerkt: Ab dem ersten Tag werden die Schüler selektiert - in jene, deren Eltern zu Hause mit ihnen lernen, und jene, die sich selbst überlassen werden. Dem wollen wir entgegenwirken.“ Um das stark nachgefragte Ganztagsschulangebot künftig erweitern zu können, braucht die Schule mehr Platz. "Doch sobald es ans Finanzielle geht, sind alles nur noch Lippenbekenntnisse“, meint Röblreiter aus bisheriger Erfahrung.

88 Euro im Monat kostet das Ganztagsangebot in der Draschestraße. Für Eltern mit geringem Einkommen besteht die Möglichkeit einer Ermäßigung "bis gegen null“, erläutert der Direktor. Denn in vielen Fällen, das ergab eine Erhebung der Arbeiterkammer aus dem Jahr 2009, stehen die hohen Kosten für das Ganztagsangebot genau jenen Geringverdienern im Weg, die den größten Nutzen daraus ziehen sollten.

Wundermittel gegen Schulabbruch

Besonders bei berufsbildenden Schulen wird das Ganztagsmodell als Hoffnungsträger gehandelt: Hier schafft nur die Hälfte ihren Abschluss im ersten Durchlauf, die bedenkliche Abbruchquote von bis zu 40 Prozent ist die höchste unter allen Schultypen. Die Handelsakademie und Handelsschule (HAK/HAS) des BFI bietet daher seit sieben Jahren verschränkten Ganztagsunterricht für die erste Klasse Oberstufe an. Damit soll "der Übergang erleichtert werden“, erklärt Direktorin Helga Wallner. Denn für viele der Schüler ist die Oberstufenausbildung herausforderndes Terrain. "Wir sind die internationale Schule Wiens, nur ohne wohlhabende Eltern“, erklärt Wallner. Über 90 Prozent der Schüler haben Deutsch nicht zur Muttersprache.

Die Schule bemüht sich nach Kräften, ihren Schülern Erfahrungen jenseits des Matheunterrichts mit auf den Weg zu geben: "Work Placement“-Praktika, verstärkte Exkursionen sowie "kreatives Gestalten und Kultur“ werden angeboten - "damit die Freude an der Schule aufrecht bleibt“, so Wallner.

Helga Wallner, Direktorin der Handelsakademie und Handelsschule des BFI, spricht sich für den Ganztagsunterricht aus.

Als "Role Models“ begleiten ehemalige Schüler die Lernstunden. "Sie sollen zeigen: Wir haben es geschafft, ihr könnt es auch. Unter Schülern mit Migrationshintergrund existiert oft ein internalisierter Zweifel“, erklärt Ganztageslehrer Johannes Harner. Aber auch praktisch gesehen hilft fachgerechte Lernbetreuung bei neuen, komplizierten Fächern wie Rechnungswesen und Buchhaltung. Persönliche und familiäre Krisen seien durch das Vertrauensverhältnis zwischen Lehrer und Schüler leichter begreifbar, erklärt Karner: "Es macht mich auf jeden Fall empathischer, zu wissen, dass der Bub gerade nichts lernt, weil er Ärger zu Hause hat, als pauschal anzunehmen, er hätte die Schule satt.“

Natürlich benötigten Ganztagsschulen mehr strukturelle Arbeit, um das aufwendige Angebot zu managen, erklärt Lisa Horill aus der Volksschule Schumpeterweg: "Wir bräuchten mehr Hilfe in der Administration, um uns stärker auf das Pädagogische zu konzentrieren - dazu zählt auch die inhaltliche Ausarbeitung, die bedauerlicherweise oft zu kurz kommt.“ Noch müssten engagierte Pädagogen meist ihre Freizeit dafür opfern, hinzu kommt der zeitliche Mehraufwand durch die nachmittägliche Lernbetreuung und gemeinsame Mittagspausen. "Wir tun das aus Überzeugung. Aber wenn ein Lehrer nicht mitmachen will, bringen Zwangsmaßnahmen weder ihm noch den Schülern etwas“, meint Lehrer Karner aus den BFI-Schulen.