„Wer wird in engen Mauern leben!”

profil-Reise China: XXL auf allen Ebenen

China. Die Supermacht ist einer der zentralen Handelspartner Österreichs

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Von Gunther Müller

Der Himmel ist matt und diesig an diesem Donnerstagmorgen. Die Smog-Werte sind selbst für Pekinger Verhältnisse hoch. Rund 30 Minuten fährt der Bus vom internationalen Flughafen in die Innenstadt. Auf der vierspurigen Schnellstraße sind zahllose deutsche Markenautos unterwegs: Audi, BMW, Mercedes, Volkswagen. Von Weitem sticht die Skyline der Metropole, in der 16 Millionen Menschen leben, dem Besucher ins Auge: ein dichter Spargelwald von Stahl-, Glas- und Betontürmen. Die Botschaft ist klar: Wer nach Peking reist, befindet sich im Zentrum einer modernen Supermacht, die mit Stolz in die Zukunft blickt - und an ihrer eigenen Vergangenheit nicht sonderlich interessiert zu sein scheint. "Es steckt so viel Geschichte in China. Aber eigentlich kennen die meisten Menschen hier nur noch eine Kultur: die des Geldes, des schnellen Erfolgs“, erklärt der obligate Fremdenführer das Erfolgsrezept seines Landes und lächelt dabei freundlich in die Runde.

Zeugnisse der 3000 Jahre alten Geschichte Chinas finden Peking-Touristen nur vereinzelt. Zum Beispiel in der Verbotenen Stadt, wo bis zur Revolution von 1911 sämtliche Kaiser der Ming- und Qing-Dynastien lebten - und die bis heute ein Areal der beeindruckenden Zahlen ist: 720.000 Quadratmeter groß mit 890 Palästen und 9999 Räumen, kunstvoll geschwungenen Dächern, prachtvollen Innenhöfen, dazu allenthalben Mystisches: Drachen-, Schildkröten- oder Kranichsymbole. Nichts wurde in dieser Architektur dem Zufall überlassen, alles muss getreu dem großen Denker Konfuzius mit dem Kosmos harmonieren.

Bereits 1983 reiste der 2006 verstorbene Salzburger Schriftsteller Gerhard Amanshauser durch China. In seinem Tagebuch schwärmte er von der fernöstlichen Ästhetik: "Das ruht auf der Erde, das breitet sich aus; das streckt sich nicht in den Himmel, sondern verbeugt sich gleichsam unter dem Himmel, aber nicht unterwürfig, sondern gelassen. Was ist dagegen die Gotik? Bizarre, labile Ekstatik, aber doch keine Architektur.“ Wenige Jahre zuvor hatte die steirische Autorin Barbara Frischmuth das Reich der Mitte aufgesucht, mittels eines damals üblichen Austauschprogramms. Sie gelangte zu einem ähnlichen Urteil: "Ich erinnere mich an das starke Glücksgefühl, das ich beim Betrachten jener roterdigen Landschaft im Südwesten Chinas hatte, die sich Hunderte von Kilometern erstreckte, ohne dass eine wild gewordene Architektur mit ihr im Streit gelegen hätte.“ Die chinesischen Reiseimpressionen der beiden Literaten, die weiters von "Fahrradkolonnen“, "Bauern mit Strohhüten“ oder "absolutem Stilwillen“ geprägt sind, mögen heute obsolet wirken. Sie wurden allerdings zu einer Zeit geschrieben, als die Modernisierung Chinas erst eingeleitet wurde.

"Es ist egal, ob es eine schwarze Katze oder eine weiße Katze ist. Solange sie Mäuse fangen kann, ist sie eine gute Katze.“ Unter diesem Motto öffnete Kommunistenführer Deng Xiaoping China damals dem Prinzip Marktwirtschaft. Der neue Mann an der Staatsspitze verordnete Pragmatismus statt Ideologie, Wohlstand für alle statt starren Festhaltens an der kommunistischen Mao-Doktrin. Mitte der achtziger Jahre durften Bauern plötzlich wieder auf eigene Rechnung Land pachten, Unternehmer Profite machen und Mitarbeiter anstellen. Mit dem "Modell China“ hat das Reich der Mitte zweihundert Jahre westliche Industrialisierung in nur dreißig Jahren nachgeholt. Heute ist China ein Land der Superlative: Keine Wirtschaft wächst schneller, kein Staat lockt mehr Investoren, keiner exportiert mehr Mode und Spielzeug, keiner verbraucht mehr Kohle und Öl. XXL auf allen Ebenen.

Große Städte wie Peking, Xi’an oder Shanghai sind übersät mit Baukränen. Restaurants, Einkaufszentren und Wohnsiedlungen werden aus dem Boden gestampft. Überall wird gehämmert, gebohrt, gestemmt. Altes wird abgerissen und durch Neues ersetzt. Bereits 2016, also in gerade einmal fünf Jahren, könnte China die USA als größte Volkswirtschaft der Welt ablösen, prophezeite unlängst der Internationale Währungsfonds.

Niemand kommt also an China vorbei, auch die Alpenrepublik nicht. Kürzlich stattete Österreichs Kanzler Werner Faymann seinem Amtskollegen Wen Jiabao einen Besuch anlässlich der 40-jährigen wirtschaftspolitischen Beziehungen der beiden Länder ab. "China hat die USA als wichtigsten Überseepartner Österreichs abgelöst“, sagt dazu Pekings Senior-Diplomat Wang Shu, der bis 1985 Botschafter in Wien war. 2010 stieg China erstmals unter die zehn wichtigsten Handelspartner Österreichs auf.

Diese Bindung war nicht immer so eng. Über Jahrhunderte galt für Österreichs Regenten das Reich der Mitte als wirtschaftlich wie politisch uninteressantes Land. Hans Thalberg, Österreichs erster Botschafter in Peking, hatte noch Anfang der siebziger Jahre Probleme, einschlägigen Lesestoff zu beschaffen: "Während man in New York, London und Paris, ja auch in Zürich und Genf in den führenden Buchhandlungen reichlich China-Literatur vorfand, hatte ich in Wien größte Mühe“, erinnert sich der Diplomat.

Das Nichtwissen der Herrschenden wussten dagegen viele österreichische Schriftsteller bis ins 19. Jahrhundert hinein für sich zu nutzen. "China-Themen wurden in der hiesigen Literatur die längste Zeit als Mittel der Kritik und Polemik verwendet“, sagt der Sinologe Gerd Kaminski. Wie Chinas Machthaber ihr Reich beherrschten, erfuhren die Habsburger Kaiser zunächst durch die Jesuiten, die während der Qing-Dynastie (1644-1911) als Missionare wirkten - und damit ein Informationsmonopol innehatten. Schöngefärbte Berichte waren die Folge, um den europäischen Herrschern einen Spiegel vorzuhalten. "Wer wünsche, dass der Herrscher Philosoph sei und die Weisen regierten, der müsse dieses Reich der Chinesen glücklich preisen“, befand der Jesuitenmissionar Martinus Martini um 1660.

Das verherrlichende Bild änderte sich erst im Revolutionsjahr 1848 schlagartig. Wiederum wurde China zum Instrument - fortan allerdings zum Negativexempel. "China war plötzlich ein Synonym für Reaktionäres, Rückständiges. Man kritisierte das Land und meinte damit in Wahrheit die Reformbedürftigkeit der Situation im Habsburgerreich“, so Sinologe Kaminski. China wurde von österreichischen Autoren in der Folge gern als Reich beengender Mauern thematisiert. "Wiens Wälle fallen in den Sand. Wer wird in engen Mauern leben! Auch ist ja schon das ganze Land von einer chinesischen umgeben“, schrieb etwa Franz Grillparzer anlässlich der Schleifung der Stadtmauern von Wien anno 1857. 1909 kritisierte Karl Kraus in seiner Satire "Die chinesische Mauer“ die heuchlerische katholische Sexualmoral; der 1917 von Franz Kafka verfasste Essay "Beim Bau der chinesischen Mauer“ lässt sich schließlich als unmissverständliche Kritik an der k. u. k. Monarchie lesen: "Der Kaiser, so heißt es, hat Dir, dem Einzelnen, dem jämmerlichen Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die Ferne geflüchteten Schatten, gerade Dir hat der Kaiser von seinem Sterbebett aus eine Botschaft gesendet.“

Knappe zwölf Stunden braucht man mit dem Nachtzug von Peking nach Xi’an, der wichtigsten Metropole im Nordwesten des 1,3-Milliarden-Einwohner-Landes. Erste Station für ausländische Touristen ist in der Regel die Besichtigung der Terrakottaarmee wenige Kilometer außerhalb der Stadt: Über 8000 lebensgroße Figuren, die symbolisch das Grab des ersten Kaisers von China bewachen, werden hier zur Schau gestellt. Erst 1974 wurde die Armee durch Zufall von einem Bauern entdeckt, heute zählt sie zu den Weltwundern. In der mächtigen Museumsanlage, die aus drei Hallen besteht, tummeln sich vorwiegend chinesische Touristengruppen, die hektisch mit Kameras und iPhones fotografieren, dann wieder ihren fahnenschwenkenden Reiseleitern hinterherhetzen. Gerhard Amanshauser würde seinen China-Bericht von 1983 wohl revidieren müssen. Damals schrieb er: "Für mich ist es eine Qual, längere Zeit in Gesellschaft fotografierender Menschen zu verbringen. Man kann beobachten, dass die Chinesen, die das Gros der Besucher ausmachen, sich an ihren toten Kulturschauplätzen immer noch adäquater bewegen als die westlichen Ausländer, die mit ihren baumelnden Apparaturen wie gestörte Trapper herumschwanken.“

Noch einmal geht es mit dem Nachtzug weiter, diesmal Richtung Südosten. Shanghai, die wichtigste Handelsmetropole des Landes, knapp 23 Millionen Einwohner, zahllose Luxuskaufhäuser, freizügige Barmeilen, hippe Künstlerviertel. Die boomende Metropole am Huangpu-Fluss wird regelmäßig von Lifestylemagazinen als die derzeit "aufregendste Stadt der Welt“ abgefeiert. Für die ferne Alpenrepublik spielte Shanghai vor allem während der Machtübernahme Hitlers eine zentrale Rolle. Zwischen 3000 und 4000 österreichische Juden fanden hier eine Zuflucht. Die fernöstliche Metropole war eine der wenigen Städte der Welt, die österreichische Emigranten ohne Bürgschaften und Nachweis eines beträchtlichen Vermögens gastfreundlich aufnahmen. In einmonatigen Intervallen gelangten die Flüchtlinge zum größten Teil auf italienischen und französischen Schiffen nach China. In "Shanghai Passage“ erzählte Franziska Tausig, Mutter des großen Schauspielers Otto Tausig, von ihrer Odyssee.

An der schillernden Uferpromenade Bund, nahe der Nanjing Lu, der wichtigsten Einkaufsstraße der Stadt, steht ein wuchtiges Art-déco-Gebäude mit grünem pyramidenförmigem Dach. Das Fairmont Peace Hotel - bis 1956 Cathay-Hotel genannt - war eine beliebte Absteige für Künstler und Bohemiens, Staatschefs und Gangsterbosse. Auch die in Wien geborene Journalistin und Bestsellerautorin Vicki Baum war Gast im Cathay. Während der Nazi-Zeit emigrierte sie in die USA, von wo aus sie unter anderem nach China reiste. Inspiriert von ihrem Aufenthalt im Hotel, entstand ihr Roman "Hotel Shanghai“ (1939). Darin lässt die Autorin während des zweiten chinesisch-japanischen Kriegs (1937-1945) neun Menschen mit unterschiedlichen Schicksalen in einem Hotel zusammenkommen, bevor sie alle durch eine Bombe getötet werden. "Hotel Shanghai“ ist ein Plädoyer für Frieden und Mitmenschlichkeit, zudem eine kurze Historie der Stadt, die, so Baum im Roman, "mit Opium und Schmuggel“ groß geworden sei. Rechts neben der Rezeption des Fairmont-Hotels führt eine Holztreppe in ein kleines, hauseigenes Museum: Altes Geschirr, Bilder, Promi-Fotos von Staatschefs und Schauspielern wie Charlie Chaplin sind zu sehen. "Ja, natürlich habe ich von Vicki Baum gehört. Ich weiß, dass sie hier bei uns war und später einen Roman darüber schrieb“, zeigt sich eine junge Mitarbeiterin des Museums an der Historie des Landes interessiert. "Leider gibt es den Roman aber nicht auf Chinesisch.“