Denkschulen: Drei polarisierende Bildungstrends in Europa

Während Gesamtschule, Lehrerarbeitszeiten und Zentralmatura Österreichs bildungspolitische Diskussion dominieren, werden auf EU-Ebene die Weichen bereits in ganz andere Richtungen gestellt. Drei große Bildungstrends weisen mögliche Wege zur Bildung der Zukunft.

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Die Schlagwörter sind länderübergreifend: Tablets statt Bücher, Verantwortlichkeits- statt Wissensvermittlung, Themen statt Schulfächer - und über all dem stets die Frage, was Bildungsvermittlung heute zu bedeuten hat. Lediglich in einem Punkt sind sich die Beteiligten der sehr emotional geführten Debatte einig: Die Technologisierung der Schule steht dringend an.

EU-weit wurde die Förderung digitaler Kompetenzen beschlossen, viele Länder haben bereits mutige Vorstöße auf diesem Gebiet gewagt. In Österreich bemühen sich bislang vor allem außerschulische Initiativen darum, Kinder möglichst früh mit neuen Technologien vertraut zu machen.

Kompetenzorientierung statt bloßem Faktenwissen - so lautet seit dem PISA-Debakel von 2004 die neue Wunderformel, die österreichischen Schulkindern einen bildungstechnischen Vorteil verschaffen soll. Doch die neue Ausrichtung sorgt für Kritik und Widerstand.

In Finnland, dem Musterland der Bildungsinnovationen, vollzieht sich ein Wandel weg vom Fächerunterricht hin zu interdisziplinären Projekten. Während Reformschulen dieses Modell seit jeher praktizieren, zeigt sich im österreichischen Regelschulsystem der Trend in die Gegenrichtung.

Drei große Denkrichtungen bestimmen die europäische Diskussion:

1.) Kleine Hacker braucht das Land

Das Wettrennen um den digitalen Vorsprung ist in vollem Gange - viele EU-Staaten setzen Reformschritte, um ihren Schülern Wettbewerbsvorteile in der digitalisierten Welt zu verschaffen. In Österreich hingegen sind vor allem Volksschüler auf innovationsfreudige Lehrer oder externe Anbieter angewiesen.

Man ziehe einen blauen Block mit dem Befehl "Gehe 10er Schritt“ ins Programmierfeld und drücke Start. Prompt marschiert die Katze Scratch über den Bildschirm, und es wird klar: So einfach kann Programmieren sein. Dank der 2007 entwickelten Website "Scratch“ des Massachusetts Institute of Technology (MIT) können Tausende Kinder weltweit das gleiche Aha-Erlebnis haben. "Drag and Drop“ oder "Block-“Programmiersprache lautet das Werkzeug, mit dem Kinder in der Slowakei, Estland, Großbritannien, Teilen der USA und bald auch in Australien ab der Volksschule lernen, wie sie Computerprogramme nach ihren Vorstellungen gestalten können.

"Der Klassenraum des 21. Jahrhunderts ist papierlos“ (EU-Bildungskommissarin Androulla Vassiliou)

Beinahe jedes Kind wächst bereits mit Computern, Smartphones und Internet auf. Doch ein "Digital Native“ zu sein bedeutet nicht automatisch, über entsprechendes Expertentum zu verfügen. Die meisten Computerbenutzer haben nur eine vage Idee davon, wo sich eigentlich Fotos und Nachrichten befinden, wenn sie in der "Cloud“ stecken oder WhatsApp benützt wird. Da Informationstechnologie in Zukunft eine noch größere Rolle spielen wird, warnen Experten vor den Gefahren, die Unwissenheit über die Prinzipien, auf denen das Internet basiert, mit sich bringt.

"Der Klassenraum des 21. Jahrhunderts ist papierlos“, sagte EU-Bildungskommissarin Androulla Vassiliou zur deutschen Zeitung "Die Welt“ vergangenes Jahr. Mehrere Milliarden Euro hat die EU im Plan 2020 zur Digitalisierung von Bildungseinrichtungen vorgesehen. In vielen skandinavischen Ländern sowie in den niederländischen Steve-Jobs-Schulen werden Tablets bereits großflächig für den Unterricht eingesetzt, Polen investiert Beträge in Millionenhöhe in die Schulung von IT-Lehrpersonal sowie digitale Unterrichtsmaterialien, und eine wachsende Anzahl von Staaten bringt bereits ihren Kleinsten das Programmieren bei. Pläne wie jener von Familienministerin Karmasin, bis zum Schuljahr 2016/17 E-Books einzuführen, reichen bei Weitem nicht aus, um Kindern einen verantwortungsvollen Umgang mit neuen Technologien beizubringen. Denn bei Medienkompetenz beschränkt es sich nicht auf die Hardware - strukturierter Unterricht ist unentbehrlich.

In Österreich verfügen zwar alle öffentlichen Schulen über Internetzugang und Computer, doch ob Schüler noch während der Pflichtschulzeit digitale Kompetenzen erlernen, ist häufig von privat motiviertem Lehrpersonal abhängig. Erst ab der neunten Schulstufe - und damit außerhalb des Pflichtschulbereichs - ist Informatik ein Muss. Zwei Stunden pro Woche sind ab der 5. Klasse Gymnasium vorgesehen - doch diese "beschränken sich meist auf anwendungsorientierten Unterricht: Word, PowerPoint. Viel weiter reicht das Wissen vieler Informatiklehrer nicht“, bemängelt Gerald Futschek von der TU Wien, der sich für die frühere Vermittlung von IT-Kenntnissen einsetzt. Professoren müssen nicht Informatik studiert haben, um dieses Fach zu unterrichten: "In der Pflichtschule eignen sich die meisten Lehrer ihr Wissen über einzelne Ausbildungskurse an."

Programmieren als "Supermacht"?

Unter dem Ausbildungsmangel der Lehrer litt auch Lisa Mandl. Die 17-jährige Realgymnasiastin stieß schnell an die Wissensgrenzen ihrer Lehrer und studiert seit diesem Jahr als außerordentliche Studentin Informatik an der TU Wien. Mandl war die einzige weibliche Teilnehmerin der "European Cyber Security Challenge“, einem Hacker-Wettbewerb für Schüler, den Österreich letztes Jahr gewann. Das Faszinierende an der Informatik: "Man kann sich eigene Welten bauen. Nicht umsonst sagt man, dass Programmieren einer Supermacht gleichkommt.“

Außerschulische Initiativen, die Computerinteressen junger Menschen fördern, finden sich en masse, angefangen bei dem WIZIK-Programmierworkshop für Volksschulkinder der Österreichischen Computer Gesellschaft (OCG). Doch die meisten Teilnehmer jener IT-Aktivitäten, zu denen auch die Hacker-Meisterschaft, die Informatik-Olympiade und das Computercamp zählen, haben durch ihre Eltern zur Informatikleidenschaft gefunden. Dass der spielerische Zugang zu Computern meist noch vom Elternhaus abhängt, stört die 17-Jährige. Die Vorselektion in der Schule verhindere auch eine andere Chancengleichheit: "Dadurch, dass sich weniger Mädchen für HTL oder Realgymnasium entscheiden, erhalten sie auch automatisch weniger Informatikunterricht. Fände er in allen Pflichtschulen statt, kämen wir gar nicht zu diesem Geschlechterunterschied.“ Informatik als unentbehrliche Kulturtechnik also. "Mathematik wird ja auch nicht gelehrt, weil erwartet wird, dass alle Mathematiker werden“, so Mandl, "es ist eine wichtige Kompetenz, allein, um nicht ausgenommen zu werden - wie beim Autokauf: Wenn ich mich besser auskenne, steigen auch meine Chancen, einen guten Deal auszuhandeln.“ Als wichtigen Demokratisierungsprozess sieht auch Futschek die fundierten Computerkenntnisse: "Nur so können wir gewährleisten, dass unsere Kinder einmal nicht einer Horde von Spezialisten ausgeliefert sind.“

Wo das öffentliche Bildungssystem nicht früh genug eingreift, springt die Privatwirtschaft ein, denn sie ist sich des drohenden IT-Fachkräftemangels bewusst. So läuft etwa in diesem Frühjahr die Initiative "Smart Kids“ vom Wiener Bildungsserver an. Vertreter von bislang sieben IT-Firmen lehren Schulkindern Programmierungsgrundlagen und fordern verpflichtenden Informatikunterricht ab der dritten Klasse Volksschule. Dass es eine moralische Gratwanderung sein kann, wenn man die Computererziehung Privatanbietern überlässt, ist dem Gründer der Initiative, Christoph Kaindl, bewusst: "Wir haben alle Werbung verboten. Aber natürlich kann es sein, dass den Kindern durch den Kontakt mit Mitarbeitern Namen wie IBM stärker im Bewusstsein bleiben.“

Lernen im digitalen Umfeld

Auch die Klasse von Birgit Desch der Volksschule Oberlaa verdankt als Gewinner des "Samsung-Awards“ ihre Tablets einem Privatanbieter. Die Volksschüler nehmen auf Initiative der technikbegeisterten Lehrerin regelmäßig an Programmier-Wettbewerben teil und gewinnen die meisten. "Es ist zwar ein Mehraufwand, doch wenn ich das Strahlen in den Augen der Kinder während der Projektarbeit sehe, nehme ich das gerne in Kauf“, erklärt Desch, die regelmäßig Fortbildungskurse besucht. Dass Kinder im digitalen Umfeld lieber lernen, zeigt eine laufende Studie der Universität Helsinki. Neue Technologien im Unterricht führen dazu, dass sich Kinder mehr in den Unterricht miteinbezogen fühlen, da diese Kompetenzen für ihr tägliches und künftiges Leben relevant sind.

Beschwerden, dass die Kinder durch den Digitalisierungs-Boom zu viel Zeit vor dem Bildschirm verbringen, gebe es vonseiten der Eltern keine. Im Gegenteil, berichtet Desch, viele würden sich dafür bedanken, dass ihnen der Druck zur Fortbildung genommen werde.

Das Bildungsministerium kündigte an, im nächsten Jahr zumindest genügend technische Geräte für eine Klasse pro Volksschule anzuschaffen. Digitalisierung kommt teuer: 5000 Euro pro Klasse sollen die Tablets kosten - ein Betrag, bei dem die Umschulungskosten der Lehrer nicht miteinberechnet sind. Bei derlei Summen stellt die sogenannte "digitale Kluft“, die durch Unterschiede im Zugang zu Informations- und Kommunikationstechnologie entsteht, eine reale Bedrohung dar. Insbesondere in ländlichen Regionen Österreichs herrscht beim Ausbau des Breitbandinternets und der Schulausstattung großer Verbesserungsbedarf.

Eine Möglichkeit, auch Kindern aus einkommensschwachen Familien einen Zugang zur Informationstechnologie zu verschaffen, wäre etwa der Computer "Rasberry Pi“ um 30 Euro. Android-basierte Apps wie "Pocket Code“ des Grazer Informatikers Wolfgang Slany erlauben auch Kindern, die keinen Zugang zu PCs oder Laptops haben, Programmieren nach dem "Legobaustein-System“ zu lernen.

Wem das immer noch zu digital ist, dem erklärt Gerald Futschek, dass die Grundlagen der Computerwissenschaft auch ganz einfach durch analoge Spiele erlernt werden können. Es gebe keinen Grund zu befürchten, dass sich Kinder durch den Ausbau von Informatik-Grundlagenunterricht in analoge Analphabeten verwandeln könnten: "Natürlich werden Informations- und Kommunikationstechnologien eine immer größere Rolle spielen. Doch solange Eltern ihren Kindern Bücher vorlesen, werden sie uns weiterhin als Kulturgut erhalten bleiben.“

2.) Kompetenz statt Wissen

In Zeiten der "googelbaren“ Information konzentrieren sich österreichische Schulpläne vermehrt auf Kompetenz statt Wissensinhalte - den Erfolg dieser Bildungsreform wird die erste kompetenzorientierte Zentralmatura in wenigen Tagen zeigen.

Was ist nun die Essenz des Wissens, was muss man wirklich gelernt haben, um sich in der Welt zurechtzufinden und in der Wissensgesellschaft andocken zu können?

Seit den katastrophalen PISA-Ergebnissen im Jahr 2004 liegt der Unterrichts- und Prüfungsfokus in erster Linie auf Kompetenzen, Inhalte sind zweitrangig. So auch bei der kompetenzorientierten Zentralmatura, die im Frühjahr erstmals durchgeführt wird. Wer sie bestehen will, muss etwa "Selbstständigkeit“ demonstrieren und "Ursachen und Zusammenhänge aufzeigen“ können. Man möchte den Kindern "variabel“ anwendbare Fähigkeiten mitgeben anstatt kurzfristig abrufbares Wissen, das binnen Monaten wieder veraltet ist oder vergessen wird, heißt es vonseiten des Bildungsministeriums. "Kompetenz stellt die Verbindung zwischen Wissen und Können her und ist als Befähigung zur Bewältigung unterschiedlicher Situationen zu sehen“, so die Definition der neuen Zielsetzung.

So weit, so gut. Geht dieser Plan auf, verspricht er das Ende von mühseligem Auswendiglernen und Schummelzettelschreiben.

Doch davon sind nicht alle überzeugt. In der Schweiz gab es intensive Proteste gegen die Einführung des kompetenzorientierten "Lehrplans 21“, sodass dieser mehrmals umgeschrieben werden musste. Und auch hierzulande melden sich Kritiker zu Wort: In seinem aktuellen Buch "Geisterstunde“ wettert Konrad Paul Liessmann gegen den Boom der Kompetenzen: "Wer nur gelernt hat, mit Wissen umzugehen, weiß, so paradox es klingt, letztendlich nicht, wie er mit Wissen umgehen soll. Denn dazu müsste er etwas wissen“, meint der Philosoph.

Die von ihm ungeliebten Bildungsexperten können die Aufregung um die angebliche Schulkatastrophe nicht teilen. Die Diskussion Wissen versus Kompetenz entzünde sich nicht zuletzt an einem Missverständnis des Kompetenzbegriffs, betont Bildungspsychologin Christiane Spiel vom Institut für Angewandte Psychologie an der Universität Wien. In der Bildungsforschung werden drei Arten von Wissen unterschieden: das reine Faktenwissen, das Umsetzungswissen, das etwa für eine Standard-Operation benötigt wird, und das sogenannte adaptive Handlungswissen: jenes Wissen also, das - um beim medizinischen Beispiel zu bleiben - etwa für eine Operation unter schwierigen Bedingungen benötigt wird. "Je mehr Arten des Wissens verankert sind, umso gesicherter ist es. Erst dann kann ich von Kompetenz sprechen. Kompetenz umfasst also das gesamte Wissen“, betont Spiel.

3.) Das Ende der Schulstunde

Themen statt Schulfächer. Finnland modernisiert seinen Lehrplan grundlegend - Der Fächerunterricht wird gestutzt und macht Platz für interdisziplinäre Projekte. In Österreich zeigt das Regelschulsystem einen Trend in die Gegenrichtung.

Keine Bildungskonferenz ohne bewundernde Blicke nach Finnland. Seit das nordische Land vor mehr als zehn Jahren Spitzenplätze in internationalen Vergleichstests von Schülerleistungen eroberte, gilt es als Vorzeigebeispiel dafür, wie ein Schulsystem zu funktionieren hat. Zuletzt machte das EU-Land durch eine radikale Schulreform von sich reden: Finnische Schulen führen den Unterricht nach Themen ein. Zwar werden die klassischen Schulfächer nicht gänzlich abgeschafft, jedoch wird der traditionelle Unterricht zugunsten fächerübergreifender Projekte zurückgefahren. Einige Schulen praktizieren schon jetzt den sogenannten Phänomene-Unterricht, wie etwa das Kallio Oberstufengymnasium in Helsinki.

"Wir lehren hier schon seit ein paar Jahren anhand von Themen“, sagt Hanna Saari, die an der Schule Deutsch und Französisch unterrichtet. Aktuell arbeiten einige Schüler am Projekt Musikcafé und lernen dabei, was sie für den Kaffeehausbetrieb brauchen: angewandte Betriebswirtschaft mit den Schwerpunkten Gastronomie und Kulturbetrieb. Es muss detailliert geplant, gerechnet und geschrieben werden, Fremdsprachen wollen für den Austausch mit ausländischen Gästen aufpoliert, passende Musikstücke ausgewählt und einstudiert werden. Zu Projektende werden die Schüler ein paar Tage lang das Musikcafé dann auch führen. "Der Großteil der Schüler ist vom Themenunterricht begeistert, aber es gibt natürlich auch ein paar, die den klassischen Schulbetrieb bevorzugen“, sagt Saari. Unterm Strich sei interdisziplinäres Lernen lohnend, jedoch auch fordernder als das Standardprogramm - für Lehrer wie Schüler. Ab August 2016 werden alle Schulen des Landes mindestens ein Mal pro Jahr über mehrere Wochen Themenunterricht einschieben, in Helsinki sind sie sogar zwei Mal jährlich dazu verpflichtet. "Für die Reform ausschlaggebend war die Tatsache, dass unser Bildungssystem veraltet ist. Wir müssen den Kindern heute andere Kompetenzen vermitteln, die sie für ihr Leben rüsten: allen voran Flexibilität sowie die Fähigkeit zur Zusammenarbeit“, sagt Marjo Kyllönen, Helsinkis Bildungsmanagerin.

Während im österreichischen Regelschulsystem für Projektunterricht bestenfalls nach Notenschluss ein paar Tage Zeit bleibt, gilt Interdisziplinarität in der Reformpädagogik als die Norm. "Was in Finnland jetzt erprobt wird, machen Montessori-Schulen seit jeher“, sagt Natascha Kober, Sprecherin des Montessori-Campus Wien-Hütteldorf. Hier wird anhand von "Feldstudien“ unterrichtet, interdisziplinäre Projekte, die über mehrere Monate laufen und keine Freifächer, sondern fixer Bestandteil des Lehrplans sind.

"Kosmische Erziehung"

Der Montessori-Campus Wien-Hütteldorf erstreckt sich mittlerweile über mehrere Standorte, die Primarstufe 2 (P2), wo Neun- bis Elfjährige gemeinsam lernen, ist in einem Gebäude in Grünruhelage untergebracht. Im Garten sitzen zwei Buben auf der Schaukel eines kleinen Abenteuerspielplatzes. Neben dem Eingang liegen jede Menge Tretroller nebeneinander, übereinander. In den Räumlichkeiten ist so einiges anders als in Wiener Regelschulklassen. Es gibt keine Sitzreihen, keine Tafel, keine fixen Plätze und eigentlich auch keinen Unterricht - zumindest nicht so, wie man das kennt. Die Schüler lernen in Gruppen, zu zweit oder allein, am Tisch oder Boden sitzend. Es ist faszinierend ruhig. "Das ist, was wir Freiarbeit nennen“, sagt Birgit Rateniek, Leiterin der P2. Wie sich im Laufe des Gesprächs herausstellt, steht in der Montessori-Schule fast immer Freiarbeit auf dem Stundenplan. Konkret bedeutet das, dass sich jeder Schüler morgens entscheidet, was er lernen will, wo und mit wem. Hier arbeiten also Kinder, ohne dass sie dazu gezwungen, animiert oder ständig kontrolliert werden. Dessen ungeachtet gilt der österreichische Rahmenlehrplan. Bis zum zwölften Lebensjahr gibt es keine Schulfächer - in der Montessori-Pädagogik nennt sich dies Kosmische Erziehung. "Kosmos bedeutet Ordnung“, betont Rateniek. Montessori-Schüler sind also bis zum zirka zwölften Lebensjahr damit beschäftigt, aus dem Angebot an Wissen auszuwählen und das Gelernte zu sortieren und einzuordnen. In der Sekundarstufe I, ab zwölf, werden erste Schulfächer - Mathematik, Deutsch, Englisch und Spanisch - eingeführt. Die übrigen Disziplinen verbleiben im Kosmos.

Das Schöne an der Kompetenz: Sie ist veränderbar. Clara und Helena, beide 16 Jahre alt, bereiten sich am Campus Wien West auf die internationale Hochschulreife - das International Baccalaureate Diploma Programme (IBPD) - vor. Das ist ein international anerkannter Abschluss, der es ermöglicht, sowohl in Österreich als auch im Ausland zu studieren. Zwar wird auch hier Reformpädagogik praktiziert, doch es gilt zugleich der standardisierte Lehrplan nach internationalen Vorgaben. Die zwei Schülerinnen erlebten im Zuge des Übertritts von der Montessori-Schule ins IBPD einen Systemwandel. Inzwischen konnten sie sich einen Überblick verschaffen und Lücken schließen. Stefan Hopmann vom Institut für Bildungswissenschaft an der Universität Wien ist kein Anhänger des Flächenunterrichts. "Die Idee stammt aus dem 19. Jahrhundert und ist historisch immer wieder gescheitert“, sagt Hopmann, "Themenunterricht kann eine Begleitmaßnahme sein, aber es ist keine Alleinmaßnahme. Denn die Sortierung des Wissens in Schulfächer hätte den Vorteil, Orientierung zu bieten. Dies sei vor allem für leistungsschwache Schüler wichtig, um den Lernstoff zu gliedern. Hinzu kommt, dass die Grundlagen wackelig blieben, wenn großteils querbeet unterrichtet werde.

Roland Fischer, emeritierter Professor für Mathematik und Didaktik an der Universität Klagenfurt, spricht sich für eine Beibehaltung von Schulfächern aus, jedoch hält er fünf Domänen - also Mischfächer - statt dem Kanon aus 15 Disziplinen für ausreichend. "Mir geht es um ein zeitgemäßes Konzept von Allgemeinbildung“, betont er. Die Schlüsselfrage ist demnach, welches Wissen wesentlich ist. Diesen verbindlichen Inhalten sollten etwa 50 Prozent der Unterrichtszeit gewidmet werden, die übrige Zeit für fächerübergreifendes Lernen reserviert bleiben sowie für das Training der Reflexionsfähigkeit im schulischen Diskurs. Um sich den Herausforderungen des modernen Lebens souverän zu stellen, sei nicht entscheidend, möglichst viel Faktenwissen parat zu haben, vielmehr sei Orientierungswissen gefragt. "Wir müssen heute so viele Entscheidungen treffen, doch in der Schule werden einem fast alle abgenommen“, betont Fischer und plädiert dafür, junge Menschen zu entscheidungskompetenten Laien auszubilden, die gelernt haben, zu hinterfragen, und Wege kennen, wie man zu einer Lösung gelangt.

Indessen verläuft der Trend in die Gegenrichtung. Laut Experten werde immer mehr Lernstoff in eine österreichische Schulstunde gepresst. "Vor allem in den Mathebüchern ist der Stoff inzwischen so umfangreich, dass er nicht zu schaffen ist und vieles unerledigt bleibt“, sagt Hopmann. Von den Fachleuten habe jeder andere Prioritäten, und eine Konsenslösung unter Koryphäen führe in der Regel dazu, dass kaum Abstriche gemacht werden. Fischer: "Hier sollten unbedingt Laien zugezogen werden und mitentscheiden, auf welche Wissensinhalte verzichtet werden kann.“