Mein süßes Leben, Teil 1

Familienrezepte, Teil 1: Mein süßes Leben

Kulinarik. Nachspeisen sind oft gar nicht so süß wie ihr Ruf

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Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unterscheidet sich aber auf ihre Weise, wenn es um die Zubereitung von Nachspeisen geht. Hätte der Schriftsteller Leo Tolstoi dies im ersten Satz von „Anna Karenina“ beherzigt, wäre das von ihm geschaffene Stück Weltliteratur wahrscheinlich fröhlicher verlaufen. (Im Original gibt sich Russlands größter Literat nämlich relativ humorbefreit, sein Satz endet mit: „… jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.“) Andererseits hätte man dann das bewegende Schicksal der fürstlichen Familie Oblonski möglicherweise in jenes eines, zum Beispiel, Waffelhersteller-Clans Oblattski abändern müssen. Was bestimmt für weniger Glamour, wenn auch für gleichviel Brösel gesorgt hätte. Der gedankliche Zusammenschluss von Dessert und Unglück ist jedenfalls nicht falsch.

Denn Nachspeisen sind, zumindest anfänglich, gar nicht einmal so süß wie ihr Ruf. Nimmt man es genau, erweisen sie sich sogar als recht heimtückisch. Sie tun zwar gern auf unkompliziert und geht-eh’-ganz-schnell, verlangen aber nach extremer Genauigkeit und Ernsthaftigkeit. In ihrer Seele sind sie Diven, ganz wie ihre Schöpferinnen, die die Rezepte meist im hohen Alter oder überhaupt erst nach ihrem Ableben in Form von schwer entzifferbaren Notizen weitergeben. Manchmal flunkern die großen Meisterinnen des Süßen auch gern bei der genauen Mengenangabe, damit es nie wieder so schmecken möge wie aus ihrer Hand. Oder sie nehmen die Rezepturen, die sie in den Fingerspitzen hatten, mit ins Grab wie einst Friedrich Torbergs berühmte „Tante Jolesch“. Noch auf dem ­Totenbett – befragt nach dem Geheimnis, warum ihrer „Mehlspeis’“, die stark karamellisierten Krautfleckerln, so besonders gut geschmeckt haben – antwortete die alte Dame mit dem ausgeprägten Sinn fürs Lapidare: „Weil ich nie genug gemacht hab …“ Danach schloss sie für immer die Augen.

Nicht jede Familie kann in ihrem Stammbaum mit geheimnisvollen Zuckerweberinnen auftrumpfen, aber in fast jeder haftet am schönen Teil der Erinnerungen der Duft von Schokolade, Karamell oder Vanille. „Das mag daran liegen, dass es kaum einen Menschen gibt, der als kleines Mädchen oder als kleiner Bub nicht mit Süßigkeiten belohnt oder motiviert wurde“, erklärt die Ernährungsberaterin Ursula Vybiral. „Deshalb löst Zucker selbst bei Erwachsenen ganz archaische Muster aus.“ Der mehrfach ausgezeichnete niederösterreichische Wirt Roland Lukesch spielt mit seiner Dessertkarte bewusst auf dieser Klaviatur der Gefühle. In seinem „Haslauer Hof“ im niederösterreichischen Haslau bei Maria Ellend serviert er eine „Großvaterpalatschinke“ und eine „Großmutterpalatschinke“ – beide sind mit Nüssen gefüllt und Schokolade übergossen und unterscheiden sich nur darin, dass die eine mit Eierlikör serviert wird, die andere nicht. „Das Rezept dazu stammt von meiner Urgroßmutter, nur die Nussmasse, die ursprünglich trocken war, habe ich zu einer Creme verfeinert“, erzählt Lukesch. Er habe sich schon oft überlegt, die zwei Klassiker von der Speisekarte zu nehmen und ausschließlich neue Krea-tionen zu servieren – „aber die Gäste lieben diese Palatschinken. Häufig verbinden sie diese Süßspeise mit angenehmen, wohligen Erinnerungen an ihre eigenen Großeltern.“

Wobei an dieser Stelle festzuhalten ist: Es gibt Familien, in denen die Großmütter die allerbesten Desserts kochten, ohne jemals davon gekostet zu haben. Und andere, in denen diese zwar liebend gern naschten, aber nur an hohen Festtagen und dafür unter großem Applaus selbst den Schneebesen schwangen. In jener der Autorin fanden sich beide Formen dieser polarisierenden Mütterlichkeit vertreten. Weshalb sich ihre Familie auch am besten in Verbindung mit Süßspeisen beschreiben lässt.

Lesen Sie nächste Woche: Die Dynamit-Linzertorte.

Die Rezepte dazu finden Sie im aktuellen profil isst!