Indien: Rundreise von New Delhi nach Agra, Jaipur und Fatehpur Sikri
Es ist seltsam ruhig im Indira Gandhi Airport, dem internationalen Flughafen von Delhi, es ist spät, weit nach Mitternacht, und der tiefe, orange-braune Teppichboden schluckt jedes Geräusch. Schläfrig erwarten Passagiere ihr Gepäck, gelangweilt warten uniformierte Wachleute auf das Ende der Schicht. Vor der Tür eine lange Reihe von Taxis im heißen, nebligen Dunst, den der abendliche Monsunregen hinterlassen hat. Später, auf dem Weg nach Manesar, einem Industrieviertel südlich der Hauptstadt, ragen Fabriksanlagen aus dem Smog, aus denen wiederum gläserne Hochhaustürme wuchern, schemenhaft ist eine Landschaft aus skelettierten Fahrzeugen auszumachen. Die Menschen, die hier verweilen, starren ins Ungefähre. Als es langsam hell wird und sich der Nebel verzieht, wird deutlich, dass die Lkw-Friedhöfe eigentlich Lkw-Parkplätze sind, dass die Anhänger nicht grau, sondern mit bunten Schriftzügen, Mustern, Girlanden und Anhängern geschmückt sind. Kühe liegen wiederkäuend im Schlamm, die Männer am Straßenrand blicken nicht ins Leere, sondern auf einen Fahrweg. Es ist gut möglich, dass sie den Gedichten der Hupen lauschen. Es ist überhaupt nicht ruhig in Manesar, die Luft ist erfüllt vom Dröhnen und Tröten des Highways.
1. Stefan Zweig oder: die Suche nach dem Fremden
Vor etwas mehr als hundert Jahren, im Sommer 1908, schickte der damals fast dreißigjährige Romancier Stefan Zweig ein Feuilleton an das "Leipziger Tageblatt". Darin rezensierte der Autor eine Handvoll Reisebeschreibungen aus Indien und gelangte dabei zu folgendem Schluss: "Hat man diese Bücher aber alle hintereinander gelesen, so bleibt nichts Scharfumrissenes, nichts Festes, nicht Indien, sondern ein Vages, wie aus Nebeln Tauchendes, ein Lockendes und Fernes, die Sehnsucht nach Indien." Um mehr zu erfahren, erkundete Zweig dies Vage, Lockende bald auf eigene Faust. Von November 1908 bis April 1909 reiste er durch Indien, besuchte Mogulschlösser und Maharadschahöfe, schrieb Postkarten und Reiseberichte. In seiner Autobiografie "Die Welt von Gestern" beschreibt Zweig einen nachhaltigen Effekt der Reise: "Veränderte Distanz von der Heimat verändert das innere Maß. Manches Kleinliche, das mich früher über Gebühr beschäftigt hatte, begann ich nach meiner Rückkehr als kleinlich anzusehen und unser Europa längst nicht mehr als die ewige Achse unseres Weltalls zu betrachten."
Ähnlich ergeht es Victoria Wagner. Seit wenigen Wochen leitet die Diplomatin das österreichische Kulturforum in New Delhi, aus Erfahrung weiß sie zu berichten: "Seinen Eurozentrismus legt man hier sehr schnell ab, Indien ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt." Europa wird hier, wenn überhaupt, als ein einziges, homogenes Ganzes wahrgenommen. Die deutsche Literatur wird selbst auf den Germanistikinstituten der Universitäten kaum von der österreichischen unterschieden. Österreich wird als Schauplatz von "Sound of Music" identifiziert, neuerdings auch als Filmszenerie für aktuelle Bollywood-Produktionen. Die indische Bildungselite ist allenfalls mit Mozart und Freud vertraut. Schnitzler und Hofmannsthal sind hier eher Unbekannte. Peter Handke? Peter who?
Victoria Wagner sitzt in ihrem Büro im Botschaftsviertel von New Delhi, einer ruhigen, aufgeräumten Gegend, die mit ihren breiten Boulevards und hohen Mauern ein wenig an Beverly Hills erinnert, und erzählt von den Kulturevents, die sie veranstaltet - und den Schwierigkeiten, die sich dabei bisweilen ergeben. "Wir versuchen, mit unseren Programmen ein möglichst breites Publikum anzusprechen." Das klappt, manchmal, mit Musikveranstaltungen, seltener mit bildender Kunst. Die Literatur dagegen bleibt zumeist an der Sprachbarriere hängen. Deutsch wird in Indien zwar als Fremdsprache immer wichtiger, vor allem für Angestellte in Callcentern, die europäische Kunden betreuen. Die österreichische Literatur bleibt dagegen ein Herzensprojekt einiger weniger Enthusiasten. Vor einigen Jahren kam auf Privatinitiative eine Übersetzung von Elfriede Jelineks "Lust" auf Hindi zustande.
Umgekehrt spielt Indien in der österreichischen Literatur ebenfalls keine allzu ausgeprägte Rolle. Erst Jahrzehnte nach Stefan Zweigs Reiseberichten tritt der Subkontinent in Texten von Christoph Ransmayr und Josef Winkler überhaupt wieder zentral in Erscheinung, und das auf sehr unterschiedliche Art. Wer nach Indien kommt, findet sich, ganz dem Klischee entsprechend, selbst. Das gilt für Literaten genauso wie für New-Age-Jünger. Ransmayr fand hier poetische Anknüpfungspunkte, Winkler einen neuen Zugang zu den in seinem Werk seit je umkreisten Lebens- und Todesthemen. Stefan Zweig wiederum vermeinte, die romantischen Vorstellungen vom Fremden hier erfüllt zu sehen.
"Zwei Tage, die man in einer solchen indischen Stadt verbracht hat, lehren einen das ganze äußere Leben dieses Volkes, so aufgetan ist alles", begeisterte sich Zweig in einem seiner Reiseberichte aus jenen "unvergesslichen kleinen verflochtenen Straßen (...), wo die Läden ganz ohne Geheimnis sich auftun, wo rückwärts im Schatten man das Werk entstehen sieht, das vorn, gehütet von den freundlichen Besitzern, dem Blick, dem Kauf sich darbietet."
Ein Spaziergang durch Chandni Chowk, das Marktviertel der Altstadt von Delhi, bestätigt die Beobachtung. Die Geschäfte fungieren als Werkstätten, Küchen und Schlafplätze, das Leben findet öffentlich statt. Von den Strommasten wuchern Leitungen, durch die Straßen wuseln Rikschas, in einer engen Seitengasse hinter der Freitagsmoschee befindet sich eine Reihe von Buchhandlungen, vor denen sich Bücher stapeln mit Titeln wie "Business Economics", "Data Structures Using C And C++", "Plant Physiology" oder "Engineering Physics". Delhi ist die Hauptstadt des modernen Indien, der aufstrebenden Weltmacht, Ingenieurs- und Hightech-Hochburg zugleich. Dennoch scheinen jene Beobachtungen, die Stefan Zweig 1909 publizierte, nahezu alterslos: "Die Gasse schweigt hier nicht, sie hat kein Geheimnis. Man sieht in die Häuser hinein, sieht, wie diese Menschen leben, wie sie schlafen, man reist auf den Schiffen, in den Bahnen mit ihnen, kann ihre Bücher lesen, ihre Tempel sehen - und doch, ihr inneres Leben bleibt unbegreiflich fremd."
Dem soll auch weiterhin so sein, zumindest wenn es nach dem Taxifahrer geht. In Agra, der Residenzstadt der Mogulherrscher des 16. und 17. Jahrhunderts, gut 250 Kilometer südöstlich von Delhi, mahnt der Chauffeur vor dem Taj Mahal, der größten Touristenattraktion Nordindiens: "Don't talk to anyone. Ignore. Just look." Jährlich besuchen mehr als drei Millionen Menschen das Grabmal des Shah Jahan und seiner Lieblingsfrau Mumtaz Mahal. Die Touristenmassen wollen von Heerscharen dienstbeflissener Händler betreut werden: "Want guide?" "Visit my shop!" Die meisten Touristen befolgen den gut gemeinten Rat der Taxilenker und schauen weg, huschen zum Sicherheitscheck vor dem Grabmalgelände. Die Gassen und Blechhütten schweigen auch in Agra nicht, allein: Das Gros der Touristen rauscht vorbei im klimatisierten, schalldichten Reisebus, hin zum Taj Mahal, und wieder zurück, ins komfortabel klimatisierte Hotel.
Vor einem der Hotels von Agra, einem Fünfsternebunker aus den siebziger Jahren, steht Babu, ein 54-jähriger Fahrradrikschafahrer. Babu hustet beim Fahren, unmerkliche Steigungen strengen ihn höllisch an, links und rechts drängen sich Motorrikschas vorbei. Babu hat glasige Augen, nicht mehr alle Zähne und "problems, lots of problems". Zehn Stunden am Tag wartet er an seinem Standplatz auf Kundschaft, oft vergeblich. Luxushoteltouristen fahren selten mit Rikschas. Babu steht dennoch hier, er wohnt in der Nähe. Seine Frau ist höchstens halb so alt ist wie er, vier Kinder hat das Paar, dessen Haus eigentlich ein Zelt ist, direkt neben der Fahrbahn, gerade groß genug für ein Bett und einen Teppich. Davor steht eine Tonne, in der Babu Regenwasser sammelt. Er wohnt hier, seit er selbst ein Kind war, unsichtbar für die Hotelgäste nebenan. Was passiert, wenn aus Reisenden Touristen werden, beschrieb Stefan Zweig bereits vor mehr als hundert Jahren: "Der fremdenfreundliche Fürst, der alles zum Empfang von Gästen bereitet, wird ihnen wenig mehr zu bieten haben. Denn der Reisende sucht immer das andere, das Fremde und nicht das Eigene und wird in Indien nicht Europa wiederfinden wollen, sondern Indien selbst."
2. Josef Winkler oder: der Text der Stadt
Man muss aus dem Bus steigen, um Indien zu finden. Zum Beispiel im Zentrum von Agra, abseits des Taj Mahal, weit weg von Guides, Andenkenhändlern und Taxifahrern. Die Suche wird sofort belohnt: Zeltplanen, Schlaglöcher, Fahrräder, Bananenstapel, Hupen, Räder, Schilder, Steine, Plastik, Gesichter, die aus Bussen starren, Männer, die am Straßenrand hocken, gelbgrüne Motorrikschas, Straßenbuden, Hütten, Ziegelbauten, die Werkstätten sein könnten, Schlafplätze, Bankfilialen. Das Leben hier ist oft uneindeutig. Und dabei immer eindrucksvoll. Manchmal in einem schwer zu ertragenden Ausmaß.
Auf seiner ersten Reise nach Indien, Frühjahr 1993, erlag der Kärntner Schriftsteller Josef Winkler beinahe diesem Übermaß. "Vollkommen erschöpft und erschlagen von den neuen Eindrücken und für mich neuartigen Bildern (...) überlegte ich mir, während meine Begleiterin vom Pistaziengeschmack einer indischen Süßigkeit schwärmte, ob ich sprachloses Elendshäufchen mich nicht vor einem herankommenden schweren Lastwagen von der Fahrradrikscha auf die Straße werfen sollte (...) und murmelte (...) mehrere Male vor mich hin: 'Du wirst nie wieder einen Satz schreiben können!'"
Winkler schrieb weiter, die Aufzeichnungen entstammen seinem meisterhaften Indienbuch "Domra", das Delhi am Rande streift und zum größten Teil in Varanasi spielt, der heiligen Stadt am Ganges, in der gläubige Hindus ihre Verstorbenen verbrennen. "Varanasi (...) ist ein lebendiger Text des Hinduismus", zitiert Winkler in "Domra" die US-Indologin Diana L. Eck - und verschweigt dabei, dass so gut wie jede indische Stadt einem lebendigen Text entspricht; einem Text, der in seinem Detailreichtum herausfordert, manchmal überfordern kann.
Jaipur ist so eine Stadt, die Hauptstadt von Rajasthan, auf einer Anhöhe rund 200 Kilometer westlich von Agra. In den Reiseführern wird Jaipur nur "Pink City" genannt, weil seine Stadtmauern und Hauswände in verwaschenem Rosa erstrahlen, die Straße hingegen, die von Osten her in die Stadt führt, glänzt schlammbraun. Die Schlaglöcher sind knietief und mit Wasser gefüllt, unbeeindruckt davon wird gefahren, gehupt, geparkt, überquert, flaniert, geradelt, aneinander vorbeigeschrammt; Kühe glotzen, Fahrzeuge transportieren Menschen, Säcke, Eisenkabel, Lautsprecher, Früchte, Fässer, und immer wieder Menschen. Der Taxifahrer kurbelt verbissen an seinem Lenkrad, jedes Manöver wird mit einem Hupsignal vertont. Die Frage, wie viele Personen auf ein Moped passen, wird in Jaipur so beantwortet: fünf, solange zwei davon Kleinkinder sind. Das Leben, auf die Straße verlagert: gestrandete Fahrzeuge, Gemüseläden, dampfende Kessel, Plastikmüll, Schlamm, wieder Kühe, Kinder, Pferde, Esel; dazu Männer, die ihre Notdurft verrichten, Frauen in goldenen, türkisen, rosa Saris, Werbeschilder, Eisenschrott, Ziegelsteine, Stromleitungen. Wo der Straßenrand endet und die eigentliche Straße beginnt, ist schwer auszumachen, so wie auch die Regeln, nach denen dieser Mikrokosmos funktioniert, im Dunkeln bleiben. Vielleicht gibt es welche, vielleicht nicht. Hauptsache, es funktioniert.
Hinter den Stadtmauern ändert Jaipur sein Aussehen jedoch radikal, die Metropole wirkt hier aufgeräumt, ein rosa Schimmern in der Luft. Der Erbauer der Stadt, Maharadscha Jai Singh II. (1688-1743), ließ rechteckige Raster und Viertel anlegen, die Pink City funktioniert äußerlich wie der Big Apple, ihr Innenleben bleibt aber, ganz im Zweig'schen Sinne, fremdartig. Der Taxifahrer deutet nach links, auf das Wahrzeichen Jaipurs, den Hawa Mahal oder Palast der Winde, ein fünfzehn Meter hohes, rosarotes, keine zwei Meter tiefes Gebäude mit über 900 Fenstern. Sein Erbauer, Maharadscha Pratap Singh, trug den Ehrentitel Sawai, was so viel bedeutet wie "Eineinviertel" und in erster Linie auf die royale Selbstüberhöhung zurückgeht - und zugleich ein schönes Bild darstellt für das aufregende, aufreibende, verwirrende Zuviel von Jaipur.
3. Christoph Ransmayr oder: die Poetik der Geisterstadt
Zwischen Agra und Jaipur, an der Grenze der Bundesstaaten Uttar Pradesh und Rajasthan, liegt Fatehpur Sikri. Es ist ruhig in Fatehpur Sikri, keine Motorrikschas, keine Kühe, keine Schlaglöcher, nur ein paar Touristengruppen, die vor der Hitze in den spärlichen Schatten fliehen. Zur Zeit seiner Erbauung, um 1570, war Fatehpur Sikri größer als das damalige London. Heute ist es eine Geisterstadt, verlassen seit über vierhundert Jahren. Nur vierzehn Jahre lang war die Stadt besiedelt, als Residenz des großen Mogulherrschers Akbar. Seither steht sie leer, einsam, ein unmögliches, kaum zu bewässerndes Phantasma seit Entstehen, irrlichternd zwischen romantischer Poesie und der Selbstherrlichkeit des großen Akbar. "Es ist unsere Stadt, der Ort der Erzähler und Zuhörer", schreibt Christoph Ransmayr in "Fatehpur", seiner Dankesrede zum Prix Aristeion 1996. Angesichts der unmöglichen Stadt entwickelte der Dichter eine mögliche Poetik des Schreibens: "Anders als wir Erzähler, wir Zuhörer, brauchte aber selbst ein gottgleicher Held und Großmogul an die zehntausend Arbeiter täglich, Diener, Taglöhner, Sklaven, um seine Stadt zu gestalten, um aus roten Felswänden ein ganzes Gebirge gemeißelter Steine zu schlagen, um einen Fluss zu stauen und so die Herrlichkeit seiner Residenz auch noch mit einem See zu schmücken, einem See inmitten eines glühenden Landes, das er mit dem Eis Kaschmirs zu kühlen versuchte, mit tropfenden Karawanen, die Schnee aus dem Himalaya durch die Wüsten Rajasthans bis nach Fatehpur trugen."
Es ist gut möglich, dass den Touristen, die sich im Schatten unter Akbars Balkonen drängen, der Unterschied zwischen Dichtung und realem Wahn herzlich egal ist. Sie versuchen die Guide-Anfragen, die Souvenirangebote zu ignorieren und schlendern zügig Richtung Ausgang. Dort wartet ein Taxifahrer, der sie zurückbringt in ihre Quartiere. Das Lenkrad kurbelnd, hupend. Es ist laut in Indien.
Reise. Viele österreichische Autoren haben weit über die Landesgrenzen hinaus ihre biografischen und literarischen Spuren hinterlassen: In Istanbul, einer der am dichtesten bevölkerten Städte Europas, findet sich etwa eine überraschend umfassende Austro-Bibliothek; die Klagenfurter Dichterin Ingeborg Bachmann lebte und starb in Rom; der k. u. k. Literat Franz Werfel thematisierte in seinem 1933 veröffentlichten Historienepos "Die vierzig Tage des Musa Dagh" den Völkermord an den Armeniern durch die türkischen Belagerer, und die Linzer Autorin Anna Mitgutsch sammelte während mehrerer Aufenthalte in Israel Stoff für ihren Roman "Abschied von Jerusalem" (1995); die Indien-Visiten von Büchnerpreisträger Josef Winkler finden sich als literarisches Echo in dessen Werk - von "Domra oder am Ufer des Ganges" (1996) bis "Roppongi" (2007). Nach der 2008 unternommenen Erkundung zentraler literarischer Schauplätze der Donaumonarchie begibt sich profil in einer neuen mehrteiligen Serie auf die Fährte der historischen und gegenwärtigen Spuren, die Österreichs Literatur im Ausland hinterlassen hat - unter anderem in Rom, Kopenhagen, Eriwan und New Delhi.