Sonderwege zum Glück

Kuba: Erkundungstour in einem Land im Umbruch

Kuba. Erkundungstour in einem Land im Umbruch

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Kuba, an einem frühen Abend im Februar. Nur halbherzig schirmt sich der real existierende Tropensozialismus gegen die Invasoren aus Österreich ab. An der Grenze sitzt ein berufsmürrischer Zollbeamter in einer Art Umkleidekabine aus Sperrholzimitat, starrt in Pässe und flugmüde Gesichter und drückt dann auf den Knopf, der die Umkleidekabinentür ins gelobte Land öffnet, beziehungsweise dessen badetouristischen Abklatsch: Varadero, ein All-Inclusive-Clubressort-Nest an der Nordküste Kubas, zwei Autostunden östlich von Havanna. Vor wenigen Minuten ist der Direktflug aus Wien am örtlichen Flughafen gelandet. An Bord: Clubresort-Urlauber der Generation 50 plus, die noch etwas verunsichert auf das Holzimitat des Kontrollpunkts blinzeln und ihre Nervosität, je nach persönlicher Veranlagung, entweder durch Reiseunterlagen-aus-Klarsichthüllen-Nesteln bekämpfen oder durch herzhaftes Wiener-Sein: "Wos wü der Inschbegda?“

Die Feriengäste sind gekommen, weil sie einer Fantasie folgen. Diese Fantasie heißt Kuba, und sie existiert in verschiedenen Formationen. Mal erscheint die Antilleninsel als verwirklichte politische Utopie, mal als tropische Kulissendiktatur; den einen dient sie als Zeitkapsel in die fünfziger Jahre, den anderen als pauschaltouristischer Sonne-Strand- und-Mojito-Erlebnispark; wahlweise auch als Alter-Mann- und-das-Meer-Panorama oder verführerisch lebenspralle Salsa-Tanzfläche. Hier und jetzt, auf dem Flughafen von Varadero, ist die Kuba-Fantasie allerdings noch finster und riecht nach Benzin. Der nächtliche Weg in die Hauptstadt Havanna führt an einer Erdölraffinerie vorbei, über unbeleuchtete Autobahnen. Nur vereinzelt wird die Dunkelheit von den Neonröhren der Straßenrandimbisse durchschnitten.

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"Sie sprach von lachenden Kubanern und dem schönen Zerfall alter imperialistischer Villen und Limousinen, die gleichsam die Klasse gewechselt hätten und nun tapfer und edel dem Tod entgegensähen. Ob ich Interesse hätte, Kuba kennenzulernen? Ja, das hätte ich, sagte ich.“ Sie, das ist die Romanfigur Allegra Pellicano, italienische Milliardenerbin mit linksradikalen Ambitionen; ihr Gegenüber ist der titelgebende Protagonist aus Michael Köhlmeiers Schelmenroman "Die Abenteuer des Joel Spazierer“, den es mit falschem Pass, echter Genossin und unter kuriosen Umständen Ende Juli 1978 zu den Weltfestspielen der Jugend und Studenten nach Havanna verschlägt: "Um uns, die wir keiner Partei angehörten, bemühte man sich besonders. Im Flugzeug von Ost-Berlin nach Havanna wurde zweimal warmes Essen serviert, erst Königsberger Klopse in weißer Soße mit Kapern und Salzkartoffeln, später ein scharfer Eintopf mit schwarzen Bohnen und Salzkartoffeln.“ Mit einem Zimmerkollegen verbringt der vorgebliche Kommunist aus Österreich ein paar unbeschwerte Tage: "Wir schwänzten die meisten Veranstaltungen und spazierten durch Havanna und bewunderten die alten amerikanischen Autos. Wir setzten uns nebeneinander auf eine Gehsteigkante und sahen einem alten Mann mit weißen Haaren und weißem Schnauzbart zu, wie er unter einen türkisfarbenen Buick aus den fünfziger Jahren kroch und den Auspuff löste. Ich frage den Mann auf Spanisch, ob wir ihm helfen könnten. Er teilte uns zu Handlangerarbeiten ein und gab uns Limonenwasser zu trinken.“

Dem Kuba-Touristen des Jahres 2013 eröffnen sich ähnliche Aussichten. Es scheint, dass sich an sämtlichen Gehsteigkanten von Havanna alte und junge Männer finden, die sich mit Verve in das Innenleben ihrer Oldtimer versenken. Fragen drängen sich auf. Wie lange kann man einen Fünfziger-Jahre-Buick reparieren, bis er endgültig auseinanderbricht? Was hat ein Fünfziger-Jahre-Buick noch mit einem Fünfziger-Jahre-Buick zu tun, nachdem er 60 Jahre lang instand gesetzt worden ist? In Kuba geht es immer irgendwie ums Reparieren und Restaurieren. Dass die bunten, gebrechlichen, von salziger Meeresluft über Jahrzehnte angewitterten Häuser von Havanna nicht längst zusammengebrochen sind, führt man hier auf die estática milagrosa zurück, die wundersame Statik, die all das weiterstehen und weiterbestehen lässt, was noch nicht vom Tourismusministerium für renovierungswert befunden wurde. Neben der Statik ist die Kreativität der Hausbewohner gefragt. Es geht in Kuba immer auch ums inventar, ums Erfinden, um die Erzeugung von Etwas, das es nicht oder nicht mehr gibt: Ersatzteile für Uraltautos, Baumaterialien für noch ältere Villen, Bausteine für Biographien, die auseinanderzufallen drohen.

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Das ist zum Beispiel Leonardo. Der stämmige Mittfünfziger aus dem Süden der Insel war einmal Schiffbauingenieur und mittlerer Beamter im Marineministerium. Ende der siebziger Jahre studierte er in Rostock. Er spricht noch immer sehr gut Deutsch, er erzählt von den neunziger Jahren, als die staatliche Fischereiflotte des Eilands der Wirtschaftskrise des kubanischen Sozialismus zum Opfer fiel und er sich einen neuen Job suchen musste. Leonardo arbeitet inzwischen als Touristenführer. In professionellem Leiersingsang präsentiert er Busreisegruppen die Attraktionen seiner Heimat. Dabei verdient er mehr als früher. Das liegt daran, dass all jene, die in Kuba professionell mit Touristen zu schaffen haben - Reiseführer, Taxifahrer, Barkeeper, Musiker, Zimmermädchen - mit Touristenpesos in Kontakt geraten, genauer: Pesos Convertibles (CUC), die an den Dollar gebunden und 25 Mal mehr wert sind als die nationalen Pesos, in denen die staatlichen Löhne ausbezahlt werden und für die man die amtlichen Essensrationen erwerben darf: zehn Eier und ein Viertelliter Speiseöl pro Monat, ein Brötchen am Tag. Wenn das Sein tatsächlich das Bewusstsein bestimmt, dürfte sich das Bewusstsein vieler Habaneros auf mehreren Ebenen abspielen: In Kuba gibt es nicht nur zwei Währungen, sondern auch vier unterschiedlich verwobene Marktsysteme (staatssozialistische Wirtschaft, CUC-basierter Handel, landwirtschaftlicher Tauschmarkt, Schwarzmarkt). "Ein paar Jahre brauchst du auf jeden Fall, bis du verstehst, wie Kuba funktioniert. So schnell geht das einfach nicht“, sagt Leonardo. "Aber zwischen Verstehen und Begreifen ist immer noch ein kleiner Unterschied.“ Immerhin lässt sich Havanna auch von Anfängern uneingeschränkt erkunden.

Kubas Hauptstadt ist möglicherweise die fotogenste Metropole der Welt. Leider lässt sich ihr Reiz kaum auf Fotos bannen, weil da immer etwas ist, was auch aufs Bild sollte, aber nicht mehr draufpasst: Häuser, Farben, Menschen, Wäscheleinen, Palmen. Das Bild in der Digitalkamera bleibt unvollständig. Genau das macht den Reiz dieser Stadt jedoch aus. Abgesehen davon kann kein Foto den Sound der Stadt vermitteln, der übrigens nicht nach Buena Vista Social Club klingt, sondern - zum Beispiel - nach der Handwagensirene jenes Eisverkäufers, der seinen Wagen durch Centro Havanna, das Wohnviertel westlich der Altstadt, zieht.

Nach einem brutheißen Nachmittag wandert das Abendsonnenlicht langsam die knallbunten Häuserfassaden entlang. Aus dem Eiswagen dringt fiepsig die Klingeltonversion von "Guten Abend, gute Nacht“. Es folgen "Happy Birthday“ und "Frère Jacques“. Zwei Damen sitzen auf der Schwelle ihrer Gassenwohnung und blicken durch fensterdicke Brillengläser dem Eishändler nach. An der Kreuzung bricht eine lautstarke Diskussion über scheinbar Nichtiges aus. Ein Baseball wird vorbeigedroschen, ein etwa Zehnjährigen rennt dem Wurfgeschoß hinterher. Aus der Cafeteria am Eck plärren Lady Gaga und Rihanna.

Es ist ein bösartiges Gerücht, dass Kuba von der Außenwelt abgeschnitten wäre. Auch hier dringt aktueller US-Musikmüll aus den Radios, man trägt gefakte Tommy-Hilfiger-Hemden oder T-Shirts mit lustigen Sprüchen ("Sun of a Beach“). Es stimmt auch nicht, dass es in Kuba keine amerikanischen Touristen gäbe, im Gegenteil: In Busgruppenstärke streifen US-Bürger durch die Altstadt von Havanna, starren auf Häuser und deren Bewohner, wimmeln Souvenirhändler ab und fragen sich durch bis zum Hemingway-Tempel "Floridita“, wo überzuckerte Cocktails konsumiert werden. Bereits zu einem frühen Zeitpunkt der periodo especial, jener wirtschaftlichen Sonderperiode, die dem Zusammenbruch der Sowjetunion folgte und die Kuba von der lebensnotwendigen Versorgung aus Moskau abschnitt, wurde in der Not zum bewährten, in sozialistischer Lesart wohl problematischen Wunderheilmittel Tourismus gegriffen. Erfolgreich, wie sich zeigen sollte - Ende der neunziger Jahre übertrafen die Einnahmen aus dem Fremdenverkehr bereits jene aus dem traditionellen Zuckerrohrgeschäft. Damals stammten die meisten Reisenden aus Kanada und Europa, inzwischen gibt es auch für den Klassenfeind aus den Vereinigten Staaten genügend Especial-Wege, die offiziellen Reisebeschränkungen zu umgehen, indem man beispielweise den Cuba-Libre-Trip als Kulturaustausch oder Bildungsreise tarnt. Das kostet ein bisschen mehr, läuft aber aufs Selbe hinaus.

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Kurz nach Mitternacht, in der abenteuerlich überfüllten Freiluft-Diskothek Don Cangrejo, am Strand des Villen- und Vergnügungsviertels Miramar im Westen Havannas, bricht der Samstagabend an. Hunderte feiernde Kubanerinnen und Kubaner werden mit internationalen Großraumdisko-Rave-Standards in Bewegung gehalten, auf Leinwänden eine Videoendlosschleife mit den schönsten Toren Lionel Messis. Dann läuft etwas schief. Der ortsbekannte Sänger Raul Paz gibt live ein paar Songs zum Besten - und ausgerechnet zum Gassenhauer "Revolucion“ flimmert statt Messis Dribbelkunst eine Lucky-Strike-Werbung über die Leinwände. Konsternierte Blicke vieler Anwesender, dezente Ortswechseltendenzen. Vielleicht war es aber genau das, was Raúl Castro, seit 2011 Erster Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Kubas und somit Nachfolger seines Bruders Fidel, meint, wenn er sich auf allenthalben affichierten Propagandaplakaten zitieren lässt: "Die Schlacht, auf die es heute ankommt, ist die ökonomische Schlacht.“ Die Sonderperiode muss noch ein wenig sonderlicher werden. Das Grundgefühl lautet: Morgen kann alles anders sein. Die ökonomischen Ungewissheiten werden noch verstärkt von der grassierenden Behördenwillkür, die man als Tourist nicht merkt und als Einheimischer nicht ignorieren kann. In Kuba existiert keine Regel ohne Ausnahme. Als goldene Regel, die wiederum kaum Ausnahmen kennt, gilt die Tatsache, dass Touristen um ihre CUCs zu erleichtern sind.

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Ein Montagabend in einer 24-Stunden-Cafeteria in der Neptuno-Straße, Centro Havana. Neonlicht und offene Arkaden, Palmen im Topf und Bänke aus dem Bahnhofswartesaal. Die Kellnerin steckt die CUCs für das Touristenbier ohne Genierer in die eigene Tasche, im derangierten TV-Apparat über den Rumflaschen spricht der Präsident zur Nationalversammlung. Auf dem 24-Stunden-Markt gegenüber hängt ein handgemaltes Schild, es feiert in bunten Buchstaben "54 anos de revoluciòn“. Am 1. Jänner 1959 floh der kubanische Diktator Fulgencio Batista vor Fidel Castros Revolutionären, und während Raúl Castro noch einmal die alten Geschichten der Heldenzeit aufwärmt, pirscht sich Noel heran, ein untersetzter Mittdreißiger, der sich als Baseballcoach ausgibt und sich auf einen Drink einladen lassen will, von dem die Kellnerin noch nie gehört hat. Nach Minuten händeringenden Smalltalks rückt Noel mit der Wahrheit heraus: Die allerfeinsten Zigarren seien ums Eck zu bekommen, ein Bekannter von ihm biete dort fabrikneue Rauchware. So eine Gelegenheit komme nicht so schnell wieder. Widerspruch zwecklos. Nicht jede Geschäftsanbahnung verläuft in Kuba derart subtil. Mit dem Schema ist man bald vertraut: "Happy Holiday! Where you from? You know Buena Vista Social Club? You are lucky, today is Festival de Salsa.“ Freundliche Begrüßung, interessierte Nachfrage, lockendes Angebot. Schnell wird klar, dass erwähntes Festival nicht existiert, beziehungsweise höchstens in jenem Lokal, in das ein Abstecher unternommen werden soll.

So gesehen führt die Feria del Libro, die Internationale Buchmesse in Havanna, die jedes Jahr im Februar in der Stadt gastiert und anschließend durchs Land tourt, ein Schattendasein. Touristen werden nur selten auf die literarische Veranstaltung hingewiesen, außer, diese blockiert den Busreiseverkehr. Jede Bewegung vor dem Feria-Gelände am alten Castillo del Moro erstickt gerade im heillosen Verkehrsstau. Einheimische strömen herbei, als gäbe es Coca Cola gratis. Havanna ist anders. Der Touristenbusfahrer kurvt durchs Chaos, der einigermaßen des Deutschen mächtige Reiseführer in Front des Fahrzeugs beruhigt: "Unser Fahrer hat Nerven wie breite Nudeln.“

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Mehr als zwanzig Jahre ist es jetzt her, dass der österreichische Autor Erich Hackl Stargast bei der Feria del Libro war, zu Beginn der periodo especial, als Hackls Erzähldebüt "Auroras Anlass“ ins Spanische übersetzt war und auf Kuba erscheinen durfte. In dem 1992 veröffentlichten Text "Im Dickicht der Einsamkeit“ erzählt der Schriftsteller von der bizarr anmutenden Reise: "Ich fuhr mit gemischten Gefühlen nach Kuba. Man wird sich selbst widerwärtig als Augenzeuge eines gesellschaftlichen Zerfalls. Da ist der beginnende Hunger, da sind die leeren Regale in den Apotheken, da sind Schleichhandel und Prostitution.“ Das eigentliche Ziel seiner Kuba-Reise? "Ich kam, um Freunde zu treffen, um Pomar wiederzusehen.“ Der gebürtige Kubaner Pomar, der heute in Deutschland lebt, heißt mit vollem Namen Jorge Pomar Montalvo und übersetzte "Auroras Anlass“ für die kubanische Ausgabe. Zur Zeit von Hackls Besuch saß er im Gefängnis von Ariza in der Nähe der Stadt Cienfuegos. Pomar hatte es gewagt, öffentliche Kritik am Sonderweg des kubanischen Sozialismus zu üben, an der sich anbahnenden Zweiklassengesellschaft von Devisenbringern und Notrationsempfängern.

Hackl weiter in "Im Dickicht der Einsamkeit“: "Eigentlich ist alles ganz normal. Man gibt mir die Hand, man spricht mit mir, man erkundigt sich nach meinem Befinden. Aber nach der Buchpräsentation, bei der ich dem abwesenden Übersetzer danke, geschehen sonderbare Pannen. Mein Vortrag an der Universität fällt einem Irrtum in der Koordination der Veranstalter zum Opfer, von einer Livesendung im Fernsehen werde ich ausgeladen, da ich nicht mehr auf der Gästeliste aufscheine, ein Redakteur der Zeitung, Trabajadores‘, der mir tagelang wegen eines Interviews nachgelaufen war, sagt den Termin kurzfristig ab, von einem Treffen mit Fidel Castro, das mir auf die übliche Art angekündigt wurde (‚Es kann Überraschungen geben‘), werde ich als einziger ausländischer Schriftsteller ausgeschlossen. Sicher ist es nur Zufall, dass ich im Hotel einen zweiten Zimmerschlüssel im Fach finde, den Stummel einer Zigarettenmarke, die ich nie geraucht habe, aus dem Ausguss des Waschbeckens fische.“ Hackls Text endet sozusagen kubanisch, in der Schwebe: "Vieles spricht dafür, dass Pomars Haft vorzeitig endet. Dass Kuba in fünfzehn Monaten nicht mehr wiederzuerkennen sein wird. Ich fürchte, und ich hoffe es.“

Jorge Pomar Montalvo wurde eineinhalb Jahre später entlassen und emigrierte nach Deutschland - weil ihm Österreich kein Visum gewährt hatte. Kuba ist nicht wiederzuerkennen und hat sich doch nicht verändert. Ein weiterer Castro regiert, die Sonderperiode ist zum Normalzustand geworden. Der Sozialismus lebt. Als vielgestaltige Fantasie.

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.