TEACH FOR AUSTRIA: "Fellows" ohne Lehramt wie Jennifer North (mi.), unterrichten Kinder aus Neuen Mittelschulen.

Neue Bildungsinitiativen für benachteiligte Jugendliche

Die Bildungsschere klafft in Österreich immer weiter auseinander. Zunehmend fördern daher Privatinitiativen benachteiligte Jugendliche. Unterricht unter Gleichgesinnten verspricht besonders viel Erfolg - denn er bringt Vorteile für beide Seiten.

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Wie viele österreichische Junglehrer nach einem Jahr Berufserfahrung immer noch über ihre Arbeit sagen: "Es ist etwas, womit ich mich zu 100 Prozent identifiziere“, ist nicht bekannt. Man weiß aber, wie hoch die Quote unter den "Fellows“ von "Teach for Austria“ ist. Sie liegt bei 100 Prozent - "denn hier habe ich mit Werten und Visionen zu tun, die der Bildungsungerechtigkeit, die in diesem Land herrscht, entgegenwirken“ erzählt die 26-jährige Jennifer North. "Und nach meinem Studium wollte ich unbedingt etwas tun, wo ich einen sozialen Impact habe.“ Sie ist eine der derzeit rund 73 Unterrichtenden der gemeinnützigen Bildungsinitiative, die Walter Emberger, ehemaliger Banker und Consulter im Management Zentrum St. Gallen, 2011 in Österreich gründete.

Emberger, der "jungen Leuten bei der Entwicklung ihrer Potenziale helfen“ will, beobachtete schon vor zehn Jahren, dass "die Schere zwischen dem oberen Quartil mit jungen Topleuten und dem unteren, bei dem die Schüler gerade noch die Aufnahmeprüfung in die Fachhochschule oder den Sprung in die HTL beziehungsweise ins Gymnasium geschafft haben, immer größer wird“. Damals war er - neben seiner Tätigkeit als selbstständiger Berater - Studiengangleiter Betriebswirtschaft an der Fachhochschule in Salzburg und unterrichtete an der Privatuniversität Schloss Seeburg.

"Hohes Maß an Chancenungleichheit"

Erschreckenderweise korreliert das Bildungsniveau von Kindern und Jugendlichen mit dem Einkommen der Eltern heute mehr denn je. Laut "Nationalem Bildungsbericht 2009“ stammen 78 Prozent der AHS-Schüler aus Akademikerfamilien und nur 22 Prozent aus bildungsfernen Schichten. Umgekehrt besuchen aber 83 Prozent der bildungsfernen Schichten (und nur zwölf Prozent der Kinder aus Akademikerfamilien) Hauptschulen oder Neue Mittelschulen. Verschärft wird die Situation laut Ifes-Studie dadurch, dass jedes fünfte Kind hierzulande auf Nachhilfe angewiesen ist, für die - laut Bericht der Arbeiterkammer - durchschnittlich 22 Euro pro Stunde berappt werden. Besserung ist nicht in Sicht: Auch der "Nationale Bildungsbericht 2013“ kam zu dem Schluss, dass "das österreichische Schulsystem durch ein hohes Maß an Chancenungleichheit und Kompetenzarmut“ gezeichnet ist. Diese Kluft fördert - übrigens europaweit und nicht nur in Österreich - das Entstehen von immer mehr Privatinitiativen, bei denen interessanterweise, wie auch bei Embergers "Teach for Austria“, oft junge Menschen federführend agieren.

Er selbst sei "schleichend“ in das Bildungsthema hineingerutscht. "Weil ich der Bildung sehr viel zu verdanken habe. Als ich jung war, gab es noch mehr soziale Durchlässigkeit, daher wäre eine Biografie wie die meinige im heutigen System kaum mehr möglich.“ So wuchs der Wunsch in ihm, etwas an den bestehenden Verhältnissen zu verändern. Über einen Artikel im "Economist“ stieß er auf "Teach First“, den britischen Ableger der US-Dachorganisation "Teach for all“. Das Ziel dieser Bildungsinitiative, die mittlerweile weltweit in 35 Ländern erfolgreich Wurzeln schlagen konnte: Chancengerechtigkeit im Bildungswesen.

Dazu werden exzellente Hochschulabsolventen aller Studienrichtungen über ein mehrstufiges Aufnahmeverfahren rekrutiert - 800 bewarben sich im Vorjahr allein in Österreich, 41 wurden dann schließlich genommen (die nächste Bewerbungsrunde startet am 1. Oktober). Anschließend werden sie in einem insgesamt elfwöchigen Schulungsprogramm zu Lehrkräften ausgebildet und schließlich für zwei Jahre in Neuen Mittelschulen oder sogenannten Brennpunktschulen als Lehrer verpflichtet.

Profitabler Austausch

Die weitere Ausbildung der Fellows, deren Durchschnittsalter bei 29 Jahren liegt, erfolgt "on the Job“: Jeden Mittwoch müssen sie nach Unterrichtsschluss zu Didaktik und Methodik-Workshops, jeden sechsten Samstag zum ganztägigen Weiterbildungsseminar. "Neben dem Unterricht kommt es hier zum Austausch mit anderen Fellows, bei dem jeder wahnsinnig viel für sich mitnehmen kann“, erzählt Jennifer North, die an der Brückenschule, einer Neuen Mittelschule in Wien-Liesing Englisch und Sport unterrichtet, begeistert. Außerdem werde man die zwei Jahre hindurch während des Klassenunterrichts von Trainern begleitet. Bei der Entstehungsgeschichte von "Teach for Austria“ verblüfft, wie es Emberger gelungen ist, mit seiner unkonventionellen Idee einen zerfahrenen Bereich zu durchdringen: Hier unterrichten Lehrer ohne Lehramt. "Wir berufen uns auf einen Gesetzesabschnitt, der es im Fall von Lehrermangel auch ungeprüften Lehrern ermöglicht, zu unterrichten.“ Damit sind die Fellows beim Stadtschulrat per Sondervertrag angestellt, "wobei 50 Prozent nach Ablauf der zwei Jahre ihren Vertrag sogar verlängern“, sagt Emberger. Auch Jennifer North, die ihr erstes Jahr als Fellow hinter sich hat, überlegt, ihre Schüler bis zum Pflichtschulabschluss zu begleiten. "Es würde sich anbieten, weil ich eine erste Klasse habe und man unglaubliche Kraft schöpft, wenn man sieht, wie toll diese Kinder lernen und wie viel in ihnen steckt.“

Die Erfolgsquote der Fellow-Klassen liege hoch, so Emberger, das verschaffe ihnen Respekt seitens der etablierten Lehrerschaft und Kooperationsbereitschaft seitens der Eltern. Dies bestätigt auch North: "Manchmal habe ich das Gefühl, dass uns die Eltern richtig dankbar sind.“ Der "Teach for Austria“-Gründer erklärt dies unter anderem damit, dass seine Lehrer "die Kinder wenig streicheln und hohe Erwartungen haben, weil sie nicht nur altruistisch agieren, sondern auch für sich selbst das Maximum aus dieser Zeit herausholen wollen“. Hohe Erwartungen bedeuten hohe Zuversicht - "und die Schüler haben oft wenige Menschen um sich, die an sie glauben. Das stichelt sie an.“ Ein weiterer Vorteil dieser Situation sei der geringe Altersunterschied zwischen den Fellows und den Schülern.

"Lernhilfe von Schülern für Schüler"

Dass Peer Teaching, so der Fachbegriff für Wissensvermittlung durch Ebenbürtige oder (Fast-)Gleichaltrige, gerade unter problembeladenen Jugendgruppen meist zu überdurchschnittlich positiven Ergebnissen führt, ist wissenschaftlich erwiesen: Studien belegen, dass Kinder mit Leistungsschwächen beim Lernen mit Gleichgesinnten um bis zu 50 Prozent weniger Stresshormone ausschütten, was ihre Lernerfolge deutlich steigert. Auf diesem Potenzial baut auch das Konzept von "talentify.me“ auf, einer Onlineplattform, die "Lernhilfe von Schülern für Schüler“ österreichweit unterstützt, gezielt Talente entwickelt und beim Recruiting von jungen Mitarbeitern Vorschläge für Unternehmen entwickelt.

Gegründet wurde "das Sozialunternehmen, das auch ein Start-up ist“ vor einem Jahr vom IT-Experten Bernhard Hofer und seiner Frau Doris, nachdem dieser in "eine Art Krise gerutscht war und Sehnsucht nach einer sozial sinnvollen Aufgabe hatte“. Durch Zufall stieß er auf ein altes Ideenpapier, das er einst als Schüler im Zuge einer Projektarbeit ausgearbeitet hatte. Damals hatte er eine Lernhilfegruppe gegründet, bei der sich ältere Schüler um jüngere kümmerten. Für diejenigen, die keinen Anerkennungsbeitrag zahlen konnten, war die Nachhilfe gratis - "denn Bildung ist der Schlüssel zu allem, deshalb sollte niemand davon ausgeschlossen sein“, fühlte Hofer bereits als Gymnasiast. Bei seiner eigenen Schulgeschichte - er maturierte an einer HTL in Tirol - beobachtete er bereits: "Im ersten Schuljahr waren wir noch bunt zusammengewürfelt, im zweiten wechselte ein Teil in die Hauptschule, vorwiegend Kinder aus bildungsfernen Schichten. Und in der dritten Klasse war keiner mehr aus einer einkommensschwachen Familien unter uns.“

Fast eineinhalb Jahrzehnte später machte Hofer aus dem einstigen Schulprojekt ein Social Business: Auch bei "talentify.me“ gibt es Gratis-Nachhilfestunden, ansonsten werden jedoch maximal zehn Euro pro Stunde verrechnet. "Der Vorteil beim Peer-to-Peer-Lernen ist vor allem, dass beide Seiten profitieren - der schwache Schüler, der eine Perspektive bekommt und gestärkt wird, und der Nachhilfelehrer, der durch die Beschäftigung mit dem Jugendlichen sein eigenes Wissen vertieft und außerdem seine Sozialkompetenzen erweitert.“ Mittlerweile wurde der Unterricht dahingehend erweitert, dass man Schülern auch bei Themen hilft, die unter den Begriff "Lebensvorbereitung“ fallen: "Wir üben mit ihnen Zeitmanagement, Lebensläufe schreiben, geben ihnen Kommunikationserfahrung, vermitteln Dinge, die für sie später wichtig sein könnten“, so Hofer. "Wir sehen uns als Reisebüro für den ersten Job und helfen schon in der Schule, die Reise zu planen.“