Nobelpreisträger Alvin Elliot Roth: "Ich bin kein Moralist"
profil: Professor Roth, Sie behaupten in Ihrem neuen Buch, ein Markt brauche "gut gestaltete Regeln", die ihn "für alle öffnen". Ist das nicht unrealistisch? Alvin Elliot Roth: In den USA wird die politische Debatte manchmal von der Frage dominiert, ob Märkte Regeln haben sollten oder nicht. Das ist ein Denken, dem ich nicht folgen kann. Denn alle Märkte haben ihre Regeln. Die Frage ist nur, ob sie unter den geltenden Regeln gut funktionieren.
profil: Kann man einen Markt umgestalten, ohne das ganze System zu verändern? Roth: Manchmal muss man das ganze System neu gestalten. Leider sind die Märkte, die am schlechtesten funktionieren, nicht unbedingt diejenigen, die am leichtesten zu verbessern sind.
profil: Geben Sie uns ein Beispiel? Roth: Das komplizierte US-Gesundheitssystem zu reparieren, ist schwer, weil es aus vielen verschiedenen Systemen zusammengeschustert wurde.
profil: Sie haben einen Markt für Spendernieren aufgebaut. Wie funktioniert so etwas? Roth: Weltweit herrscht ein Mangel an Spendernieren. Alleine in den USA warten 100.000 Nierenkranke auf das Organ eines toten Spenders. Zugleich gibt es lebende Spender, die Nieren spenden wollen und auch mit einer Niere gut leben können. Leider tritt aber oft der Fall ein, dass der Empfänger und die Spenderniere nicht kompatibel sind. Deshalb habe ich mit Kollegen ein Computerprogramm entwickelt, das den Tausch zwischen zwei Personen nach Eingabe der Kriterien automatisch auf mehrere ausweitet, damit mehr Nierenkranke und Spender zusammengeführt werden können. Kommt es so weit, dass der erste Spender mit dem zweiten Patienten kompatibel ist und der zweite Spender mit dem ersten Patienten, dann werden beide Paare gleichzeitig operiert, damit keiner kurzfristig abspringen kann. So verläuft ein einfacher Nierentausch; es gibt aber auch Tauschsysteme, an denen viel mehr Paare beteiligt sind.
Man sollte also so viel wie möglich über die Abläufe und bisherigen Praxen eines Marktes erfahren, den man umgestalten möchte.
profil: Sie schreiben, die Anwendung der Ökonomie solle dabei helfen, knappe Mittel durch clevere Verteilung weniger knapp zu machen. Ist der Nierenhandel ein gutes Beispiel für Ihre Theorie? Roth: Ja, das ist er. Man kann zum Beispiel einen Menschen retten, indem dieser seine Niere spendet, um im Notfall selbst auf schnellstem Weg eine neue zu bekommen. Der Nierentausch fing klein an, wächst aber sehr schnell. Ungefähr zehn Prozent der Organe lebender Spender werden in den USA inzwischen zum Tausch angeboten. Auch in Holland und Großbritannien gibt es erfolgreiche Nieren-Börsen. In den Nordischen Ländern wird heftig über diese Vorgehensweise diskutiert, doch sie könnte in Zukunft vielen Menschen das Leben retten.
profil: Im Zuge der Erarbeitung Ihres Modells haben Sie sich sogar Nierenoperationen angeschaut. Warum? Roth: Weil Chirurgen und Ökonomen keine gemeinsame Sprache sprechen. Es ist schwer für uns, einander die gegenseitigen Bedürfnisse mitzuteilen. Weil meine Mitarbeiter und ich aber viel Zeit mit Chirurgen verbrachten, erfuhren wir Einzelheiten, die man uns in dieser Klarheit nicht gesagt hätte, weil Ärzte sie nicht für wichtig hielten. Man sollte also so viel wie möglich über die Abläufe und bisherigen Praxen eines Marktes erfahren, den man umgestalten möchte.
profil: Der Ökonom als Ingenieur - gemäß Ihrer Forderung? Roth: So ist es. Wenn ein Ingenieur eine Brücke baut, muss er sich die Gegend anschauen, um die Topografie und Bodenbeschaffenheit zu berücksichtigen. Ökonomen sollten ähnlich denken.
profil: Alle Ökonomen sollten wie Ingenieure denken? Roth: Nein, nicht alle. Sie sollen das tun, was sie wollen. Aber Marktdesign ist ein neuer Zweig in den Wirtschaftswissenschaften: Wir wollen das Ingenieurswesen in die Wirtschaftswissenschaften integrieren.
Vielmehr meinte ich, dass die Wirtschaftswissenschaft so faszinierend ist wie ein Roman, der dem Leser Einblicke in das Leben anderer Personen gewährt.
profil: Es gibt viele Beispiele, in denen Marktdesign nicht geklappt hat. Sie erwähnen in Ihrem Buch, dass der Coca-Cola-Konzern Kunden verprellte, als er Verkaufsautomaten ausprobierte, die die Preise der Getränke bei steigenden Temperaturen automatisch erhöhten. Ab wann weiß man, ob ein Marktdesign funktioniert oder nicht? Roth: Lassen Sie mich mit einem Bild antworten: Viele Brücken brechen zusammen. Doch indem man die Designfehler studiert, erlernt man den Bau von Brücken, die funktionieren. So ist es auch beim Design von Märkten.
profil: Welche Fehler haben Sie gemacht? Roth: Viele der Projekte, die wir uns anschauen, werden nicht realisiert - in dieser Hinsicht haben wir also versagt. Wir haben zum Beispiel mit US-Richtern über die Verbesserung des Marktes für Rechtsreferendare diskutiert - ohne Erfolg. Ich habe aber viel gelernt, als ich mir diesen Markt angeschaut habe.
profil: Sie schreiben auch, dass die Anwendung der Ökonomie für Sie "die Faszination von Klatsch und Tratsch" habe, weil Sie "intime Bereiche und Entscheidungen aus dem Leben" kennen lernen. Aber sind Klatsch und Tratsch nicht gefährlich, weil sie gemein und irreführend sein könnten? Roth: An diese Art von Klatsch und Tratsch habe ich nicht gedacht. Vielmehr meinte ich, dass die Wirtschaftswissenschaft so faszinierend ist wie ein Roman, der dem Leser Einblicke in das Leben anderer Personen gewährt.
profil: Beim Marktdesign wenden Sie die Spieltheorie an, also die Theorie zur mathematischen Analyse von Problemen. Wie funktioniert das? Roth: Die Spieltheorie ist eine mathematische Sprache, die uns hilft, sich mit den konkreten Problemen eines Marktes auseinanderzusetzen. Die wichtigsten Fragen lauten da: Wie groß sollte ein Markt sein und wie schnell muss er wachsen? Welche Kunden zieht er an? Wie verhalten sich diese auf dem Markt? Beim Design eines Marktes für Arbeitgeber und Arbeitnehmer suche ich nach einem sogenannten "stabilen Ereignis", bei dem keiner der Akteure ein anderes Ergebnis lieber hätte. Ich teile mir den Wirtschaftsnobelpreis mit dem Mathematiker Lloyd Shapley, der die theoretische Grundlage geschaffen hat, auf der ich mein Design neuer Märkte aufbauen konnte. Es sind unterschiedliche Methoden, aber sie ergänzen einander.
Um die Flüchtlinge in die Gesellschaft zu integrieren, muss man herausfinden, in welchen Gemeinschaften sie sich am besten entwickeln.
profil: In Ihrer Arbeit stützen Sie sich auch auf die experimentelle Ökonomie? Roth: Experimente sind sehr nutzbringend. Wenn Boeing oder Airbus ein neues Flugzeug bauen, entwerfen sie erst ein Modell, um herauszufinden, ob die Flügel und der Flugzeugrumpf funktionieren.
profil: Würde Sie die Aufgabe reizen, den Flüchtlingen zu helfen, die aus Krisengebieten wie Syrien nach Österreich und Deutschland drängen - oder betrachten Sie das als politisches Problem? Roth: Es ist beides. Es geht aber nicht darum, wie viele Flüchtlinge jedes Land aufnehmen sollte. Die Flüchtlinge werden nicht bleiben, wo sie hingeschickt werden, sondern dorthin ziehen, wo schon andere Menschen aus ihrer Nation leben. Das haben wir in den USA erlebt. Somalische Flüchtlinge zieht es in den US-Bundesstaat Maine, weil dort viele ihrer Landsleute Fuß fassen konnten. Vietnamesen wollen in den Golf von Mexiko, um mit Verwandten und Freunden aus der alten Heimat fischen zu gehen.
profil: Was sollte Europa tun? Roth: Wahrscheinlich ist es ein Matching-Problem. Um die Flüchtlinge in die Gesellschaft zu integrieren, muss man herausfinden, in welchen Gemeinschaften sie sich am besten entwickeln.
profil: Bitte erläutern Sie das. Roth: Ich will das Problem der Wiederansiedlung der Flüchtlinge nicht auf die leichte Schulter nehmen, aber es erinnert mich an das Problem der Schulauswahl, das ich auch in meinem Buch beschrieben habe. Es ging darum, dass Schulen in New York und Boston weniger Plätze als Bewerber hatten. Wir haben ein Computerprogramm entwickelt, das die Chancen der Schüler, an einer der bestmöglichen Schulen aufgenommen zu werden, wesentlich erhöht. Den Flüchtlingen ergeht es ähnlich wie den Schülern, denn sie können nicht alle nach Deutschland oder Österreich kommen. Man sollte herausfinden, wo sie Familie haben, in welchen Gegenden sie sich wohlfühlen und wo ihre Fähigkeiten gebraucht werden. Dann könnte man einen Algorithmus entwickeln, der die Zuteilung der Flüchtlinge nach ihren Vorlieben und den Präferenzen der Länder möglich macht. So haben wir auch das Problem der Schulauswahl gelöst.
In Kalifornien kann man von der In-vitro-Fertilisation, also der Befruchtung im Reagenzglas, bis zur fremden Gebärmutter alles kaufen, was man braucht, um ein Designer-Baby zu bekommen.
profil: Bleiben wir bei Ihrem Buch. Darin schreiben Sie unter anderem über den Taxi-Konkurrenten Uber. Hat das Unternehmen mit seinen Preiserhöhungen bei schlechtem Wetter nicht eine ähnliche Strategie wie Coca-Cola mit seinen Verkaufsautomaten entwickelt? Roth: Solche Transaktionen bezeichne ich als "repugnant" - im wissenschaftlichen Sinn des Wortes bezeichnet man damit Dinge oder Aktionen, die in ihrer Logik widersprüchlich beziehungsweise unvereinbar sind. Sie werden von einigen Menschen gewollt, von anderen abgelehnt; von dritten gewollt und abgelehnt zugleich. Die aggressive Preisgestaltung von Uber ist ein typisches Beispiel einer in sich inkompatiblen Transaktion. Auf der einen Seite stört es uns, dass wir im Regen mehr Geld ausgeben müssen, um ein Taxi zu bekommen. Kein billiges Taxi bei schlechtem Wetter zu bekommen, ist aber ebenso ärgerlich. Wir werden also sehen, wie sich das Geschäftsmodell von Uber weiterentwickelt.
profil: Offenbar können sich solche Transaktionen aber in lukrative Geschäftsideen umwandeln? Roth: Wichtig ist nicht nur, wie Uber mit seinen Kunden, sondern auch mit seinen Fahrern umgeht. Sicher ist, dass die Taxibranche in den USA nicht mit der Entwicklung des Marktes Schritt gehalten hat. Ich kann Uber überall mit einer App erreichen, die ich auf mein Handy geladen habe. Die Telefonnummern der Taxiunternehmen in einer anderen Stadt kenne ich noch nicht einmal.
profil: Sie haben viele andere in sich widersprüchliche Märkte wie etwa Prostitution untersucht. Roth: Ich bin Ökonom und kein Moralist. Ich sage den Menschen nicht, was sie zu tun oder zu lassen haben. Mich interessiert aber die Tatsache, dass wirtschaftliche Transaktionen in diesen sensiblen Bereichen weltweit sehr unterschiedlich reguliert werden. Die Ausübung der Prostitution ist in vielen Teilen der USA illegal, während sie in Deutschland erlaubt ist. In Schweden wird nicht der Verkauf einer sexuellen Handlung, sondern ihr Kauf bestraft.
profil: Sind Regeln das Spiegelbild der Gesellschaft, in der sie erschaffen werden? Roth: Genau. Nehmen wir die Leihmutterschaft, über die ich in meinem Buch geschrieben habe. In Kalifornien kann man von der In-vitro-Fertilisation, also der Befruchtung im Reagenzglas, bis zur fremden Gebärmutter alles kaufen, was man braucht, um ein Designer-Baby zu bekommen. In New York und in vielen Ländern ist die Bezahlung einer Leihmutter verboten. Kein Wunder, dass der Fruchtbarkeitstourismus immer mehr Menschen nach Kalifornien lockt.
profil: Kommt es da nicht zu Betrügereien? Roth: Ja, solche Märkte müssen gut reguliert werden, denn der Wunsch nach einem Baby ist, wenn man ihn hat, im Regelfall sehr groß. Wenn wir die Leihmutterschaft aber rechtswidrig machen, dann scheuen Menschen keine Mühe, um ein Baby aus Indien, Thailand oder Nepal zu bekommen.
Märkte sind wie Sprache - uralte menschliche Artefakte, die sich langsam entwickeln.
profil: Sie interessieren sich nicht nur für moderne Märkte, sondern auch für uralte. Zum Beispiel zitieren Sie gern einen Rabbi, der sagt, dass sich der Schöpfer der Welt seit ihrer Erschaffung um das erfolgreiche Matching von Ehepartnern kümmert. Leider sei das so schwer wie die Teilung des Roten Meeres. Warum? Roth: Das ist eine lange Geschichte aus dem Talmud. Ein Rabbi sagt einer römischen Matrone, dass der Schöpfer erfolgreich Partnerschaften vermittle. Sie glaubt, das sei leicht, holt 1000 männliche und 1000 weibliche Sklaven zusammen, lässt diese paarweise nebeneinander stehen und sagt ihnen, sie seien jetzt verheiratet. Als sie am nächsten Tag wiederkommen, hat einer einen gebrochenen Ellenbogen, einem anderen fehlt das Auge - und der Rabbi spricht mit der Matrone darüber, wie schwer die Paarvermittlung ist.
profil: Was sagt diese Geschichte über Ihre Arbeit aus? Roth: In der englischen Sprache gibt es eine Redensart: Etwas gut zu machen, ist Gottesarbeit. So sehe ich meine Arbeit. Sie ist sehr schwer, aber die Mühe wert.
profil: Weil Märkte so wichtig für die Menschen sind? Roth: Märkte sind wie Sprache - uralte menschliche Artefakte, die sich langsam entwickeln. Sie werden nach und nach gestaltet und entwickeln sich weiter, wenn es zu Veränderungen kommt. Denken Sie an Osteuropa nach dem Mauerfall. Auf einmal musste ein funktionierendes Bankensystem entwickelt werden. Was für ein heikler Akt - denn vergisst man ein paar wichtige Regeln, kommen Kriminelle schnell in Versuchung, das System zu knacken. In Polen kam es nach dem Mauerfall zu Scheckbetrug, weil es kein Verrechnungssystem gab. Man konnte Konten in zwei Banken mit einer kleinen Geldsumme eröffnen, dann einen Scheck in der Höhe von einer Million Dollar von der ersten Bank bei der zweiten einreichen - und war auf einmal Millionär.
profil: Ihre Bandbreite reicht also vom Scheckbetrug in Polen über den Hochfrequenzhandel bis hin zu Karate. Gibt es eigentlich etwas, das Sie nicht interessiert? Roth: Von den meisten Dingen habe ich keine Ahnung. Aber ja, es gibt so viele interessante Dinge auf der Welt.
profil: Hat jedenfalls das, was Sie interessiert, immer mit Märkten zu tun? Roth: Fast alles kann mit Märkten in Verbindung gebracht werden - sogar Karate und Judo. Das sind Sportarten, die ich als junger Mann und später meine beiden Söhne ausgeübt haben. Während Karate in den USA zumeist von privater Hand unterrichtet wird, muss man Mitglied in einem Verein werden, um Judo zu erlernen. Es sind zwei sehr unterschiedliche wettbewerbsfähige Formen des Kampfsportartunterrichts. Ich kann gar nicht anders, als überall Märkte zu erkennen.
INFOBOX
Alvin Elliot Roth, 63, erhielt 2013 den Wirtschaftsnobelpreis für seine Marktdesign-Theorie. Daraus entstand ein neuer Zweig der Wirtschaftswissenschaften. In seinem eben veröffentlichten Buch "Who Gets What - And Why: The New Economics of Matchmaking and Market Design (auf Deutsch: "Wer was bekommt und warum: Die neuen Wirtschaftswissenschaften der Partnervermittlung und des Markt-Designs") beschreibt der US-Amerikaner den praktischen Nutzen seiner Tätigkeit - von der Verteilung von Schul-und Praktikantenplätzen bis hin zur Nierenspende. Roth unterrichtet an der Stanford- Universität in Kalifornien.