Die Entdeckung der Einsamkeit

Norwegen: Die Entdeckung der Einsamkeit

Norwegen. Fjorde, Berge, Nordlicht und Mitternachtssonne

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Text und Fotos: Rosemarie Schwaiger

„Tromsø. Hier ist es kühl und der südliche Sommer nur eine Erinnerung. Manchmal fällt Nebel ein. Wieder bereitet man einen Abschied vor, den ernstesten von allen, ergänzt Ausrüstung und Proviant, kauft Eisenbleche, Stahl und Stockfisch in ­einer Stadt ganz aus Holz.“

Christoph Ransmayrs Roman „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ ist auch zu Hause auf der Couch eine fesselnde Lektüre. Aber noch besser wirkt die Geschichte am Ort des Geschehens, im Norden Norwegens. An einem kühlen Septembernachmittag in Tromsø lässt sich ermessen, mit welch gemischten Gefühlen die Teilnehmer der österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition im Sommer des Jahres 1872 ihre Reise ins Ungewisse antraten. Die Kommandanten Carl Weyprecht und Julius Payer konnten damals nicht vorhersehen, welche Qualen und Entbehrungen auf sie und ihre Mannschaft warteten. Sie wussten nicht, dass sie zwei Jahre im Packeis des Polarmeeres gefangen sein würden – in ständiger Angst, die Eismassen könnten ihr Schiff zerquetschen, gepeinigt von Skorbut, Lungenschwindsucht und zermürbender Kälte von manchmal unter minus 40 Grad Celsius. Christoph Ransmayr lässt seine Helden in Tromsø noch einmal die Freuden der Zivilisation genießen. Sie sitzen im Dampfbad, genießen ein Abendessen beim Konsul, machen Ausflüge in die Umgebung. Doch zwischen den Zeilen der Tagebucheintragungen, die Ransmayr zitiert, schwingt die Ahnung mit, dass dies die letzten Annehmlichkeiten für sehr lange Zeit sein könnten. „Dann kaufte ich mir noch für das ganze Geld, was ich besaß, ½ Eimer Wein und 40 Flaschen Bier“, schrieb der Maschinist Otto Krisch, „denn morgen sollen wir Tromsø verlassen, und im Eismeere brauchen wir kein Geld, sondern hie und da einen guten Schluck Wein.“

Die Beklemmung des Maschinisten ist nachvollziehbar, wenn man im Hafen steht und der eisige Wind aus dem Balsfjord bis ins Mark dringt. An diesem Nachmittag hat es acht Grad, die Wolken hängen tief, immer wieder regnet es. Bei solchem Wetter muss niemand um sein Leben fürchten, aber der Kontrast zum Spätsommer in Mitteleuropa ist scharf genug.

„Eine Landschaft voll von stillem Ernst“
Der hohe Norden zog einige österreichische Literaten und Intellektuelle in seinen Bann. Sie schrieben über die beeindruckende Landschaft mit ihren Fjorden, Bergen und der menschenleeren Wildnis, über das Nordlicht, die Mitternachtssonne und die Düsternis der Polarnacht. Einen regelrechten Kult um seine Ruhe und Abgeschiedenheit betrieb etwa der Philosoph Ludwig Wittgenstein. 1913 hatte er sich am Sogne­fjord eine Einsiedelei gebaut, in der er sich immer wieder für Monate zurückzog. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich an einem anderen Ort so hätte arbeiten können wie hier“, schrieb er 1936 an einen Freund. „Das kam von der Ruhe hier und vielleicht auch von der erstaunlichen Landschaft. Eine Landschaft voll von stillem Ernst.“

Beginnen wir die Reise in Tromsø, einer „Stadt der Superlative“, wie der Reiseführer verspricht. Doch eigentlich ist es stets derselbe Superlativ: In Tromsø gibt es die nördlichste Universität der Welt, die nördlichste Brauerei, das nördlichste Planetarium, die nördlichste Kathedrale. Praktisch jedes größere Gebäude kann sich hier mit dem Attribut „nördlichst“ schmücken. Auf dem 69. Breitengrad, 344 Kilometer nördlich des Polarkreises, gibt es diesbezüglich kaum noch Konkurrenz. Tromsø hat eine lebhafte Einkaufsstraße (die „Storgata“) mit alten, farbenfrohen Holzhäusern, viele Restaurants und Pubs, ein paar neue, schicke Hotels und die in den sechziger Jahren gebaute Eismeerkathedrale. Der Blick von der großen Brücke über den Fjord ist beeindruckend: Auf der einen Seite liegt der Hafen mit den großen Frachtschiffen, auf der anderen Seite eine Bergkette mit bis zu 1200 Meter hohen, nackten Gipfeln.

Doch Tromsø bezieht seine Attraktivität nicht so sehr aus den Sehenswürdigkeiten, mit denen der Prospekt wirbt. Der Reiz dieser Stadt besteht in den Geschichten, die hier ihren Anfang nahmen. Unzählige Expeditionen stachen von Tromsø aus in See – auf der Suche nach der Nordostpassage, nach dem Nordpol, nach dem Ende der Welt. Viele dieser Helden bezahlten ihre Neugier mit dem Leben und sind heute vergessen. Von Roald Amundsen, dem größten Forschungsreisenden der norwegischen Geschichte, steht in Tromsø ein Denkmal. Sein Andenken hat die Zeiten überdauert.

Heute erfordert eine Reise nach Norwegen nicht mehr viel Abenteuerlust. Die Infrastruktur funktioniert so perfekt, dass es dem Besucher gelegentlich unheimlich werden kann. Bahnhöfe, Flughäfen und Schiffsanlegestellen sind meist nagelneu und derartig sauber, dass man sich mit schmutzigen Schuhen kaum hineintraut. Hinweistafeln wurden ausnahmslos so angebracht, dass sie einem wie ferngesteuert ins Auge springen. Busse und Züge verkehren auf die Minute pünktlich; Fahrpläne und die Bedienungsanleitung der ­Ticketautomaten versteht auch der Dümmste. Wer sich trotzdem nicht auskennt, kann jederzeit auf Unterstützung bauen: Die Norweger sind ausnehmend freundlich zu ihren Gästen, und Englisch spricht hier sowieso jeder.

Sichtbare Armut gibt es kaum. Das soziale Netz ist dicht und im Gegensatz zu anderen Ländern auch für die Zukunft gesichert. Enorme Erdöl- und Erdgasvorkommen in der Nordsee haben Norwegen reich gemacht. Die Politik muss sich nicht über die Höhe der Staatsschulden den Kopf zerbrechen, sondern kann jedes Jahr Budgetüberschüsse in Milliardenhöhe verplanen. Der hohe Lebensstandard hat für Besucher nur einen Nachteil: Norwegen ist ein extrem teures Reiseland.

Die angeblich „schönste Seereise der Welt“
Geboten werden dafür spektakuläre Natur und sehr viel Zeit, um die Gegend in aller Ruhe zu studieren. Das gilt besonders für eine Reise mit „Hurtigruten“, der einstigen Postschiff-Linie, die mittlerweile hauptsächlich Touristen die westliche Fjordküste hinauf- und hinuntertransportiert. Zwölf Tage dauert die Fahrt in der Langfassung von Bergen nach Kirkenes und wieder zurück, das sind 4630 Kilometer bei einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 15 Knoten (nicht ganz 30 Kilometer pro Stunde). Die angeblich „schönste Seereise der Welt“ lässt sich aber auch auf kürzeren Etappen genießen – für ungeduldige Gemüter wahrscheinlich die bessere Wahl.

Ein gewisses Erholungsbedürfnis schadet in keinem Fall, denn an Bord geht es sehr bedächtig zu. Hurtigruten hat den Komfort in den vergangenen Jahrzehnten zwar erhöht, die Zerstreuungen einer normalen Kreuzfahrt werden dem großteils älteren Publikum aber nicht geboten. Für einen Vermerk auf dem Tagesprogramm reicht es schon, wenn die Begegnung mit einem in die Gegenrichtung fahrenden Schiff der Linie bevorsteht.
An den Ufern gleitet eine kitschig-hübsche Spielzeugeisenbahnwelt vorbei. Grüne Hügel und schroffe Berge, kleine Inseln mit winzigen Leuchttürmen, Wasserfälle, Bäche und immer wieder ein paar rote oder weiße Holzhäuschen mitten in der Einsamkeit. Norwegen gehört zu den am dünnsten besiedelten Ländern Europas. Klaustrophobisch muss man hier nicht werden.

Und manchmal bietet ein Landgang durchaus Überraschungen. Svolvær etwa, die Hauptstadt der Lofoten, wirkt aus der Ferne wie das armselige Dörfchen, das man in dieser Gegend erwarten dürfte. An der Hafeneinfahrt stehen mehrere Reihen der für die Küste typischen Holzgerüste, auf denen der Kabeljau zum Trocknen aufgehängt wird. Doch dahinter öffnet sich eine Hafenfront wie aus dem Architekturkatalog. Neue Hotels, Geschäfte und Verwaltungsgebäude aus Holz und Glas zeigen, dass der norwegische Wohlstand bis in den entlegensten Winkel des Landes reicht.
Der Roman „Nordlicht“ der gebürtigen Steirerin Melitta Breznik spielt genau hier, auf den Lofoten. Die Hauptperson Anna, Ärztin in Zürich, kommt kurz vor Beginn der Polarnacht an die norwegische Küste, um in der Einsamkeit aus einer Depression zu finden. Wenn sie zwischendurch Menschen sehen will, fährt Anna auf den Marktplatz nach Svolvær. „Die Szene ist in ein ­Zwielicht getaucht, die Dämmerung vermischt sich mit dem Schneetreiben und dem blassen Licht der Straßenlaternen und Weihnachtsbeleuchtung zu einem Schleier, der alles künstlich erscheinen lässt, wie arrangiert für einen Märchenfilm auf einer Großleinwand, den ich sehe und vor dessen Ende ich mich fürchte.“ Anna übersteht die Dunkelheit der Polarnacht, die in dieser Gegend fast einen Monat dauert, und arbeitet einen Teil ihrer Familiengeschichte auf. Ihr Vater war im Krieg auf den Lofoten stationiert gewesen und hatte über seine ­Erlebnisse Tagebuch geführt. „Vater ist mir im Moment sehr gegenwärtig. (…) Wenn ich auf der Bank vor dem Haus wie eine Katze in der Sonne döse und auf nichts anderes lausche als auf das ununterbrochene An- und Abschwellen der schwachen Meeresbrandung, dann würde es mich nicht wundern, wenn er (…) um die Ecke biegen und sich geräuschlos und vorsichtig neben mich setzen würde.“

Die schönste Station am Schluss
Auf der Höhe von Trondheim wird die Vegetation üppiger und die Luft etwas milder. Die mit 170.000 Einwohnern drittgrößte Stadt Norwegens ist mit ihren farbenfrohen Speicherhäusern nach all dem Grün und Grau der Fjordlandschaft eine Wohltat fürs Auge. Nicht nur der gotische Nidarosdom macht Trondheim zu einem lohnenden Ausflugsziel. Die Stadt versprüht das entspannte Flair eines alten Handelszen­trums, und nach den stillen Tagen an Bord ist ein wenig urbane Betriebsamkeit dringend nötig.

Doch die schönste Station der Reise kommt am Schluss: Bergen, früher einmal die größte Stadt Norwegens und einst auch Sitz des Königshauses. Oslo ist zwar längst viel größer und wichtiger, dafür gilt Bergen nach wie vor als schönste Stadt des Landes. Die patriotischen Norweger behaupten sogar, es handle sich überhaupt um die schönste Stadt der Welt. Das mag eine Übertreibung sein, doch das Hafenviertel Brygge im Zentrum wirkt tatsächlich wie eine große, bunte Postkarte. Will man einen Makel suchen, besteht er höchstens darin, dass die meisten Gebäude hier nicht alt sind, sondern nach einem Großbrand im Jahr 1955 lediglich im alten Stil wieder aufgebaut wurden. Aber das stört nicht beim Bummel durch die engen Gassen und an der prächtigen Hafenfront entlang, wo sich Geschäfte, Restaurants und Marktstände aneinanderdrängen. Bergen ist eine fröhliche, lebendige Stadt, die man ungern wieder verlässt.

Auch Ruth Maier liebte die Küste und schrieb begeisterte Briefe über ihre Reisen durch das Land. Doch ihre Geschichte endete tragisch. Die Wiener Jüdin war 1939, als 18-Jährige, vor den Nazis nach Norwegen geflüchtet. 1942 wurde sie nach Auschwitz deportiert und ermordet. Der norwegische Schriftsteller Jan Erik Vold brachte die Tagebücher der jungen Frau 2007 unter dem Titel „Das Leben könnte gut sein“ heraus.

Ruth Maier lebte vorwiegend in Lillestrøm, einem Vorort von Oslo, durch den heute der Flughafenexpress in die Hauptstadt fährt. Sie mochte Norwegen und seine Menschen, doch sie litt auch am Kleinstadtmief von Lillestrøm, wo sie sich einsam fühlte und nie wirklich heimisch wurde. Wann immer es ging, fuhr sie in die Hauptstadt. „Oslo ist eine hübsche Stadt, keine Großstadt und so wie hingekleckst. Überall sehr viel Himmel und auch Bäume. (…) Vor der Universität gehen die Studenten auf und ab und liegen in der Sonne (Idyllisch!)“, schreibt Ruth am 17. Februar 1939 in einem Brief an ihre Schwester. Diese Beschreibung stimmt heute noch.
Obwohl nicht wenige Norweger mit den deutschen Besatzern sympathisierten, versuchte die Mehrheit doch, irgendwie Widerstand zu leisten – und sei es bloß durch kleine Gesten. Ruth bewunderte diese Haltung, die sie in Wien so schmerzlich vermisst hatte: „Trotz des Drucks der Propaganda halten sich die Norweger gut. Man trifft oft auf Menschen, die lieber ihre Stellung ris­kieren wollen, als sich zu prostituieren. Es ist etwas Aufrechtes in ihrem Wesen. Noch nie habe ich so gute Hände gedrückt wie hier.“

Reise. Viele österreichische Autoren haben weit über die Landesgrenzen hinaus ihre biografischen und literarischen Spuren hinterlassen: Die Klagenfurter Dichterin Ingeborg Bachmann lebte und starb in Rom; der k. u. k. Literat Franz Werfel thematisierte in seinem 1933 veröffentlichten Historienepos "Die vierzig Tage des Musa Dagh“ den Völkermord an den Armeniern durch die türkischen Belagerer; die Indien-Visiten von Büchner-Preisträger Josef Winkler finden sich als vielfältiges literarisches Echo in dessen Werk. Nach der 2008 unternommenen Erkundung zentraler literarischer Schauplätze der Donaumonarchie und den zwischen 2010 und 2012 publizierten poetischen Spurensuchen - etwa in Tel Aviv, Kopenhagen, Kairo, Los Angeles, Costa Rica, China, Griechenland, Abu Dhabi, Rio de Janeiro und Istanbul - begibt sich profil in einer neuen mehrteiligen Serie auf die Fährte der historischen und gegenwärtigen Spuren, die Österreichs Literatur im Ausland hinterlassen hat: unter anderem in Island, Sizilien, Kuba, Argentinien und der Ukraine.