Sardouk, der Vordenker: "Die Wiedergeburt Europas wird durch Länder angeführt, die das moderne Zeitalter verstanden haben - Deutschland, Skandinavien, Großbritannien.“

Trendforscher Sardouk: "Es ist extrem teuer, nachhaltig zu leben"

Der französische Trendforscher Isham Sardouk über die neuen Tendenzen im Zeitalter der Ängstlichkeit: Warum die Geschlechter zunehmend miteinander verschmelzen, Öko zur Wohlstandserscheinung wird und Kunsthandwerk schon jetzt ein Revival erlebt.

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INTERVIEW: IRMIE SCHÜCH-SCHAMBUREK

profil: Europas Struktur gilt als überholt und unflexibel - allerdings ist dies nicht in kulturellen Fragen der Fall. Denken Sie, dass Asien oder Südamerika Europa nun auch trendmäßig überrollen wird? Aus welcher Region unserer Welt kommt momentan der bedeutsamste Trendinput? Isham Sardouk: China ist da auf jeden Fall dabei, wird jedoch ein wenig nachlassen und von Ländern wie Indien oder Brasilien abgelöst werden. Ich glaube aber auch an die Wiedergeburt Europas und Amerikas. Die Wiederkehr des Westens als Leader der Zukunft wird kommen. Denn viele neue Tendenzen wie zum Beispiel die Integration von Smart-Technologien in den Alltag kommen jetzt schon aus den USA und Großbritannien. Trends aus Italien oder Frankreich sind ebenfalls gut, wobei die beiden Länder nicht unbedingt die innovativsten sind.

profil: Wie könnte diese Renaissance Europas aussehen? Sardouk: Die Wiedergeburt Europas wird durch Länder angeführt, die das moderne Zeitalter verstanden haben, so wie Deutschland, Skandinavien oder Großbritannien. Es gibt allerdings genügend Länder, die noch nicht einmal ganz im 21. Jahrhundert angekommen sind, speziell in Südeuropa, wie beispielsweise Spanien oder Griechenland.

profil: Hat auch Terrorismus wie etwa jener des IS eine Auswirkung auf Lifestyle-Trends? Sardouk: Ja, ich denke schon. 9/11 hatte ebenfalls große Auswirkungen, weil seither Angst das Denken vieler Menschen dominiert. Ich denke und hoffe, dass bald neue, positive Strömungen entstehen und diese breit gestreute, oft diffuse Ängstlichkeit dann der Vergangenheit angehören wird.

profil: Glauben Sie, dass die Kluft zwischen Arm und Reich weiterhin wachsen wird? Sardouk: Ja, es gab noch nie so viele Millionäre wie heute. Das ist etwas, das die Gesellschaft offensichtlich verändert. Daneben existieren extrem arme Länder wie etwa in Afrika. Ich denke, wir befinden uns im Moment in einer bipolaren, daher sehr extremen Situation.

Niemand möchte heutzutage der Mittelklasse angehören, jeder will im Luxus leben.

profil: Eine Kollegin von Ihnen, die berühmte Trendforscherin Li Edelkoort, sagte vor einiger Zeit, sie glaube an die Mittelschicht. Doch zurzeit verschwindet diese gesellschaftliche Klasse immer mehr. Sardouk: Niemand möchte heutzutage der Mittelklasse angehören, jeder will im Luxus leben. Heute können sich sehr viele Menschen Luxus leisten, wie eine Gucci- oder Prada-Tasche - und wir sprechen hier nicht von gefälschten Produkten. Man muss vielleicht länger sparen oder auf Outlet-Sales warten - aber mit all den Rabatten, die man mittlerweile bekommt, ist es heute leichter möglich als früher, echte Designerware auch um wenig Geld zu erstehen.

profil: Wird es bald eine neue Generation von Textilien geben, sogenannte intelligente Textilien? Sardouk: Absolut. Das geschieht bereits. Die Nanotechnologie ist mittlerweile etwas aus der Vergangenheit. Alles wird zurzeit "smart“- Smart Textiles, Smart Living, Smart Phones, Smart Cities.

profil: Was denken Sie über Wearables? Handelt es sich nur um einen kurzfristigen Trend? Sardouk: Wir erleben hier gerade erst den Anfang, ich würde sogar sagen, wir sind immer noch in einem primitiven Zeitalter. Solche Technologien versprechen sehr viel für die Zukunft. Innovative Ideen in diesem Sektor werden aber zurzeit sehr, sehr schnell entwickelt und umgesetzt, das beschleunigt deren Entwicklung enorm.

profil: Parallel dazu gibt es immer mehr junge Leute, die versuchen, ohne Technologien wie Smartphones oder Computer zu leben. Sardouk: Wie bei allem gibt es auch hier eine Gegenströmung. Das bewirkt eine spannende Balance. Wir haben bereits die Tendenz zu einem Overload an Technologien. Wenn nun junge Menschen sich aus all dem ausklinken, sorgen sie automatisch für Neuheiten, denn sie haben eine andere Sicht der Dinge. Dies ist im Moment ein sehr aktueller und spannender Themenbereich in der Trendforschung.

profil: Wie gehen Sie bei der Trendforschung vor? Sardouk: Ein Trend leitet sich aus mehreren Faktoren ab: Mit einem Team von mehreren Hundert Personen bewegen wir uns auf allen Kontinenten und beobachten jede Art von Kunst und Kultur, Design, Musik, Wissenschaft, Gesellschaft oder Architektur. Außerdem arbeiten wir mit führenden Design-Colleges aus England und mit verschiedenen Design-Studios zusammen. Wichtig ist einfach, dass man immer am Puls der Zeit - also anhand manifester Signale - und nicht an der Pinnwand recherchiert.

Wir befinden uns in einer Zeit großer Gegensätze. Es gibt fast keinen Mittelweg mehr, wie man beispielsweise an der heutigen Wirtschaft erkennen kann.

profil: Woran orientieren Sie sich? Sardouk: Ein Trendforscher muss alles, was er beobachtet, auch aufbereiten und analysieren können. Das bedeutet, man muss schnell Signale erkennen und deren Tragfähigkeit beurteilen können. Oft sind wir der Zeit mit unseren Analysen um einige Jahre voraus. Schließlich benötigt es auch einen entsprechenden Vorlauf, um Produkte zu entwickeln.

profil: Wie definieren Sie den aktuellen Zeitgeist? Sardouk: Wir befinden uns in einer Zeit großer Gegensätze. Es gibt fast keinen Mittelweg mehr, wie man beispielsweise an der heutigen Wirtschaft erkennen kann. Ich war stets von Maskulin und Feminin beeindruckt und was die Mode damit anstellt. Bei der vorigen Prada-Show konnten die Kollektionen fast keinem Geschlecht zugeordnet werden. Nun stellt sich die Frage, ob sich die Geschlechter im Bereich Mode vermischen oder wieder in komplett entgegengesetzte Richtungen entwickeln werden.

profil: Was erwartet uns für die Herbstsaison 2016/17? Sardouk: Wir haben die saisonalen Tendenzen in vier verschiedene, auch leicht visualisierbare Trends eingeteilt: Artisan, Remaster, Elemental und Offbeat. Bei dem "Artisan“-Trend geht es primär um authentische Materialien wie unbehandeltes Leder, pures Indigo oder hochwertige, kunstvoll gewebte Stoffe. Auch wenn die Technologien immer weiter fortschreiten, hat unser Team dennoch den Eindruck, dass "handmade“ und Handwerkskunst erneut Terrain gewinnen werden. Diese Modeströmung legt großen Wert auf die Echtheit der Produkte, detailreiche Verzierungen, individuelle Anfertigungen und Unikate. Im Style-Fokus "Remaster“ stellen wir uns die Frage, wie wir unser Erbe, unsere Kultur beschützen können. Wie wir den Schatz unserer Historie in die Zukunft integrieren können? Die "Remaster“-Idee beschäftigt sich hauptsächlich damit, wie wir Dinge, die wir schätzen und respektieren, erneut verwenden können, da sie für uns großen Wert haben. Dies drückt sich durch eine Retrospektive der künstlerischen Einflüsse der vergangenen Jahrhunderte aus - mit Schwerpunkt auf Barock und Mittelalter. Sie werden modisch umgesetzt als üppige Jacquards, strukturierte Textilien mit metallisch-schimmernden Optiken aus Samt und Seide. Gleichzeitig verbinden sich diese Elemente mit höchst futuristischen Details und Silhouetten.

profil: Ist der Natur-Trend noch immer so allumfassend? Sardouk: Dieses Thema präsentieren wir in "Elemental“. Es beschäftigt sich mit der Natur, ihren Elementen und der Umwelt und handelt von Stille und Gelassenheit. Die Farben sind sehr weich und verschwommen, fast so, als würde man sie durch Nebel betrachten. Extreme Struktur verbindet sich darin mit extremer Feinheit, die Stoffe sind schlicht, komfortabel, weich, zumeist unifarben und taktil spannend. Als Inspirationsquellen dienten uns die Natur und ihre Eigenheiten - insbesondere eine Wüste in Nordost-Äthiopien mit ihrer fließenden, sandigen Textur oder das Abbild von Frost an einer Glasscheibe mit seinen einfachen, geometrischen Strukturen, um die Illusion einer Schneeflocke darzustellen.

profil: Was denken Sie über nachhaltige oder biologische Mode? Sardouk: Ich glaube, dieser Trend wird aussterben, da es extrem teuer ist, nachhaltig zu leben. Es verlangt einen großen Aufwand und man benötigt geschlossene Systeme dahinter. Es ist wesentlich einfacher und günstiger, nicht nachhaltig zu leben. Das sagt aber nichts darüber aus, ob dieser Trend als sexy empfunden wird oder nicht. Wir sind ja auch eher bereit, Elektroautos zu fahren, als nachhaltige Mode zu tragen, wenn wir ein Zeichen setzen möchten.

profil: Gibt es neben den gediegenen Trends auch ausgeflippte Styles? Sardouk: Ja, bei "Offbeat“ geht es von Ultra-Analog zu Ultra-Digital und dem Mischen und Spielen mit verschiedenen Farben, Mustern und Textilien. Ziel ist es, den sogenannten "Street-smart“-Status der 1990er-Jahre zu erzielen, und mit dem heutigen Touch von sportlicher Eleganz zu vereinen. Die Kollektion hat einen Hang zum Psychedelischen und sogenannten Regenbogen-Punk. Im Bereich des grafischen Designs wird auf Dreidimensionales verzichtet und man orientiert sich wieder an nur einer Dimension. Die Dinge sehen aus, als wären sie per Hand ausgeschnitten und dann aufgelegt worden. Derselbe Trend ist im Moment auch bei Graffitikünstlern zu beobachten.

profil: Haben Sie ein persönliches Ziel, das Sie in Ihrer Karriere erreichen möchten? Sardouk: Ich möchte etwas entwickeln, das von Bedeutung ist, etwas Spirituelles, Geistiges - das einen positiven Einfluss auf unterentwickelte, bedürftige Länder bewirkt. Es ist für mich wichtig, in allem, was ich mache, einen Sinn zu sehen.

Isham Sardouk, Executive Vice President von Worth Global Style Network, führt weltweit das WGSN Mindset Portfolio, das sich auf die Ressourcen und Daten stützt, die das Unternehmen selbst erforscht. Der Franzose mit libanesischen Wurzeln, der heute von London und New York aus operiert, gilt als einer der weltgrößten Online-Trendspezialisten. WGSN, 1998 von den Brüdern Julian und Marc Worth gegründet, entwickelte sich innerhalb kürzester Zeit zu einem der Marktführer in der Trendforschung - Sardouk war von Anfang an mit an Bord. Zu den Kunden von WGSN zählen bekannte Marken wie Coca-Cola, Dolce & Gabbana, Gap, H&M, L’Oreal, LG Electronics, Volkswagen, Wal-Mart oder Zara.