Übergreifendes Denken durch digitale Bildung
"Ein Schüler erhält täglich einen auf ihn persönlich zugeschnittenen Lernplan, den ein Rechenzentrum am New Yorker Broadway über Nacht erstellt. Ein Investmentbanker erklärt seiner Cousine in selbstgedrehten Videos die Mathematik und wird im Netz zum ersten Popstar der Bildungsszene. Eine Universität arbeitet mit Software, die für jeden Studierenden die optimalen Fächer ermittelt, inklusive der voraussichtlichen Abschlussnoten."
Die Szenarien, mit denen Jörg Dräger, Vorstandsmitglied der Bertelsmann-Stiftung für den Bereich Bildung, sein dieser Tage erschienenes Buch "Die digitale Bildungsrevolution" einleitet (siehe Interview), vermittelt vor allem eines: Jenen, die sich dem allgemein steigenden Bildungsdruck entziehen wollen, werden künftig rasch die Ausreden ausgehen. Denn sobald die Digitalisierung in das allgemeine Schulsystem integriert ist, wird es für jeden das maßgeschneiderte Lernprogramm, die passende Nachhilfeform oder die optimal Lerntechnik geben. Wissensakquisition wird nicht mehr zwingend an Notendurchschnitte oder Studiengebühren gebunden sein: Endlich wird sich jeder junge Mensch - seinen Anlagen entsprechend - für die Anforderungen eines hoch volatilen Arbeitsmarkts rüsten können.
So weit das Idealbild. Bis es tatsächlich zum "Harvard für alle, zur Demokratisierung des Wissens" (Dräger) kommt, stehen noch gewaltige Reformen an. Führt man sich vor Augen, wie lange in Österreich bereits an wesentlich einfacher zu lösenden Punkten im Bildungsbereich herumgedoktert wird - Stichwort Gesamtschule, Stichwort Ausbau von Ganztagsschulen -, liefert dies wenig Anlass zu glühender Zuversicht. Dabei gilt als unbestritten, dass es gerade in der Wissensvermittlung zu gewaltigen Einschnitten kommen muss.
Wie bringen wir Kindern bei, kreativ zu sein, unternehmerisch zu denken, den Mut zu haben, die Welt zu verändern?
Berühmte Vordenker wie Andrew McAfee, Ökonom am Massachusetts Institute of Technology und Co-Autor des Weltbestsellers "The Second Machine Age" ("Das zweite Maschinenzeitalter"), halten in ihren Vorträgen wiederholt fest, dass unser gegenwärtiges Bildungssystem nicht darauf eingestellt ist, den Herausforderungen durch die Digitalisierung zu begegnen. Laut McAfee werde die wesentliche Frage lauten: "Wie bringen wir Kindern bei, kreativ zu sein, unternehmerisch zu denken, den Mut zu haben, die Welt zu verändern?" Der deutsche Wirtschafts-und Industriesoziologe Hartmut Hirsch-Kreinsen, der sich mit dem Thema Industrie 4.0 und seinen Folgen für Arbeit und Ausbildung befasst, weist in einem Analysebericht für die deutsche Friedrich Ebert Stiftung darauf hin, dass "neben dem steigenden Bedarf an Überblickswissen auch soziale Kompetenzen einen erhöhten Stellenwert erlangen, da mit der intensivierten Integration früher getrennter Funktionsbereiche der Bedarf an Interaktion ansteigt".
Von politischer Seite engagiert sich hierzulande Staatssekretär Harald Mahrer stark für Veränderung, das Thema Digitalisierung ist seit über 20 Jahren sein Steckenpferd - bereits in seiner Diplomarbeit aus den frühen 1990er-Jahren widmete er sich der Frage, wie die (damals) neuen Möglichkeiten die Kommunikation verändern würden. Heute setzt Mahrer seinen diesbezüglichen Fokus auf Ausbildung, Arbeit und Wirtschaft. Auch er stellt fest: "Es herrscht ein enormer Druck in Richtung Umlernen, Weiterentwicklung und - das ist der wichtigste Punkt - die Bereitschaft, sich mit dem technologischen Wandel mitzubewegen."
Was konkret unter dem zukünftigen Überblickswissen und der Fähigkeit, rasch umzudenken, zu verstehen ist, illustriert Klaus Schmid, langjähriger Geschäftsführer des IT-Dienstleisters Capgemini Österreich, recht anschaulich: "Wir haben heute Leute, die zum Beispiel hervorragend ausgebildet sind, physische Objekte wie eine Handtasche oder einen Schuh zu bauen. Sie wählen das richtige Leder aus, setzen die richtigen Schnitte, stellen die Farben optimal zusammen. Das alles hat aber überhaupt nichts mit Digitalisierung zu tun. Wenn nun der Markt verlangt, dass diese Tasche oder der Schuh smart gemacht werden, brauche ich Taschennäher oder Schuhmacher, die diese zusätzliche Möglichkeit erlernt haben, um sie in ihren Arbeitsalltag einfließen zu lassen." Eine solche Form der Weiterbildung werde jedoch nicht angeboten, "nicht einmal ansatzweise -dabei mache ich mir keine Sorgen, dass das Interesse fehlen würde".
Diesen Dauerstudenten oder, wie öfter der Fall, Studienabbrechern wollen wir nun eine zusätzliche Perspektive geben. (Helmut Röck)
Klaus Schmid hat recht: Das Interesse fehlt tatsächlich nicht. Doch im ersten Punkt irrt er - denn seit Kurzem werden in Österreich auch Möglichkeiten geboten, die zukünftig geforderten Fertigkeiten zu erlernen. So haben sich angesichts der steigenden Anforderungen in der Steiermark fünf verschiedene Fachbereiche der Wirtschaftskammer zusammengetan (Elektro-und Elektronikindustrie, Fahrzeugindustrie, Maschinen-und Metallwarenindustrie, Mechatronik, Metalltechnik) und im Herbst 2012 die Bildungsinitiative "Technical Experts" lanciert. "Mit unserem Bildungsvorstoß wollen wir dem Mangel an Fachkräften und qualifizierten Lehrlingen in der Mechatronik und Metalltechnik entgegenwirken und technikaffinen jungen Menschen nach der Matura eine Alternative zum Studium anbieten beziehungsweise Studienabbrecher und junge Menschen auf der Suche nach neuen Perspektiven erreichen", erläutert Fachgruppengeschäftsführer Helmut Röck das ehrgeizige Projekt.
Die beschriebenen Zielgruppen ergaben sich aus der ernüchternden Erkenntnis, dass "rund 50 Prozent der Studierenden es nicht schaffen, innerhalb von zehn Jahren ihr Studium abzuschließen", wie Röck aus Datenquellen weiß. "Diesen Dauerstudenten oder, wie öfter der Fall, Studienabbrechern wollen wir nun eine zusätzliche Perspektive geben, damit auch sie als hochqualifizierte Arbeitskräfte ihren Platz finden." 35 steirische Top-Betriebe (darunter Andritz, Magna, Pankl Racing Systems oder Remus-Sebring Sportexhaust) unterstützen bereits das Projekt, das auf einem dualen Ausbildungssystem basiert.
Damit "erziehen" sie sich gleichzeitig ihre High Potentials für morgen. Für die fertigen Facharbeiter ergibt sich aus dieser Situation ein doppelter Vorteil: Hohe Jobsicherheit und gute Bezahlung, denn "viele Betriebe bezahlen ihre ausgelernten Schützlinge über Kollektivvertag", so Röck.
Mit einem ähnlichen Projekt startete die Fachhochschule St. Pölten in diesem Wintersemester: 30 Bewerber wurden für das duale Studium "Smart Engineering" zugelassen, "wobei es deutlich mehr Interessenten als vorhandene Studienplätze gab", wie Studiengangsleiter Franz Fidler erfreut festhält. Entstanden sei der Bachelorstudiengang, so Fidler, "weil es immer mehr Anfragen umliegender Betriebe gegeben hat, ob wir nicht etwas unternehmen könnten". Mit Unterstützung des Fraunhofer IAO Instituts in Stuttgart, das in Forschungsfragen rund um digitalisierte Arbeitswelt europaweit eine führende Rolle einnimmt, den HTLs in St. Pölten, Waidhofen/Ybbs und Hollabrunn sowie 22 Partnerunternehmen der Zukunftsakademie Mostviertel und dem Mechatronic Cluster Niederösterreich wurde der Studiengang entwickelt.
Dort, wo Bildungspolitik versagt, springen immer öfter die Betriebe ein.
Die Praxis spielt sich folgendermaßen ab: Je nach Lebenssituation sitzen die Studenten Montag bis Donnerstag in der HTL oder sie arbeiten im Unternehmen; Freitag und Samstag bekommen sie Blockunterricht an der Hochschule. "Das duale Prinzip wird dadurch gestärkt, dass die Teilnehmer des Lehrgangs sowohl bei uns an der Fachhochschule als auch an ihrer sonstigen Wirkungsstätte jeweils einen Betreuer haben", erläutert Fidler. Im Zentrum der dreijährigen Ausbildung stehe genau jene eingangs erwähnte Vernetzungsfähigkeit, die künftig über den Erfolg von Karrieren entscheiden wird: "Dem übergreifenden Denken schenken wir besonderes Augenmerk", so Fidler. "Denn in einer digitalen Arbeitswelt ist es immens wichtig, dass Menschen, selbst wenn sie aus unterschiedlichen Abteilungen oder Fachbereichen stammen, dieselbe Sprache sprechen, wenn es um die Lösung von Aufgaben oder Problemen geht."
Auffällig an den zwei neuen Ausbildungsmodellen ist, dass beiden unternehmerische Initiative zugrunde liegt: Dort, wo Bildungspolitik versagt, springen immer öfter die Betriebe ein. So sind es die Initiatoren des steirischen "Technical Experts"-Programms selbst, die in Schulen gehen und jungen Leuten das Ausbildungskonzept näherbringen. "Normalerweise wäre dies eine Sache der Politik", bemängelt Angelika Kresch, Co-Initiatorin des Projekts und Chefin des Auspuffanlagenherstellers Remus. "Denn eine der größten Herausforderungen der Zukunft lautet: Was machen wir mit all jenen, die keine oder nur eine schlechte Ausbildung haben?" Früher wurden diese Menschen von den Unternehmen aufgefangen und mit einfachen Tätigkeiten versorgt, heute aber, so Kresch, "brauchen wir für diese teuren, hoch technischen Maschinen gut ausgebildete Kräfte, die darüber hinaus Englisch können, da viele unserer Betriebe international im Einsatz sind."
Wie stark diese Veränderungen tatsächlich bereits gegriffen haben, veranschaulicht Kresch anhand der Arbeitsaufteilung im eigenen Unternehmen: "Ich würde meinen, wir haben heute 60 Prozent Facharbeiter, 25 Prozent Techniker, zehn Prozent Management all-over und fünf Prozent angelernte Kräfte. Vor der Digitalisierung hatten wir wesentlich mehr angelernte Kräfte. Ich kann aber nicht an eine Werkzeugmaschine, die eine Million Euro gekostet hat, jemanden heranlassen, der nicht weiß, was passiert."
INFOBOX
Industrie 4.0 Die Bezeichnung Industrie 4.0, die aus Deutschland kommt - international spricht man von "Cyber Physical Systems"-, steht für die Vernetzung von miteinander kommunizierenden, also lernenden Maschinen und Geräten. Diese Technologie gilt als besonders attraktiv, weil sie fähig ist, sich selbst optimierende Automatisierungsprozesse einzuleiten, die neue Businessmodelle und neue Wertschöpfungsnetzwerke versprechen.